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Publikationen des German Institute of Development and Sustainability (IDOS)
Updated: 1 month 3 weeks ago

Nach Panama: Internationale Kooperation in Steuerfragen muss Entwicklungsländer stärker einbeziehen

Mon, 04/07/2016 - 10:06
Bonn, 04.07.2016. Zwei große Mechanismen schmälern das Steueraufkommen in Entwicklungs- und Schwellenländern: Reiche Individuen entziehen sich ihrer Steuerpflicht, indem sie Gelder ins Ausland abziehen und falsche Angaben zu Einkommen und Vermögen machen. Große, international operierende Unternehmen nutzen zwischenstaatliche Gesetzes- bzw. Regulierungslücken und verlagern Gewinne („Steuersubstrat“) künstlich in Staaten mit besonders niedriger Steuerquote. So unterschiedlich beide Verhaltensmuster auch sind, berühren sie sich doch in einem wichtigen Punkt: Firmen wie die Kanzlei Mossack Fonseca und Länder wie Panama stellen für Steuervermeidung wie auch Steuerhinterziehung Know-how und Infrastruktur bereit. Sie sind Teil eines internationalen Systems, dessen einziger Zweck darin besteht, die Steueranstrengungen der Staaten zu unterlaufen. Nutznießer sind die free rider im Weltsystem – Steueroasen, korrupte Eliten, kriminelle Banden und am Rande der Legalität operierende Unternehmen. Es gibt bis heute kaum gesicherte Erkenntnisse über das Ausmaß, in dem Entwicklungsländer unter Steuervermeidung und Steuerhinterziehung leiden. Die vorhandenen Studien lassen aber zwei generelle Aussagen zu: Erstens sind die ärmeren Länder im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft und ihrem Steueraufkommen stärker betroffen als die reichen Industrienationen. Das liegt vor allem daran, dass sie von Kapitalimporten und von Steuerzahlungen weniger großer Unternehmen abhängen. Auch niedrige staatliche Leistungsfähigkeit und die politische Einflussnahme nationaler Eliten spielen eine Rolle. Zweitens hat sich die Summe der in Steueroasen versteckten Finanzvermögen und der jährlichen Kapitalabflüsse aus Entwicklungs- und Schwellenländern seit der Weltwirtschaftskrise 2009 wohl weiter erhöht. Dies widerspricht dem zuweilen erweckten Eindruck, die im Rahmen der OECD, der EU und der G20 beschlossenen Maßnahmen, beispielsweise für einen verbesserten Informationsaustausch zwischen Steuerbehörden, hätten bereits zu einer effektiven Einhegung des Problems geführt. Ob und wann die neuen Maßnahmen tatsächlich greifen, ist zur Stunde noch offen. Besonders multinationale Unternehmen machen sich das Geschäftsmodell der Steueroasen und Lücken im internationalen Steuersystem zunutze, um ihre Steuerlast drastisch zu senken. Einige Praktiken sind dabei kaum zu identifizieren, geschweige denn zu korrigieren. Schon Industrieländer sind z.B. damit überfordert, die interne Preisgestaltung multinationaler Konzerne für Finanzdienstleistungen und immaterielle Vermögenswerte zu überwachen. Viele Entwicklungsländer stellt dies vor noch größere Herausforderungen. Andere Probleme sind leichter zu identifizieren, erfordern aber zu ihrer Behebung ein hohes Maß an bilateraler Kooperationsbereitschaft und staatlicher Kapazität. Die Auswirkungen sind gravierend: Den betroffenen Staaten fehlen notwendige Ressourcen zur Umsetzung entwicklungspolitischer Ziele. Außerdem haben öffentliche Investitionen (z.B. in Energie, Transport, Kommunikation) oft wichtige Hebelwirkung auf das Investitionsverhalten privater Kapitalgeber. Ein als unfair wahrgenommenes Steuersystem kann die Legitimität des Staates stark gefährden.  Um die Leistungsfähigkeit von Steuerbehörden in Entwicklungsländern zu stärken, muss die bilaterale Zusammenarbeit ausgebaut werden. Hierüber herrscht in der Entwicklungspolitik ein breiter Konsens. Von großer Bedeutung ist dabei der Aufbau von Datenbanken und Informationssystemen. Das beinhaltet in vielen Fällen auch eine Stärkung der nationalen Statistikbehörden und einen verbesserten Informationsaustausch zwischen den staatlichen Behörden. Außerdem ist der öffentliche Zugang zu Daten über multinationale Konzerne, große Rohstoffprojekte usw. wichtig. International werden heute vielfältige Anstrengungen unternommen, Regulierungslücken zu schließen. Viele Maßnahmen müssen jedoch in bilateralen Vereinbarungen zwischen Staaten umgesetzt werden. Dazu gehört z.B. der automatische Austausch von Steuerinformationen. Ärmere Entwicklungsländer sind durch das Prinzip der Reziprozität aber überfordert. Hier sollten die Industrieländer in Vorleistung treten. Wichtiger noch: Bilateral verankerte Maßnahmen sind eher darauf ausgerichtet, ausgefeilte Modelle der Steuerhinterziehung und –vermeidung durch ebenso komplexe Mechanismen der Regulierung und Kooperation einzufangen. Es ist aber fraglich, ob Entwicklungsländer mit eingeschränkter Staatskapazität in der Lage sein werden, diesen Weg mitzugehen. Entwicklungsförderlich wären multilaterale Ansätze, welche die Besteuerung von Unternehmen auf eine einheitliche Grundlage stellen und dafür Sorge tragen, dass die notwendigen Daten international gesammelt und bereitgestellt werden. Ein solcher Ansatz hätte das Potenzial, Besteuerung stärker an wirtschaftlichen Aktivitäten auszurichten, Steuerhinterziehung und –vermeidung zu erschweren und gleichzeitig die weniger leistungsfähigen Staaten zu entlasten. Auch Deutschland mit seiner starken Exportwirtschaft hätte durch mehr Transparenz und eine vertiefte internationale Kooperation in Steuerfragen mittelfristig mehr zu gewinnen als zu verlieren.

Was nun? Europäische Außen- und Entwicklungspolitik nach dem Brexit

Mon, 27/06/2016 - 11:49
Bonn, 27.06.2016. Wenn die EU-Staats- und Regierungschefs sich morgen in Brüssel treffen, ist die Stimmung vermutlich auf dem Tiefpunkt angekommen. Die Briten haben sich mit einer knappen Mehrheit von 52 Prozent dafür ausgesprochen, die EU zu verlassen. Die ‚Leave‘-Stimmen konzentrierten sich auf England und Wales; Schottland und Nordirland haben mit großer Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt. Mehr ältere als jüngere Briten waren für den Brexit. Leider gab es in Großbritannien am Ende keinen Hexenmeister, der die Geister, die David Cameron rief, wieder eingefangen und den wildgewordenen Besen unter Kontrolle gebracht hätte. Der Prozess zeigt außerdem, dass Referenden nur bedingt geeignet sind, sehr komplizierte und weitreichende Entscheidungen zu treffen. Ob und wann Großbritannien den Austritt aus der EU nach Artikel 50 des Lissabon Vertrages einleitet ist unklar. In jedem Fall haben die Briten Europa in eine Krise gestürzt. Implikationen eines möglichen Brexit Was bedeutet der mögliche Brexit für die europäische Außen- und Entwicklungspolitik? Sicher ist im Augenblick eigentlich nur, dass die nächsten Wochen und Monate von großer Unsicherheit geprägt sein werden. Die Verhandlungen werden sich vermutlich zunächst stark auf den internen Markt und Subventionen aus den Agrar- und Kohäsionspolitik konzentrieren, weniger auf Außenpolitik, Entwicklungspolitik oder Handelsabkommen wie die Wirtschaftlichen Partnerschaftsabkommen (EPAs). Die EU wird auf Monate erst einmal mit sich selbst beschäftigt sein. Dies ist umso bedauerlicher, weil wir ein starkes sowie transfomiertes Europa dringender brauchen denn je. In Zeiten weit fortgeschrittener Globalisierung und enger internationaler Verflechtungen können einzelne Mitgliedstaaten (einschließlich der „big three“ – UK, Deutschland und Frankreich) im Alleingang auf der internationalen Bühne immer weniger ausrichten. Umso paradoxer erschien das Argument der ‚vote leave‘-Kampagne, Großbritannien würde durch den Austritt international ‚zu alter Größe‘ zurückfinden. Nicht zuletzt US-Präsident Obama hatte die Briten bei seinem jüngsten Besuch daran erinnert, dass sie als Teil der EU deutlich mehr internationalen Einfluss haben, als wenn sie sich wechselnde Koalitionen suchen müssten. „The European Union does not moderate British influence – it magnifies it“, hielt Obama den Brexit-Befürwortern entgegen. Wer am Ende Recht behält, wird die Zeit zeigen. Brexit auch als Chance? Es wäre zu hoffen, dass die EU aus der Not eine Tugend macht und den Brexit als Chance nutzt, in der Außen- und Entwicklungspolitik enger zusammenzuarbeiten. Bei der Bekämpfung des Terrorismus, der Fluchtursachen, der Beendigung von Konflikten, der Reduzierung staatlicher Fragilität und Armut durch Entwicklungs-, Außen-, Sicherheitspolitik und anderer Politikbereiche können einzelne EU-Mitgliedsländer allein kaum etwas ausrichten. Erst durch enge europäische Kooperation und die Nutzung komparativer Vorteile einzelner Akteure kann Europa international einen Unterschied machen.  Bei der Verabschiedung des Klimaabkommens im Dezember in Paris oder bei den Verhandlungen zur 2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung im September in New York hat Europa durch gemeinsames Auftreten eine wichtige und konstruktive Rolle gespielt. Der Erfolg dieser Abkommen und damit die Möglichkeit, globale Herausforderungen positiv zu beeinflussen, hängen auch davon ab, ob Europa selbst mit gutem Beispiel vorangeht. Großbritannien hat die Außen- und Entwicklungspolitik maßgeblich mit beeinflusst. Als zweitgrößter Geber weltweit ist das Vereinigte Königreich ein Schwergewicht und einer der tonangebenden Staaten in der strategischen Ausrichtung der Entwicklungspolitik. Die Briten standen einer engeren europäischen Zusammenarbeit in der Entwicklungspolitik in vielen Fällen skeptisch gegenüber und präferierten kleinere, sogenannte ‚like-minded‘-Gruppen. Nach dem jetzt wahrscheinlich anstehenden Austritt werden sich die ‚Machtgleichgewichte‘ in der europäischen Entwicklungspolitik neu justieren. Neuere Mitgliedsstaaten wie Polen und mittel- und osteuropäische Länder sollten dabei eine wichtigere Rolle spielen. In jedem Fall wird Deutschland international deutlich mehr Verantwortung übernehmen müssen. Europa hat in den vergangenen Monaten einen Prozess angestoßen, neue gemeinsame Visionen für europäisches Außenhandeln zu definieren. Die neue EU-Globalstrategie, die die hohe Vertreterin der Kommission, Federica Mogherini, im vergangenen Jahr erarbeitet hat, soll den EU- Außenbeziehungen eine gemeinsame Richtung geben. Die Strategie soll morgen beim Treffen des Europäischen Rates gebilligt werden. In der Entwicklungspolitik haben jüngst Diskussionen zur Revision des Europäischen Konsens für Entwicklung begonnen. Der Konsens, bei dem sich die Kommission, das Europäische Parlament und die Mitgliedsstaaten 2005 zum ersten Mal auf eine gemeinsame Perspektive für europäische Entwicklungspolitik einigten, soll grundlegend überarbeitet werden. Diese Strategieprozesse sollten wegen des möglichen Brexit nicht aufgegeben werden. Im Gegenteil: Der Vertrag von Lissabon hat 2009 den Versuch unternommen, die EU besser in die Lage zu versetzen, international gemeinsam zu handeln. Er hat die europäische Außenpolitik institutionell gestärkt. Gerade jetzt muss die EU sich außenpolitisch besser aufstellen. Die EU muss deutlich machen, dass sie einen positiven und nachhaltigen Beitrag zur Lösung der vielfältigen Krisen und Konflikte in ihrer Nachbarschaft und zur Bearbeitung globaler Herausforderungen leisten kann.

Langfristig, mühsam, ohne Erfolgsgarantie – und doch notwendig: Die entwicklungspolitische „Bekämpfung“ von Fluchtursachen

Mon, 20/06/2016 - 09:41
Der heutige Weltflüchtlingstag kommt mit einem neuen traurigen Rekord daher: Ende 2015 waren 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – so viele wie nie. Aber auch trotz stark gestiegener Flüchtlingszahlen in Deutschland und Europa bleibt die so genannte globale Flüchtlingskrise vor allem eine Krise der armen Länder dieser Welt. Die allermeisten der weltweit Fliehenden kommen nicht nur aus Entwicklungs- und Schwellenländern. Ein Großteil von ihnen verlässt auch das eigene Herkunftsland oder die Herkunftsregion nicht. Von Pakistan und dem Iran über Jordanien, den Libanon und Äthiopien bis Nigeria oder Kolumbien – die Liste der Länder, die die meisten Flüchtlinge und Binnenvertriebenen beherbergen, liest sich wie ein Querschnitt durch den globalen Süden. Schlägt deshalb nun die „Stunde der Entwicklungspolitik“, wenn es darum geht die Ursachen von Flucht und Vertreibung zu bekämpfen? Welches sind eigentlich die Kernursachen – und was kann und sollte Entwicklungspolitik zu ihrer „Bekämpfung“ tun?

Der Hauptgrund für Flucht und Vertreibung sind zweifellos bewaffnete Konflikte. Daneben sind Terror, Repression, Hunger oder Naturkatastrophen weitere Fluchtursachen. Größere Fluchtbewegungen aber entstehen zumeist erst durch das gleichzeitige Auftreten mehrerer dieser Faktoren.

Die Zahl und Intensität bewaffneter Konflikte hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Die Anzahl der Menschen, die pro Jahr in kriegerischen Auseinandersetzungen rund um den Globus getötet werden, hat sich seit 2010 auf etwa 200.000 Tote vervierfacht. Die Flüchtlingskrise ist daher in erster Linie eine Krise der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik. Zwei Ursachenbündel kommen zusammen: innergesellschaftliche Auseinandersetzungen um Macht, Anerkennung und Chancen zum einen; und eine Außenwelt, die teils aus Desinteresse, teils aus Eigennutz nicht alles unternimmt, um Aggressoren den Zugang zu Waffen und Finanzen zu verwehren, sondern oft das Gegenteil bewirkt. Konflikte und Kriege wie in Syrien, Afghanistan oder dem Südsudan allein mit dem westlichen Lebensstil und seinen Auswirkungen auf Entwicklungsländer, der Geo- oder Nahostpolitik der USA oder internationalen Waffenexporten erklären zu wollen, griffe also zu kurz. Dennoch kann Entwicklungspolitik eine wichtige Rolle als Stimme im Interesse der betroffenen Zivilbevölkerungen spielen und – auch im Sinne eines aufgeklärten Eigeninteresses – dafür werben, die Vermeidung von gewaltsamen Konflikten zur Richtschnur allen politischen Handelns zu machen.

Darüber hinaus zielt Entwicklungspolitik meist direkt auf die Verminderung innergesellschaftlicher Konflikte ab. Kriege und Bürgerkriege resultieren oftmals aus einer Verzahnung unterschiedlichster Faktoren, die ökonomischer, sozialer, historischer, ethnischer bis hin zu (geo-)politischer Natur sein können. Entwicklungspolitik hat zum Ziel, zur Transformation solcher strukturellen Konfliktlagen beizutragen.

Es wäre aber so verlockend wie falsch, davon auszugehen, dass Entwicklungspolitik schnell und einfach etwas gegen die Ursachen von Flucht und Vertreibung bewirken kann. Entwicklungspolitik wirkt langfristig. Kurzfristig kann – und muss – Leid gemindert und Schlimmeres verhindert werden. So muss es etwa darum gehen, Flüchtlingen in den Hauptaufnahmeländern eine bessere Zukunftsperspektive zu geben. Dabei gilt es, lokale Verwaltungen einzubinden, aufnehmende Kommunen und Länder zu unterstützen – nicht zuletzt auch um Konflikte zwischen Flüchtlingen und Alteingesessenen zu verhindern – und Menschen in Lagern nicht nur zu „verwalten“, sondern sie aktiv teilhaben zu lassen. Dabei muss gar nicht der Gedanke im Vordergrund stehen, dass Menschen ohne Aussicht auf ein festes Gehalt, bessere medizinische Versorgung oder eine bessere schulische Bildung für ihre Kinder nach Europa „weiterfliehen“ könnten. Die meisten Flüchtlinge verfügen dafür ohnehin nicht über die notwendigen (finanziellen) Mittel.

Langfristig muss die internationale Entwicklungszusammenarbeit vor allem zukünftigen Konflikt- bzw. Fluchtursachen entgegenwirken. Hierzu muss neben dem Kampf gegen Armut, Hunger und Umweltzerstörung auch die Schaffung funktionierender politischer Strukturen – die keine Bevölkerungsgruppen von der Möglichkeit der Teilhabe ausschließen und dem friedlichen Zusammenleben der Menschen verpflichtet sind – stärker in den Vordergrund gestellt werden. Krisenprävention und Friedensförderung sollten als entwicklungspolitische Schwerpunktthemen gestärkt werden. Auch die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss wieder eine größere Rolle spielen.

Im weltweiten Maßstab scheint die Demokratie als Herrschaftsform seit Jahren auf dem Rückzug zu sein, während Bürgerkriege und Gewalt zunehmen. Das zeigt: Wenn es an demokratischer Teilhabe mangelt, können Staaten schnell instabil werden und Konflikte leicht eskalieren. Allzu lange haben westliche Geberländer autoritäre Regime im Nahen Osten und Afrika unterstützt, um sich so kurzfristige politische Stabilität zu erkaufen. Zukünftig muss es darum gehen, die Wohlfahrt und Teilhabe der Bürger in diesen Ländern zu verbessern. Das heißt, dass Geberländer in diesen Staaten viel stärker mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten müssen. Das alles ist langwierig, zäh und gewährt leider keinerlei direkte Erfolgsgarantien. Dennoch ist es unabdingbar, um auf Dauer Krisen, Kriegen und Massenflucht entgegenzuwirken. --
Die Kolumne ist ebenfalls auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) erschienen.

No elephants in the room?

Tue, 14/06/2016 - 09:51
Bonn, 14 June 2016. Surprisingly, reports and even opinion pieces on the first high-level meeting of the Global Partnership for Effective Development Cooperation (GPEDC) – the main forum for debates on development cooperation – in Mexico City in 2014 ignored one basic fact: Main stakeholders of the partnership did not show up (China and India) or were present just as an observer (Brazil). Some others (like South Africa) joined the meeting but seemed to have clear reservations as well. Against this background, the Mexico meeting was only partly successful since an inclusive and more legitimate basis of the Global Partnership was the main rationale to transform the former aid effectiveness platform organized by the respective working group of the OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) into a quite new format which is jointly driven by the United Nations Development Program (UNDP) and the OECD. We are now approaching the second high-level meeting of the platform, which will take place from 28 November to 1 December 2016 in Nairobi, Kenya. So, how did the context change since the Mexico meeting? What is on the agenda for Nairobi? Are we going to see all ‘big elephants’ in the conference hall? Changing context In basic terms, two aspects need to be highlighted. Firstly, the 2030 Agenda for Sustainable Development is now providing an important narrative on global development. The potential of this narrative goes well beyond the Millennium Development Goals and their traditional focus on developing regions: All main stakeholders accept the universal nature of the 2030 Agenda, which provides a strong legitimacy. The 2030 Agenda is at the core of major efforts including development cooperation platforms like the GPEDC, the United Nations Development Cooperation Forum (DCF) and activities under the umbrella of the OECD. From a development cooperation perspective, the 2030 Agenda has advantages and disadvantages at the same time: ‘Development’ is not any longer a challenge just for ‘developing regions’ but for all countries of the world. This leads to more vagueness in terms of responsibilities. Thus, development cooperation actors are struggling with the question: How to adjust to the new agenda? Who is in charge for the follow-up and the monitoring? Secondly, important rising powers are still pushing for a concept for South-South-Cooperation (SSC) which is distinctive from the OECD aid approach. This, for example, became tangible during the second global conference on SSC hosted by India in March 2016. However, contours and criteria are evolving but remain quite vague. Individual countries like China will use the 2030 Agenda to guide their SSC. Harmonisation on SSC still to needs be pushed for. The different approaches of rising powers to the GPEDC point to this challenge as well. Why to care about GPEDC? Is the changing context leading to different views of rising powers on the GPEDC? Our assumption is that a partial membership to the Global Partnership high-level meeting remains likely. Participation in this forum seems to still not be a high priority for all rising powers and different perceptions on the legitimacy of the platform might continue to exist. Against this backdrop we propose to reflect on three aspects: First, all stakeholders – rising powers, OECD countries, recipients of SSC and development cooperation – should reflect on a truly ‘global’ cost-benefit analysis of participation and non-participation in the GPEDC. Second, rising powers should be more explicit about requirements for such a global platform. What is needed and how can we use or further develop an existing mechanism? Third, Kenya as the upcoming host country for the High Level Meeting of the GPEDC and other steering committee members should come up with new initiatives and brainstorm with rising power government and non-governmental representatives about a restart of the ‘global spirit’ of the GPEDC. In our view the international community is in need of a well functioning platform which should cover all aspects of development cooperation and SSC. We do not assume that all countries can agree on standards and norms in all areas. However, the need for a joint dialogue platform is striking. Stephan Klingebiel is Head of the Department Bi- and Multilateral Development Cooperation at the German Development Institute / Deutsches Institut for Entwicklungspolitik (DIE), a regular Visiting Professor at Stanford University and a Senior Lecturer at the Philipps University Marburg. Li Xiaoyun is a professor and former dean of China Agricultural University’s College of Humanities and Development, president of the China International Development Research Network (CIDRN) and chairman of the Network of Southern Think-Tanks (NeST).

Das Pariser Abkommen: Planen allein reicht nicht – jetzt muss auch etwas passieren!

Mon, 06/06/2016 - 10:31
Bonn, 06.06.2016. Nach den Verhandlungen für das historische Klimaabkommen in Paris im letzten Dezember, der denkwürdigen Unterzeichnungszeremonie in New York und viel Schulterklopfen trafen sich in den letzten Wochen die Klimaakteure erneut in Bonn. Die jüngste Klimarunde der UNFCCC mit ca. 1900 Regierungsvertretern, 1500 Beobachtern und 100 Medienvertretern begann, darüber zu diskutieren, wie das Pariser Abkommen in die Tat umzusetzen sei. Natürlich sind die Auslegung des Klimaabkommens und die Umsetzungsplanung der internationalen Bürokratie ein wichtiger nächster Schritt. Aber er wird vermutlich nicht ausreichen, um zu verhindern, dass die Transformation zu mehr Nachhaltigkeit an Schwung verliert. Neben all den Gesprächen muss jetzt gehandelt und die Umsetzung der geplanten Treibhausgasminderungsbeiträge (Nationally Determined Contributions – NDCs) begonnen werden.

In fünf Monaten öffnet die nächste Klimakonferenz in Marrakesch ihre Tore. Bis dahin müssen die Regierungen Ergebnisse vorweisen können, denn eins ist sicher: Die festgelegten Klimaziele ohne substanzielle Beiträge aus der Privatwirtschaft zu erreichen ist ausgeschlossen. Tatsächlich haben ganze Branchen, private und institutionelle Investoren die Klimaverhandlungen mit großem Interesse verfolgt. Mehr noch: Sie haben nicht nur schweigend zugesehen, sondern erstaunlicherweise ihre Bereitschaft betont, aktiv zu werden, – letztlich eine völlig logische Reaktion. Mehr als alle anderen wollen Privatunternehmen Geld verdienen. Und wenn sie ein starkes Signal erhalten, dass die Wirtschaft einen Wandel erleben wird, ist eine Anpassung an das neue Unternehmensumfeld in ihrem eigenen Interesse. Ganz entscheidend ist es deshalb, dass die Regierungen nun beweisen, dass ihr Bekenntnis zur geplanten Dekarbonisierung ernst gemeint und verlässlich ist. Sie müssen den Privat- und Finanzsektor überzeugen, dass die Zukunft grünen Technologien und grünem Wirtschaften gehört, dass sich globale Wachstumsmodelle verändern werden und dass es kein Zurück mehr gibt – für niemanden.

November ist nicht mehr weit. Daher müssen wir das aktuelle diplomatische Konzept, einen weiteren Katalog globaler, nationaler, regionaler und lokaler Pläne zu erarbeiten, mit praktischem Handeln ergänzen! Parallel zur UNFCCC-Konferenz hat eine kleine Gruppe aus Experten verschiedenster Länder praktikable Lösungen und tragfähige Modelle für eine Ausweitung privater Klimaschutzinvestitionen entwickelt. Im Rahmen des Practitioners' Dialogue on Climate Investments (PDCI) vom 23. bis 25. Mai in Bonn erarbeiteten Fachleute unterschiedlicher Hierarchieebenen des öffentlichen, privaten, akademischen und Finanzsektors mehrere konkrete Modell-Projekte, zum Beispiel: die Wiederaufbereitung von Abwässern stark umweltbelastender Industrien (Pharmazie) in Andhra Pradesh, ein Energiespeichersystem für Mininetze und dezentrale Stromversorgung in Indonesien, eine nachhaltige Finanzpolitik für Banken und Finanzinstitutionen in Bangladesh, ein Kreditgarantieprogramm für Klima-Investitionsvorhaben in Pakistan, eine Technologie zur beschleunigten Steigerung der Energieeffizienz auf den Philippinen u. v. a m.

Der PDCI ist ein gutes Beispiel dafür, wie effektiv internationale Konferenzen sein können, wenn das Konzept nicht bloß aus einer Aneinanderreihung von Diskussionsrunden besteht – in den meisten Fällen dominiert von ausschließlich grauhaarigen Männern und unterschwelligen  Machtdemonstrationen, Eigenwerbung und Zuweisungen von Verantwortlichkeiten. Der Schlüssel für schnelles Handeln ist ein Konzept aus gegenseitigem Coaching, der Erkenntnis, dass wir viel voneinander – insbesondere auch von Entwicklungsländern – lernen können, sofortigem Handeln (ohne lange Debatten) und der Offenheit für unverbrauchte, innovative und pragmatische Ideen der Akteure.

Die Umsetzung der meisten entwickelten Modell-Projekte wird bis Jahresende anlaufen. Ebenso sind die Regierungen aufgerufen, ohne Wenn und Aber zu bestätigen, dass sie entschlossen sind, den Klimawandel aufzuhalten, indem sie den Worten Taten folgen lassen. Die Mitglieder des PDCI hatten viele Vorschläge für konkretes Regierungshandeln: (i) Instrumente für eine Risikominimierung bereitstellen, (ii) stabile Investitionsbedingungen schaffen und sichern, (iii) standardisierte Verfahren für die Projektbewertung entwickeln, (iv) in Machbarkeitsstudien und Pilotvorhaben investieren, (v) Fonds mit geringem Volumen auflegen und Projekte bündeln, (vi) wenn staatliche Gelder in Projekte fließen, die Projektdaten veröffentlichen, (vii) die richtige Regulierungfür Pensionskassen festlegen, (viii) die Festsetzung des Kohlenstoffpreises auf die G20-Agenda setzen. Am wichtigsten ist jedoch, dass die Regierungen jetzt aktiv werden und nicht abwarten, bis die nächste Runde an Plänen perfektioniert ist. Der Privat- und der Finanzsektor brauchen ein klares Signal, dass sich Wirtschaftsmodelle seit Paris definitiv geändert haben.

Parallele Welten – gegenläufige Ziele: Wie Rüstungspolitik die Agenda 2030 unterwandert

Mon, 30/05/2016 - 10:00
Am 29. Mai erinnerte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon an das 60-jährige Bestehen der bewaffneten UN-Friedenssicherungsmissionen. Ihr erster Einsatz erfolgte im Mai 1956 in der Suez-Krise. Er erwähnte auch, dass diese UN-Einrichtung 1988 den Friedensnobelpreis erhalten hat – beides von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Fatale Entwicklungen Der seit 1989 jährlich im Dezember erscheinende Rüstungsbericht des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) zeigt: Rüstungsproduktion und Rüstungsexport sind die großen Bremser für erfolgreiche und Grenzen überwindende globale und nachhaltige Friedensstrategien. Neben vielen anderen Problemen in den politischen Beziehungsstrukturen der Staaten- und Gesellschaftswelt sowie Debatten darüber in unzähligen Foren haben sich die rüstungspolitischen Dynamiken in einer Parallelwelt verankert, die von der breiten Öffentlichkeit kaum mehr, bestenfalls mit einem Schulterzucken, wahrgenommen wird. Die Verwirklichung vieler der 17 Ziele der Agenda 2030 hängt jedoch davon ab, dass Staaten neben „gesunden“ (korruptionsfreien) und „funktionstüchtigen“ (effektiven) Governance-Strukturen nachhaltige Wirtschaftskreisläufe ebenso aufbauen und nutzen können, wie sie (globale) politische Beziehungen zum Wohle Ihrer Bevölkerungen entwickeln und pflegen sollen. Ganz konkret fordert das Ziel „Frieden und Gerechtigkeit“ der Agenda 2030 dazu auf, friedliche und inklusive Gesellschaften zu fördern. Von diesem hehren Ziel ist die Mehrzahl der Länder weit entfernt. Dies hat viele Gründe. Einer davon ist eine im globalen Maßstab sehr dynamische Rüstungspolitik. Sie ist wesentlicher Bestandteil eines fatalen gegenläufigen Trends. Rüstungspolitik: ein Fall für die Hinterzimmer Fünf Staaten haben im Sektor „Rüstungspolitik“– vor allem in den vergangenen etwa 15 bis 20 Jahren – herausragende Fähigkeiten entwickelt. Sie führen die Tabelle der fünf größten Rüstungsproduzenten und Rüstungsexporteure in dieser Reihenfolge an: USA, Russland, China, Frankreich und Deutschland; fünf weitere folgen auf den Plätzen sechs bis zehn: Großbritannien, Spanien, Italien, Ukraine und die Niederlande. In dieser Rangfolge befinden sich immerhin sieben „lupenreine“ Demokratien, deren Rüstungspolitik und Vergaben von Rüstungsaufträgen einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Jedoch verfügt die Rüstungsindustrie in diesen sieben Demokratien über sehr erfolgreiche Lobbystrukturen, die weit in die Parlamente hineinreichen und deren „Mantra“, bei Ablehnung von Rüstungsaufträgen tausende von Arbeitsplätzen zu gefährden, Kernbestandteil ihrer „Politikberatung“ ist. Auf der anderen Seite haben die „Tabellenführer“ eine sehr lukrative Einnahmequelle entwickelt, die erhebliche Rückflüsse in die eigene Staatskasse garantiert: Regierungen – ob mit oder ohne parlamentarische Zustimmung – verkaufen Lizenzen eigener Produktlinien und lassen die Rüstungsgüter direkt vor Ort in Krisenländern von Lizenznehmern produzieren. Parlamente und Ausfuhrkontrollbehörden zeigen sich gegenüber dieser Praxis in vielen Fällen äußerst großzügig und zustimmungsbereit. Gegenläufige Ziele Staatlich verantwortete Rüstungspolitik forciert indirekt einen kompletten Kontrollverlust über den „Endverbraucher“ der gelieferten Waffen. Denn jenseits der stets (noch) legalen Rüstungsgeschäfte und Lizenzvergaben hat sich durch Zweit- und Drittverkäufe von Rüstungs-gütern eine Parallelwelt illegaler Rüstungsdynamiken entwickelt, die in den meisten Krisen-regionen dieser Erde dazu führt, dass mit Waffen aus den Beständen parlamentarisch-demokratischer wie auch autokratischer Staaten Konflikte gewalthaltig ausgetragen und heiße Kriege geführt werden. Dieses „Setting“ aus wachsender, politisch gesteuerter und subventionierter Rüstungsproduktion sowie einer global verflochtenen Rüstungswirtschaft hat seit Jahrzehnten gewalthaltige Konflikte immer wieder angeheizt: Die Einsätze von UN-Friedensmissionen an den „Hot-spots“ heißer Konflikte, die Einsätze der Ländermissionen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie anderer regionaler Staatenverbünde in Konflikten, um Gewalt zu beenden, weist eine nicht sehr optimistisch stimmende Bilanz auf. Rüstungsdynamiken überwinden: Eine Chance für die Agenda 2030? Alle 17 Ziele der Agenda 2030 erfordern eine hoch effiziente, gerechte und gleichzeitig ökologisch nachhaltige Ressourcenallokation. Dies ist eine Chance für die Zivilgesellschaft, die ja ausdrücklich aufgefordert ist, an der Umsetzung der Agenda aktiv mit zu wirken. In der Rüstungspolitik gegenüber der Staatenwelt Transparenz einzufordern, dürfte jedoch zu einem der schwierigsten Unternehmen bis zum Jahr 2030 werden. Denn die fatalen Folgen von Rüstung und Rüstungspolitik verkaufen sich in der Öffentlichkeit nicht gut. Auch könnten bei zu viel öffentlichem Augenmerk auf die nationalen Rüstungspolitiken die politisch-diplomatischen Beziehungen der zehn größten Rüstungsexportländer untereinander leiden. Am 24. Mai eröffneten die Vereinten Nationen in Bonn das „Kampagnenbüro für die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele“. Hoffen wir, dass  dieses Büro zu einem relevanten Faktor und Akteur für die Zivilgesellschaft und damit auch zu einem Ausgangspunkt wird, endlich weltweit die globalen Rüstungsdynamiken in den öffentlichen Blick zu nehmen. Dieser Beitrag wurde am 30.05.2016 auch veröffentlicht auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, e.V.

Eine europäische Erzählung?

Wed, 25/05/2016 - 10:00
Bonn, 25.05.2016. Im September 2015 haben die EU-Staats- und Regierungschefs zusammen mit ihren Kollegen aus aller Welt bei den Vereinten Nationen das transformative Projekt der 2030 Agenda for Sustainable Development beschlossen. Bei der Erarbeitung dieser universellen Agenda mit ihren 17 Sustainable Development Goals (SDGs) hat die EU eine maßgebliche Rolle gespielt. Als Aktionsplan für die Menschen und ihren Planeten, für Wohlstand und Frieden reflektiert die Agenda zentrale europäische Werte und Interessen. Sie zielt gleichermaßen auf die innere Entwicklung der EU wie auf Entwicklung jenseits Europas und der Menschheit insgesamt.

Jetzt geht es um Umsetzung. Auf globaler Ebene beginnt das neue High-Level Political Forum bei den Vereinten Nationen mit der Überprüfung im Juli 2016. Dort stellen dann mit Deutschland, Estland, Finnland und Frankreich gleich vier EU-Mitglieder ihre nationale Umsetzung zur Diskussion. Auch China, der aktuelle G20-Vorsitz ist schon 2016 dabei. Aber was macht die EU?

Die EU-Gipfel seit September 2015 hatten andere Schwerpunkte: Flüchtlingskrise, möglicher Brexit und immer wieder auch die ‚Euro-Krise‘. Soziale Spannungen und wirtschaftliche Disparitäten in der Union nehmen zu. Europaskepsis und Populismus breiten sich aus. Die europäische Umsetzung des Pariser Klimaabkommens bleibt hinter der ambitionierten Rhetorik zurück. Zur Umsetzung der 2030 Agenda war in Brüssel bislang kaum Verbindliches zu hören. Auf Eis gelegt? Institutionelle Selbstblockade? Oder konstruktive Denkpause?

Hinter den Kulissen gibt es durchaus Bewegung: Junckers Sonderberater für Nachhaltige Entwicklung soll bis Mitte 2016 Empfehlungen vorlegen, wie die SDGs in der EU und weltweit mit der EU umgesetzt werden können. In der Kommission läuft eine gap analysis, um europäische Politiken und Wirklichkeiten mit den SDGs abzugleichen. Auffällig ist, dass die zuletzt 2009 fortgeschriebene EU Sustainable Development Strategy praktisch nirgendwo Erwähnung findet. Stattdessen stehen zwei andere Großprojekte im Mittelpunkt: Die Fortschreibung von Europas Wachstumsstrategie (New Approach beyond 2020) und die Erarbeitung einer EU Global Strategy on Foreign and Security Policy. Aber wo findet sich dann die europäische Umsetzung der 2030 Agenda? Macht es Sinn, die 2030 Agenda in einem eigenen Prozess anzugehen, wenn Global Strategy und New Approach längst beschlossen sind?

Nötig wäre zuallererst, dass die EU-Staats- und Regierungschef sowie der Präsidenten von Kommission, Rat und Parlament die 2030 Agenda durch eine gemeinsame Erklärung als zentralen Bezugspunkt für alle inneren und äußeren Politiken etablieren. So könnten sie die Universalität und Integrität der 2030 Agenda mit ihren sozialen, ökonomischen, ökologischen und politischen Dimensionen anerkennen und einen ambitionierten Rahmen setzen, der den Initiativen in den europäischen Institutionen und in den Mitgliedsstaaten Raum und Richtung gibt.

Europäische Politik für nachhaltige Entwicklung kann nach der 2030 Agenda keine Parallel- oder gar Nischenveranstaltung mehr sein. Sie muss ins Zentrum rücken und mit wirksamen Umsetzungs- und Überprüfungsinstrumenten ausgestattet werden. Das transformative Projekt der 2030 Agenda kann nicht in den inhaltlichen und institutionellen Mustern der Vor-2015-Welt umgesetzt werden. Diese sind dafür weder gemacht noch geeignet. Ist es nicht an der Zeit, dass die EU ihren New Approach beyond 2020 mit den regelmäßigen Abstimmungsprozessen ambitioniert und gleichrangig an allen Dimensionen nachhaltiger Entwicklung ausrichtet und die überholte Beschränkung auf Wirtschafts- und Finanzpolitik aufgibt? Und ist es noch zeitgemäß, wenn eine Globale Strategie der EU weiterhin primär aus der Perspektive klassischer Außen- und Sicherheitspolitik formuliert und global nachhaltige Entwicklung als ein Thema der Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern auslagert wird?

Die EU hat die neue globale Erzählung nachhaltiger Entwicklung maßgeblich mitgeschrieben. Sie sollte nun die Chance ergreifen, daraus eine neue, positive europäische Erzählung zu machen, in der sich die Bürger Europas wiederfinden und die von Europas Partnern in der Welt als konstruktiv und glaubwürdig verstanden wird. Ohne eine solche überzeugende europäische Erzählung würde auch die globale Erzählung nachhaltiger Entwicklung bald zu einer Angelegenheit für Diplomaten und Bürokraten verblassen. Die 2030 Agenda spricht Schlüsselfragen der inneren Entwicklung Europas an, von Jugendarbeitslosigkeit und sozialen Disparitäten über Wachstum und Infrastruktur bis zu nachhaltiger Landwirtschaft und Biodiversität. Viele globale Ziele der Agenda erfordern substantielle Beiträge in der EU selbst, von der Bekämpfung des Klimawandels über die Förderung nachhaltiger Konsum- und Produktionsmuster bis zum Schutz der Meere. Gleichzeitig kann Europa seine eigenen Interessen, Ziele und Werte nicht ohne engagierte und solidarische Antworten auf die Herausforderungen nachhaltiger Entwicklung in seiner Nachbarschaft sowie in den Welt wahren, von Armut über Krisen und Konflikte bis zu Migration und Flucht. So gesehen hat die 2030 Agenda dann doch viel mit den Themen der regelmäßigen EU-Krisengipfel gemeinsam und könnte diesen Orientierung über den Tag hinaus geben.

Diese Kolumne ist eine leicht gekürzte Fassung des folgenden gleichnamigen Beitrags: Kloke-Lesch, Adolf (2016): Eine Europäische Erzählung?, in: Forum Wirtschaftsethik, Jahresschrift des Deutschen Netzwerks Wirtschaftsethik, 23. Jahrgang (2015), Berlin 2016, S. 52-54 (im Druck).

Kriege, Flüchtlinge und eine „Systemkrise“: Die internationale Nothilfe muss reformiert werden

Mon, 23/05/2016 - 12:52
Bonn, 23.05.2016. Gegenwärtig wird humanitäre Hilfe so stark beansprucht wie selten zuvor. Kriege, Instabilität, Ungleichheit, Naturkatastrophen und daraus resultierende Flüchtlingskrisen führen dazu, dass heute weltweit etwa 125 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Aber auch das internationale humanitäre System ist in der Krise: Es mangelt ihm an Wirksamkeit, an Effizienz und an Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung und der Zuteilung seiner Hilfe. Es vernachlässigt viele chronische Brandherde und den Aufbau lokaler und regionaler Fähigkeiten.

Organisationen der Vereinten Nationen, denen eine entscheidende Rolle im internationalen humanitären System zukommt, konkurrieren zu oft miteinander und mit anderen. Dies geht zu Lasten einer guten Koordination. Selbst UN-Generalsekretär Ban Ki-moon fordert tiefgreifende Veränderungen bei der Art und Weise, wie die Vereinten Nationen ihrer humanitären Verantwortung nachkommen. Der humanitäre Weltgipfel, der am 23. Mai in Istanbul beginnt, muss den Weg für diese Veränderungen ebnen.
In mindestens vier wesentlichen Bereichen müssen Reformen angestrebt werden:

Erstens geht es um die Verknüpfung von unmittelbarer humanitärer Hilfe mit strukturbildender Unterstützung, also Entwicklungszusammenarbeit. Bei den meisten Akteuren herrscht Einigkeit, dass die Verzahnung der humanitären Hilfe mit der Entwicklungszusammenarbeit verbessert werden muss, um Menschen in Notlagen eine nachhaltige Perspektive zu geben. Die konkreten Lösungsvorschläge gehen allerdings bislang kaum über die Verbindlichkeit allseitiger Absichtserklärungen hinaus. Die Stärkung der resident coordinators – des jeweils höchsten Vertreters der Vereinten Nationen in einem Land – wäre ein wichtiger Schritt. Die Kompetenzen dieser Position sollten ausdrücklich um die Aufgabe erweitert werden, eine abgestimmte Planung von (a) Nothilfe, (b) mittelfristig stabilisierenden Maßnahmen und (c) langfristiger struktureller Entwicklungszusammenarbeit zu erreichen.

Zweitens sind bewaffnete Konflikte Hauptverursacher humanitärer Notlagen. Der bereits vor einiger Zeit veröffentlichte Bericht des Generalsekretärs zum Weltgipfel fordert daher an erster Stelle mehr Einsatz, um Kriege zu verhindern und Frieden zu fördern. In der internationalen Debatte ist dieser Punkt auf wenig konkrete Resonanz gestoßen. Denn die Organisationen der Vereinten Nationen sind Akteure, die ihr Mandat als möglichst unpolitisch definieren und damit in kritischen Situationen oft faktisch die Position der Regierungen unterstützen – auch wenn dies im schlimmsten Fall zu einer Konflikteskalation beitragen kann. Die Vorstellung einer politischen Neutralität in (Post-)Konfliktsituationen muss daher kritisch hinterfragt werden. Regelmäßige Do-no-harm-Analysen in Krisen- und Konfliktländern – also Untersuchungen, wie Hilfe vor allem konfliktsensibel gestaltet werden kann – wären in dieser Hinsicht ein guter Ausgangspunkt.

Drittens müssen die Organisations- und Entscheidungsstrukturen im humanitären System der Vereinten Nationen in zwei Richtungen hin reformiert werden, die zunächst widersprüchlich scheinen: Zentralisierung und Dezentralisierung. Zentralisiert werden sollte die Koordination im Falle einer humanitären Krise: Hier sollte die Rolle des UN-Nothilfekoordinators durch Ausweitung seiner Zuständigkeiten gestärkt werden (analog zu den resident coordinators). Dabei wäre es besonders wirkungsvoll, wenn auch die finanzielle Zuständigkeit in seinen Händen läge.
Eine Dezentralisierung sollte zugleich die Handlungsfähigkeit lokaler und nationaler humanitärer Organisationen in Krisensituationen stärken. Die Rolle internationaler Organisationen bestünde dann in erster Linie darin, nationale und lokale Organisationen nach Bedarf dabei zu unterstützen, den notwendigen Aufgaben nachzukommen. Nur wo dies nicht möglich ist, kämen internationale Organisationen direkt zum Einsatz.

Viertens ist die derzeitige Finanzierung des humanitären Systems problematisch. Es basiert weder auf festen noch auf verbindlichen Beitragssätzen. Dies führt immer wieder zu Finanzierungslücken mit teils drastischen Konsequenzen wie der Kürzung von Lebensmittelrationen für Bedürftige und hat eine Konkurrenz der UN-Organisationen untereinander um die knappen Mittel zur Folge. Das von Ban Ki-moon im Mai 2015 eingesetzte und mit internationalen Vertretern aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft besetzte „High-Level Panel on Humanitarian Financing“ empfiehlt eine festere, mehrjährig gebundene Beitragsfinanzierung. Geldmittel sollten „zweck-ungebundener“ werden, um sich auch humanitärer Notlagen anzunehmen, die weitgehend aus dem Blick öffentlicher Wahrnehmung verschwunden sind. Humanitäre Organisationen sollten zudem ihre Finanztransparenz erhöhen und stärker zu bargeld-basierter Hilfe übergehen, da durch diese lokale Lösungen besser zum Tragen kommen.

Das Zeitfenster für strukturelle Reformen ist eng. Im September befasst sich die Generalversammlung mit dem turnusmäßigen Vierjahres-Review des UN-Entwicklungssystems. Angedachte Strukturveränderungen, die darin nicht zur Sprache kommen, werden es schwer haben in absehbarer Zeit auf anderen Wegen Zustimmung zu finden. Der weltweite Bedarf an humanitärer Hilfe wird in den nächsten Jahren kaum kleiner werden. Deshalb ist es entscheidend, dass der humanitäre Weltgipfel zu konkreten Reformschritten führt.
Dieser Beitrag ist auch auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) erschienen.

Geber, traut euch! Bargeldbasierte Transfers als Chance für mehr Selbstbestimmung und Effizienz in der Not- und Übergangshilfe

Mon, 23/05/2016 - 10:00
Bonn, 23.05.2016. Am 23. und 24. Mai findet in Istanbul der erste humanitäre Weltgipfel statt, zu dem der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki-moon geladen hat. 5.000 Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen, humanitären Organisationen, wissenschaftlichen Institutionen und Unternehmen, aber auch Opfer humanitärer Krisen werden seiner Einladung folgen. Durch den Fokus auf fünf Aktionsfelder soll der Gipfel die Grundlage dafür schaffen, die umfangreichen Verpflichtungen des vergangenen Jahres in die Tat umzusetzen – wie u.a. die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung oder das Pariser Abkommen der Klimakonferenz der Vereinten Nationen. Diese Felder umfassen die Würde, Sicherheit und nachhaltige Unterstützung der Menschen in Not sowie neue Partnerschaften und innovative Finanzinstrumente zur effizienteren Verwendung knapper Mittel.

Für drei dieser Felder können bargeldbasierte Transfers in der Not- und Übergangshilfe eine wichtige Rolle spielen: für den Respekt vor der Würde der Menschen in Not, für deren nachhaltige Unterstützung sowie als neues, effizientes Instrument. Diese Leistungen werden direkt an Menschen in Krisensituationen vergeben, umfassen Bargeldzahlungen oder Gutscheine und ersetzen zunehmend Sach- und Lebensmittelhilfen. Wichtige Entwicklungsakteure wie die Weltbank und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen möchten den humanitären Weltgipfel auch dazu nutzen, um in der internationalen Gemeinschaft für einen verstärkten Einsatz dieses Instruments zu werben.

Auch in der humanitären Hilfe des deutschen Auswärtigen Amtes und in der Übergangshilfe des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung werden bargeldbasierte Leistungen eingesetzt – prominent etwa in der Beschäftigungsinitiative für Flüchtlinge in den syrischen Nachbarländern. Insgesamt stellen sie aber einen sehr geringen Anteil von schätzungsweise sechs Prozent der weltweiten humanitären Hilfe dar. Allgemein reicht die Art der Leistungen von Transferzahlungen an Eltern im Gegenzug für den regelmäßigen Schulbesuch ihrer Kinder bis zu Zahlungen für kurzfristige Arbeitseinsätze oder auch Zahlungen ohne Konditionen. Auch können sie entweder als Bargeld frei verwendet oder als Gutscheine nur für vordefinierte Waren ausgegeben werden.

Positive Erfahrungen mit diesem Instrument wurden bereits in sehr unterschiedlichen Ländern gemacht, auch in fragilen Staaten. Damit Bargeld-Hilfen erfolgreich sein können, müssen einerseits Märkte vorhanden sein, auf denen die Menschen die Dinge, die sie benötigen, erstehen können. Andererseits muss gewährleistet sein, dass die Transfers sicher zugestellt werden können. Die Empfänger entscheiden selbst, wofür sie die Leistungen einsetzen, etwa für Nahrungsmittel, die Ausbildung ihrer Kinder oder Arztbesuche. Indem sie eigenständig Entscheidungen über Präferenzen treffen, nehmen sie ihr Leben stärker in die Hand als dies bei Sachleistungen der Fall ist. Gleichzeitig stärkt es sie kurz- und mittelfristig, da sie selbst festlegen, welchen Teil des Geldes sie unmittelbar ausgeben, welchen sie investieren und welchen sie sparen. Auch bei Kosten-Nutzen-Rechnungen schneidet Bargeld häufig besser ab als Nahrungsmittelhilfe. Gleichzeitig gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Bargeld regelmäßig und in höherem Maße für „falsche“ Zwecke wie etwa Alkohol ausgegeben würde als dies z.B. bei Lebensmitteln, die weiterverkauft werden können, der Fall ist.

Die Initiative für mehr bargeldbasierte Interventionen fügt sich ein in weitere Entwicklungen hin zu einem emanzipierteren Verständnis von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe. Der konzeptionelle Rahmen, an dem sich die internationale Kooperation bis 2030 orientieren wird, sind die 2015 vereinbarten nachhaltigen Entwicklungsziele. Sie richten sich an alle Länder der Welt. Da alle Staatschefs Rechenschaft gegenüber der Weltöffentlichkeit ablegen müssen, wird die Grenze zwischen Gebern und Empfängern aufgeweicht. Es geht vielmehr um einen Austausch und eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Der humanitäre Weltgipfel betont die Würde der Menschen in Not und lässt sie neben dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Staatschefs und anderen hochrangigen Vertretern sichtbar und hörbar bereits in der Plenardebatte zur Eröffnung zu Wort kommen. Auf Projektebene sind bargeldbasierte Ansätze eine Möglichkeit, die Selbstbestimmung der Menschen anzuerkennen.

Was also steht einem stärkeren Engagement für mehr bargeldbasierte Projekte und somit einem emanzipierteren Verständnis von Not- und Übergangshilfe entgegen? Es ist auch der Widerstand innerhalb von Geberinstitutionen: Der große Vorteil des Instruments – die Empfänger entscheiden selbst, was sie brauchen – bedeutet auch, dass durchführende Organisationen einen Teil der Kontrolle aufgeben, was mit ihrer Hilfe geschieht. Außerdem verschwimmen die Grenzen zwischen den Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit, wenn z.B. Geld, das für Ernährungssicherung gedacht war, für den Schulbesuch der Kinder verwendet wird. Die Geber sollten mehr Mut zeigen, den Empfängern eigene Entscheidungen zuzutrauen. Hoffen wir, dass die Teilnehmenden des humanitären Weltgipfels das Momentum nutzen, damit dieser Prozess weiter an Fahrt gewinnt.
Dieser Beitrag ist auch auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) erschienen.

Biodiversitätsforschung: Sozialwissenschaften unterrepräsentiert

Fri, 20/05/2016 - 09:00
Bonn, 20.05.2016. Der 22. Mai steht jedes Jahr im Zeichen des Internationalen Tags der biologischen Vielfalt. Der rasante Verlust biologischer Vielfalt ist auf den Menschen zurückzuführen. Aber gerade Sozialwissenschaftler, die sich u.a. mit den Auswirkungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen auf die Umwelt auseinandersetzen, sind in der Biodiversitätsforschung unterrepräsentiert. Klimawandel, die Zerstörung von Wäldern und wichtigen Lebensräumen, Verschmutzung und Übernutzung oder Wilderei tragen direkt zum Artenschwund bei. Indirekt üben noch andere Faktoren, Druck auf die Artenvielfalt aus. Zum Beispiel kann die steigende Nachfrage nach Fleisch nur durch die Gewinnung neuer Weideflächen und eine gesteigerte Produktion von Futtermitteln gedeckt werden. Natürliche Lebensräume und Biodiversitäts-Hotspots müssen weichen. Aber auch gut gemeinte Klimamaßnahmen, wie zum Beispiel der Anbau von Bioenergiepflanzen, können zum Verlust von Biodiversität beitragen, da sie große Landnutzungsänderungen erfordern.

Schätzungen zufolge verlieren wir bereits bis zu 2000 Arten pro Jahr. Und das ist nur eine grobe Schätzung, denn ein Großteil aller existierenden Arten wurde vermutlich noch gar nicht entdeckt. Insgesamt wissen wir immer noch wenig darüber, wie wir Biodiversität am besten schützen können und den politischen Akteuren mangelt es an Entscheidungshilfen.

2012 gründete die Staatengemeinschaft unter dem Dach der Vereinten Nationen daher die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, kurz IPBES. IPBES ist ein zwischenstaatliches Gremium zur wissenschaftlichen Politikberatung, das sich mit Biodiversität beschäftigt – vergleichbar mit dem Weltklimarat IPCC. IPBES soll als Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft unabhängige, glaubwürdige Informationen über den Zustand und die Entwicklung der Artenvielfalt, über die Ursachen des Verlustes und über mögliche Handlungsoptionen auswerten, um somit der Politik eine bessere Grundlage für informierte Entscheidungen zum Schutz der Artenvielfalt zu bieten.

124 Regierungen und 1000 Experten beteiligen sich an IPBES. Der erste große Bericht des Gremiums zur Artenvielfalt von Bestäubern wurde im Februar 2016 veröffentlicht. Er sorgte für Aufsehen und unterstreicht die Bedeutung der Artenvielfalt für das menschliche Leben: 40 Prozent der bestäubenden Insekten sind vom Aussterben bedroht. Obst, Gemüse, Samen, Nüsse und Öle, aber auch Kaffee und Kakao sind von diesen Bestäubern abhängig; insgesamt zwischen 235 und 577 Milliarden US-Dollar der globalen Nahrungsmittelproduktion.

Die Verbindungen zwischen Mensch und Artenvielfalt sind deutlich. Deshalb war die ursprüngliche Idee bei der Gründung von IPBES: Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen – Naturwissenschaftler, Sozialwissenschaftler und Geisteswissenschaftler – sowie Vertreter indigener und lokaler Gemeinschaften sollten in diesem Gremium mitarbeiten. In der Realität sieht es anders aus. Schätzungen zufolge sind weniger als 10 Prozent der IPBES-Experten Sozialwissenschaftler. Wissenschaftler fordern aber eine Quote von mindestens 30 Prozent. Die ungleiche Verteilung spiegelt sich auch in der Biodiversitätsforschung insgesamt wider. Für Naturwissenschaftler stehen wesentlich mehr Forschungsgelder zur Verfügung, was wiederum den Pool der naturwissenschaftlichen Experten vergrößert.

Bislang werden 80 Prozent der Experten durch die Mitgliedsstaaten vorgeschlagen; 20 Prozent von Umwelt- und Wissenschaftsorganisationen. Es werden daher nur die Experten einbezogen, die bereits mit Regierungen zusammenarbeiten und als Biodiversitätsexperten anerkannt sind. Da die Terminologie der IPBES-Ausschreibungen sehr naturwissenschaftlich geprägt ist, fühlen sich bestimmte Wissenschaftsgruppen (z.B. Anthropologen oder Ethiker) nicht angesprochen. Doch das Gremium hat in seiner aktuellen Ausschreibung bereits umgesteuert. Über neue Netzwerke sollen auch Sozialwissenschaftler angesprochen und gewonnen werden. Letztlich liegt die Verantwortung dennoch wieder bei den Regierungen: Sie müssen die Experten nominieren.

Biodiversitätsforschung braucht Vielfalt. Um die Voraussetzungen für eine bessere Einbindung von Sozialwissenschaftlern zu gewährleisten, müssen dringend mehr Forschungsgelder für die sozialwissenschaftliche Dimension in der Biodiversitätsforschung bereitgestellt werden. Aber auch IPBES und die Mitgliedsstaaten müssen mehr Anstrengungen unternehmen, Experten zu mobilisieren und sorgfältig auszuwählen. IPBES hat den Anspruch, mit seinen Berichten und Bewertungen zukünftige Politik- und Forschungsagenden zu beeinflussen. Es wäre ein Zeichen, anzuerkennen, dass wir die globale Artenvielfalt nur schützen können, wenn wir auch die Vielfalt an Erfahrungen und wissenschaftlichen Methoden bei der Bearbeitung solch weitreichender Fragestellungen zusammen bringen.

Dieser Beitrag ist am 20.05.2016 auch auf den Seiten der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. erschienen. Sie können ihn hier lesen.

Volle Kraft voraus: Forschung für transformative Klima-Governance nach „Paris“

Wed, 18/05/2016 - 10:24
Bonn, Berlin, 18.05.2016. Als Bundesumweltministerin Hendricks vor gut zwei Wochen in New York mit Frankreichs Präsident Hollande, der brasilianischen Präsidentin Rousseff, US-Außenminister Kerry und einer Vielzahl weiterer Staatschefs und Regierungsvertreter zusammenkam, um in einer feierlichen Zeremonie das Pariser Klimaabkommen zu unterzeichnen, besiegelte sie damit einen der wichtigsten multilateralen Verträge der jüngeren Geschichte. Kaum dass die Tinte getrocknet ist, treten nun zum ersten Mal nach der Paris-Konferenz die Unterhändler zusammen, um den komplexen Prozess der internationalen Klimapolitik weiter voranzubringen. Vom 16. bis 26. Mai verhandeln sie in Bonn über die Umsetzung der in Paris gefassten Beschlüsse. Die Bonner Klimakonferenz ist somit der erste Lackmustest für das Paris-Abkommen – wird es sich als „historisch“ erweisen, wie nach dem Pariser Gipfel bejubelt, oder bleibt es ein Papiertiger?

Dies bleibt abzuwarten. Unterdessen treiben die an der Klimapolitik interessierten Wissenschaftler die gleichen Fragen um wie vor dem Pariser Gipfel, wenn auch in einer sich verändernden politischen Landschaft: Wie können Klimapolitiken entwickelt und umgesetzt werden, die sich gleichsam als effektiv und legitim erweisen? Welche Institutionen und Verfahren sind erforderlich, um Klimapolitik gerecht und fair zu gestalten – international wie innerhalb von Gesellschaften, für heutige ebenso wie für zukünftige Generationen? Wie kann Politikkohärenz über die für Klimapolitik und nachhaltige Entwicklung einschlägigen Sektoren erreicht werden,  etwa hinsichtlich Wasser, Energie, Landnutzung oder Urbanisierung? Und was befördert oder behindert ein effizientes Zusammenspiel der entsprechenden Politiken auf unterschiedlichen Handlungsebenen – global, national und lokal? Wann ist Klima-Governance letztlich transformativ in dem Sinne, dass sie über "begrüntes" business as usual hinausgeht?
Forscher streben danach, funktionsfähige Lösungen zu finden: Für die  Unterstützung und Legitimität für transformative Politiken, bei der Koordination unterschiedlicher Akteure über verschiedene Bereiche und Ebenen der Politikgestaltung, bei der Analyse von Narrativen, die eine Transformation unterstützen können. Es ist deshalb von größter Bedeutung, die Kontexte zu verstehen, in denen Klimapolitiken und die Institutionen, die sie bestimmen, entwickelt werden. Welche Diskurse konkurrieren, was funktioniert in verschiedenen Politik- und Rechtssystemen, in wirtschaftlichen ebenso wie in kulturellen Kontexten? Sozialwissenschaftler spielen eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, ein besseres Verständnis für die Herausforderungen zu entwickeln, die sich politischen Entscheidungsträgern bei der Umsetzung der Pariser Ergebnisse stellen. Mit ihrer Hilfe können geeignete Anknüpfungspunkte für wissenschaftliche Erkenntnisse gefunden und Klimapolitiken unterstützt werden, die sowohl effizient und effektiv als auch legitim und fair sind.

Vor diesem Hintergrund haben das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und das Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) der Freien Universität Berlin zu einer großen internationalen Fachkonferenz über transformative Klima-Governance "nach Paris" eingeladen („Transformative Global Climate Governance 'après Paris'“) eingeladen. Sie findet am 23. und 24. Mai parallel zur Bonner Klimakonferenz an der Freien Universität statt und bringt eine Reihe der weltweit führenden Köpfe der Governance- und Transformationsforschung mit etwa 200 Sozialwissenschaftlern zusammen, um ihre Forschung im Lichte der Pariser Ergebnisse zu diskutieren.

Die Konferenz berücksichtigt, dass Klima-Governance im Fokus breiterer, vor allem normativer Debatten über eine globale Transformation in Richtung Nachhaltigkeit steht. Da es kein Patentrezept für transformative Governance gibt, müssen unterschiedliche Möglichkeiten identifiziert und erörtert werden, wie etwa technologische Entwicklungspfade und soziales Verhalten verändert und Zielkonflikte gemanagt werden können, um strategische Politikgestaltung und Innovation zu erreichen und um gesellschaftliche Teilhabe zu organisieren.

Angesichts dieser komplexen Herausforderung mit all ihren Unsicherheiten und Widersprüchen ist sich die Forschungsgemeinschaft sehr wohl bewusst, dass sie keinen Königsweg aufzeigen kann. Damit künftige Klima-Governance transformativ sein kann, wird sie strategische Top-down-Planung mit ambitionierten Zielen und langfristiger Vision  mit einer Vielzahl dezentraler Bottom-up-Initiativen kombinieren müssen, die progressiven Inkrementalismus und Innovation voranbringen. Die Interpretation der Einzelheiten, die aus der Pariser Klima-Agenda und den Institutionen des UN-Klimaregimes hervorgehen sowie die Fortentwicklung und Umsetzung ambitionierter Klimapolitiken bedürfen anspruchsvoller Transformationsforschung. Nach Paris gilt es also nicht nur für politische Entscheidungsträger einen Gang höher zu schalten und Gas zu geben, sondern auch für die Forschungsgemeinschaft!

Clara Brandi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung "Weltwirtschaft und Entwicklungsfinanzierung" am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE). Steffen Bauer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung "Umweltpolitik und Ressourcenmanagement" am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE). Klaus Jacob ist Forschungsdirektor am Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) der Freien Universität Berlin (FU Berlin).

Flüchtlinge und internationaler Handel: Sind wir bereit, über das ‚Danach‘ zu reden?

Wed, 11/05/2016 - 10:12
Bonn, 11.05.2016. Die Debatte über die Flüchtlingsströme, -welle oder -krise: Ausdrücke, mit denen das Phänomen – wie auch mit anderen vergifteten Metaphern – bezeichnet wird, kennt keine langfristige und kaum eine mittelfristige Sicht der Dinge. Die schiere Zahl von Flüchtlingen an Europas Grenzen hat die Region kalt erwischt. Die Situation verstört sowohl die Öffentlichkeit als auch das Regierungshandeln, gleich für wen und ob überhaupt Offenheit ökonomisch, ethisch und politisch sinnvoll ist. Fragen wie: „Erwarten wir, dass Immigration den Export ankurbelt?“ oder: „Fördert Handel die Integration von Flüchtlingen?“ machen das Ringen um die Flüchtlingspolitik nicht einfacher. Aber es lohnt sich, diesen Fragen nachzugehen, denn sie haben einen klaren Vorteil: Bei der Suche nach Antworten können wir selbst beim Thema Flüchtlingsmigration objektiv bleiben. Daher müssen wir unbedingt eine Debatte über das ‚Danach‘ führen und dafür sorgen, dass unsere Argumente in die politischen Beschlüsse über das Wer, Wo und Wie mit einfließen. Was aber wissen wir über das Verhältnis von (Flüchtlings-)Migration, ethnischer Vielfalt und internationalem Handel? Wirtschaftsstudien lehren uns, dass ethnische Minderheiten Handel fördern: Sie wissen Bescheid über ausländische Märkte, Sprachen, Zölle und Unternehmenspraxis und senken so die Transaktionskosten von Exporten. Ihre Netzwerke gewährleisten, dass Verträge und Geschäftsvereinbarungen besser eingehalten werden. Und das ist nur ein Teil der Geschichte. Migranten bevorzugen Produkte, die im Aufnahmeland oft nicht erhältlich sind. Das steigert die Nachfrage nach Einfuhren aus der Heimat und anderen Ländern – kein neues Phänomen: Schon in den 1990er Jahren berichteten Wissenschaftler, dass die häufigste Tätigkeit von in die USA eingewanderten koreanischen Unternehmern der Im- und Exporthandel mit Korea war. Und als „Chinatown-Effekt“ bezeichnen wir – etwas flapsig – den Handel zwischen China und Ländern mit großen chinesischen Gemeinden. Schätzungen besagen: Ein Anstieg der Einwandererzahl um 10 % kann den internationalen Handel eines Landes um durchschnittlich 1,5 % steigern. Was heißt es aber, mehr Handel zu treiben mit Ländern jenseits der eigenen Grenzen? Erheblich mehr, als man zunächst meinen könnte. Bislang dreht sich die öffentliche Debatte über die wirtschaftlichen Folgen von Migration um die üblichen Verdächtigen: Löhne und Arbeitsplätze, öffentliche Finanzen, Wachstum und Demographie. Die Erwartungen sind oft nicht klar: Ob Einwanderung den Staatshaushalt belastet, zu Wachstum beiträgt oder Arbeitsplätze schafft, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Der Effekt der höheren Internationalisierung hingegen ist eindeutig positiv – wird trotzdem aber oft vernachlässigt. Auch grenzüberschreitende Geschäfte schaffen durch Wettbewerb mit multinationalen Unternehmen Arbeitsplätze, Einkommen und Produktivität – positive Ergebnisse auf breiter Front. Was für Migranten gilt, gilt auch für Flüchtlinge. Die Anwesenheit neuer Bevölkerungsgruppen, oft qualifiziert und unfreiwillig entwurzelt, wird Europas Wachstum und Wirtschaftsbeziehungen zu Nachbarregionen stärken und, wie Ökonomen es nennen, Win-win-Situationen erzeugen. De facto wird Europa, wenn der Nahe Osten und Nordafrika sicherer werden und Wachstum mittelfristig wahrscheinlich wird, nicht nur von der geographischen Nähe profitieren, sondern auch von stärkeren kulturellen Bindungen über die Einwanderer, die nun an seinen Grenzen stehen. In diese Verflechtungen zu investieren ist mehr als ein moralisches Gebot: Angesichts Europas geringem Wachstumspotential und des starken Wettbewerbs mit aufstrebenden Mächten ist es ein strategisches Muss. Allerdings können einige Einwanderer mehr Handelseffekte in Aufnahmeländern erzeugen als andere: So hat sich gezeigt, dass sehr gut oder gut ausgebildete Einwanderer Handel stärker fördern. Außerdem ist selten oft besser: Eine im Aufnahmeland kulturell sehr andersartige und kleine Bevölkerungsgruppe bringt wertvollere Kenntnisse und Fähigkeiten mit. Das wirft Fragen auf, die sich noch nicht beantworten lassen. Was ihre Entwicklung, Berufe und räumliche Konzentration betrifft, wissen wir viel über Einwanderung im 20. Jahrhundert, aber sehr wenig über die jetzt ankommenden Flüchtlinge. Umso wichtiger ist es, mehr herauszufinden. Jenseits von Politik und Völkerrecht kann die Wirtschaft erklären, wie Europa auf die aktuellen Migrationsströme reagieren sollte. Das Gebot, Menschen vor Kriegen, Konflikten und dem Verhungern zu schützen, ist eindeutig. Das „Was dann?“ ist es nicht. Vielleicht gibt es Ecken in Europa, wo Flüchtlinge mehr zum lokalen Wirtschaftsleben beitragen und einen größeren Anteil am Wohlstand haben. Darüber diskutieren wir momentan leider nicht. Unser Problem ist, dass wir Europäer die Grundlagen des Zusammenlebens mit Flüchtlingen in unseren Ländern noch nicht geklärt haben. Fremdenhass, Zuwanderungsgesetze, politische Rivalitäten – all das lässt wenig Raum für eine, wenn auch noch so wichtige, Debatte über das „Danach“. Alexandros Ragoussis ist Assoziierter Wissenschaftler am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE).

Ergebnisbasierte Ansätze: Ein Schlüssel für die entwicklungspolitische Umsetzung der 2030 Agenda?

Mon, 09/05/2016 - 08:53
Bonn, 09.05.2016. Die entwicklungspolitischen Großereignisse des Jahres 2016 stehen unter einem klaren Motto: Wie können die siebzehn Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals / SDGs) der 2030 Agenda durch Entwicklungszusammenarbeit ergebnisorientiert unterstützt werden? Ende des Jahres wird das zweite hochrangige Treffen der Global Partnership for Effective Development Cooperation (GPEDC) und im Juli das hochrangige Treffen des Development Cooperation Forum (DCF) der Vereinten Nationen hierüber beraten.  132 Milliarden US-Dollar weltweit entfiel 2015 auf öffentliche Entwicklungszusammenarbeit. Diese Summe leistet nur einen zusätzlichen Beitrag zu anderen Maßnahmen etwa aus den Bereichen Finanz-, Handels- oder Steuerpolitik, um die SDGs zu erreichen. Dennoch muss das Geld so wirksam und effizient wie möglich genutzt werden. Ergebnisbasierte Ansätze (EBA) sind dabei eine zentrale Neuerung in entwicklungspolitischen Debatten der letzten Jahre. Die Grundidee ist gleichsam einfach wie revolutionär: Entwicklungszusammenarbeit soll eingesetzt werden, um überprüf- und zählbare Entwicklungsergebnisse (results) direkt zu belohnen. Zahlungen werden beispielsweise an die Zahl der Schüler mit Schulabschluss oder an die Zahl der medizinisch begleiteten Geburten geknüpft. Je Einheit des beabsichtigten Ergebnisses (etwa ein zusätzlicher Schüler mit Schulabschluss) wird ein vorab festgelegter Betrag nach Erreichen des Ergebnisses ausgezahlt. Damit würden – so die Annahme – für alle Akteure grundlegend andere Anreize entstehen. Im Vergleich zu traditioneller Entwicklungszusammenarbeit, die Inputs (Neubau von Schulen etc.) oder Prozesse(eine neue Bildungsstrategie etc.) finanziert, ist das eine radikale Veränderung. Wie lässt sich das Politikfeld der Entwicklungszusammenarbeit zukunftstauglich gestalten? OECD-Staaten und Entwicklungsländer sehen den Schlüssel dazu gerade in der Verknüpfung von Ergebnis- und SDG-Debatte. Die Relevanz klassischer Entwicklungszusammenarbeit nimmt in vielen Entwicklungsländern ab, während der Bedarf nach effizienteren und flexibleren Entwicklungsinstrumenten steigt.  In den ärmsten Ländern ist bereits von 2000 bis 2010 der Anteil von Entwicklungszusammenarbeit  am Bruttonationaleinkommen im Durchschnitt um ein Drittel gefallen. Gleichzeitig suchen diese Länder nach neuen Wegen Entwicklungsziele wie die SDGs ergebnisbasiert zu finanzieren. Seit einigen Jahren ist das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) an den inländischen und internationalen Diskussionen über ergebnisbasierte Ansätze beteiligt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DIE haben Piloterfahrungen mit ergebnisbasierter Dezentralisierung in Ghana, Indikatoren für ergebnisbasierte Bildungsprogramme oder dem Aufstellen einer nationalen „Ergebnis-Agenda“ in Tansania ausgewertet. Das Ergebnis: Erstens sind ergebnisbasierte Ansätze eine wichtige Innovation für entwicklungspolitische Instrumente. Die Erfahrungen der Weltbank mit dem Program for Results (PforR) und dem britischen Payment by Results (PbR) zeigen, dass Neuerungen in der Entwicklungszusammenarbeit erreicht werden können. Wirkungen lassen sich oft besser nachweisen und darstellen als bei traditioneller Entwicklungszusammenarbeit. Auch Partner werden in ihrer Verantwortung für das Erreichen von Ergebnissen gestärkt und haben häufig mehr Einfluss auf das Verwenden der erhaltenen Zahlungen. Zweitens sind ergebnisbasierte Ansätze kein Patentrezept. Nicht für jedes Partnerland und jedes angestrebte Entwicklungsziel sind die Ansätze geeignet. In manchen Ländern, insbesondere Konfliktländern, fehlen die Voraussetzungen für die anspruchsvolle Überprüfung der Ergebnisse. Für einige Entwicklungsziele wie gute Regierungsführung sind Ergebnisse schwer messbar. Dazu beklagen einzelne Nichtregierungsorganisationen, dass sie Probleme mit den bürokratischen Anforderungen bei der Umsetzung ergebnisbasierter Ansätze haben. Auch auf der Seite der Geberländer fehlen teilweise die Strukturen, um Auszahlungen flexibel über mehrere Jahre und Länder zu verteilen. Gleichwohl hat der Anspruch die Wirkungen von Entwicklungszusammenarbeit zu erfassen und transparent darzustellen durch die Einführung von 17 SDGs und 169 Unterzielen noch einmal zugenommen. Insgesamt besteht großes Potential ergebnisbasierte Ansätze gezielt für die SDGs einzusetzen. In einigen Pilotvorhaben werden bereits Indikatoren aus den SDGs genutzt. Die zukünftige Gestaltung von ergebnisbasierten Ansätzen muss auf diesen Erfahrungen aufbauen und auf bestehende Widersprüche eingehen. Zum Beispiel darf die öffentlichkeitswirksame Darstellung einzelner Entwicklungsleistungen nicht dazu beitragen, dass Geber Alleingänge starten, ohne das Partnerland oder andere Geber mit einzubeziehen. Derzeit nehmen Koordinierung und der gemeinsame Dialog mit den Partnerregierungen bereits dort ab, wo in den letzten Jahren das Instrument der Budgethilfen ausgelaufen ist. Bei ergebnisbasierten Ansätzen sollte daher berücksichtigt werden, dass Vorhaben breit verankert sind und die Ressourcen vieler Akteure effizient bündeln. Nur so kann ergebnisbasierte Entwicklungszusammenarbeit einen echten Beitrag zum Erreichen der SDGs leisten.

Die globale Dimension der Flüchtlingskrise: Die zentrale Rolle der Städte

Mon, 02/05/2016 - 09:00
Bonn, 02.05.2016. Im Jahr 2015 waren laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) über 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht – so viele wie seit 1945 nicht mehr. Obwohl man in Deutschland und Europa oft davon ausgeht, dass für einen Großteil dieser Menschen das eigentliche Ziel Europa heißt, halten sich über 80 % der Fliehenden in Entwicklungs- und Schwellenländern auf, die meisten innerhalb ihrer Landesgrenzen. Vor allem Syrien und seine Nachbarländer, aber auch Kolumbien, Nigeria und der Sudan sind davon betroffen. Entgegen einer landläufigen Vermutung sind nicht Flüchtlingslager die Hauptaufnahmestätten, sondern Städte. Deshalb muss bei der Unterstützung von Flüchtlingen und der sie aufnehmenden Kommunen diese urbane Dimension der Flüchtlingskrise stärker berücksichtigt werden. Flüchtlinge und Vertriebene zieht es vor allem in Städte Laut Weltmigrationsreport 2015 der Internationalen Organisation für Migration (IOM) halten sich weltweit zwei Drittel aller Fliehenden in urbanen Gebieten auf. Der Anteil der Flüchtlinge in Flüchtlingslagern ist hingegen in den meisten Ländern vergleichsweise gering. So wohnen etwa in Jordanien nur 20 % der Flüchtlinge in Camps. Im Libanon liegt dieser Anteil sogar nur bei 10 %. In vielen Fällen bilden Städte auch Durchgangsstationen auf dem Weg in regionale oder internationale Zielorte. Ob Ziel- oder Transitorte, Städte werden in der Hoffnung auf Sicherheit, Grundversorgung und Gelegenheiten zum Einkommenserwerb aufgesucht und sind daher strategische Anlaufstationen. Innerhalb der Städte wohnt der IOM zufolge der größte Teil der Flüchtlinge in bestehenden Wohngebieten – entweder zur Miete oder umsonst bei Verwandten und Bekannten. Oftmals kommen die Flüchtlinge in informellen städtischen Siedlungen unter, in Jordanien beispielsweise etwa 200.000 Flüchtlinge. Zwar ist im Gegensatz zu Flüchtlingscamps in gewachsenen Stadtstrukturen das Problem der räumlichen Ausgrenzung nicht ganz so stark ausgeprägt. Trotzdem stehen Städte in Entwicklungs- und Schwellenländern, die eine große Anzahl von Flüchtlingen aufnehmen, vor großen Herausforderungen. Dazu zählen die Basisversorgung der Flüchtlinge in den Bereichen Bildung, Ausbildung, Gesundheit, Wohnen, technische Infrastruktur, der Zugang zu Beschäftigung, der aus rechtlichen oder sozialen Gründen oftmals erschwert ist, sowie die Sicherstellung des sozialen Friedens zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Verschärft werden diese Probleme durch die meist sehr begrenzten technischen und finanziellen Kapazitäten von Lokalregierungen und Verwaltungen und ihrer mangelnden Einbindung in migrationspolitische Entscheidungen. Zudem bestehen für Flüchtlinge in der Regel kaum Möglichkeiten zu politischer Partizipation. Die urbane Dimension verstärkt ins (entwicklungspolitische) Visier nehmen Organisationen der deutschen und internationalen Entwicklungszusammenarbeit unterstützen heute bereits Projekte und Initiativen in Städten, Gemeinden und zu „Quasi-Städten“ gewordenen Flüchtlingslagern in den Hauptaufnahme- und Durchgangsländern. Dazu gehören der (Wieder-)Aufbau von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern, die Verbesserung der Strom- und Wasserversorgung, die Förderung von Schul- und Ausbildungssystemen für Kinder und Jugendliche mit flankierender psychosozialer Betreuung oder die Verbesserung des Zugangs zu Finanzdienstleistungen. Um langfristig den Nutzen sowohl für die Flüchtlinge als auch für die ansässige Bevölkerung zu erhöhen, müssen wir die Herausforderungen und Folgen für die Städte stärker in den Blick nehmen: Lokale Ebene: Lokale Regierungen, Stadtregierungen und Verwaltungen sollten von Anfang an in Maßnahmen zur Unterstützung von Flüchtlingen und Vertriebenen eingebunden werden. Hierfür ist es dringend notwendig, dass diese Stellen auch mit den notwendigen Finanzmitteln von den nationalen Regierungen ausgestattet werden. Des Weiteren ist der Ausbau technischen Know-hows erforderlich, z.B. für die lokale Infrastrukturplanung. Schließlich sollten neben staatlichen Partnern auch zivilgesellschaftliche Organisationen oder Netzwerke, u.a. zwischen Flüchtlingen und der ansässigen Bevölkerung, in Partnerschaften eingebunden werden. Soziale Kohäsion: Zwischen den nach Flucht und Vertreibung aufgenommenen und den alteingesessenen Bevölkerungsgruppen gibt es häufig Konfliktpotential. Deshalb sollten Investitionen, etwa in die lokale Infrastruktur, von Anfang an auch der ansässigen Bevölkerung zugutekommen. Ebenso sind Konfliktmanagement und Maßnahmen zur urbanen Gewaltprävention beispielsweise bei Jugendlichen in vielen Fällen notwendig. Vom Verwalten zum Gestalten: Flüchtlingslager entstehen in der Absicht, kurzfristige Übergangslösungen für die betroffenen Gruppen zu schaffen. Jedoch werden sie in vielen Fällen zu Dauereinrichtungen – gewissermaßen zu Städten ohne wirkliche städtische Strukturen. Daher sollten Flüchtlingslager mit dem Ziel gebaut oder umgestaltet werden, ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Flüchtlinge brauchen Beschäftigungsperspektiven und Teilhabe an der aktiven Gestaltung des Lagers. Eine stärkere Beachtung dieser urbanen Herausforderungen würde einen entscheidenden Beitrag leisten zu mehr Sicherheit, Demokratie und verbesserten Lebensbedingungen in den von der weltweiten Flüchtlingskrise betroffenen Ländern.

„Transforming our world!“: Mut zum Umbau des Entwicklungssystems der Vereinten Nationen

Mon, 25/04/2016 - 08:00
Bonn, 18.10.2016. „Transforming our world“ – unter diesem Leitsatz steht die im September 2015 von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (VN) beschlossene „2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung“. Um wirksam und effizient zur Umsetzung dieser universellen Agenda beizutragen, müssen die Staaten nun auch das Entwicklungssystem der Vereinten Nationen umbauen. Aber wie? Hierüber wird derzeit im „Wirtschafts- und Sozialrat“ (ECOSOC) der VN beraten. Bis Juni sollen u.a. durch ein unabhängiges Beraterteam Reformoptionen erarbeitet werden. Dabei kann es nicht nur um die Wiederbelebung der sich schon lange hinschleppenden Reformprozesse gehen. Ausgehend vom neuen universellen Begriff von Entwicklung müssen auch die tragenden Prinzipien, die Aufgaben und die globale Rolle des VN-Entwicklungssystems neu justiert werden. Das Entwicklungssystem der Vereinten Nationen umfasst eine Vielzahl von Organisationen und Gremien, die vom ECOSOC koordiniert werden – theoretisch jedenfalls. Praktisch ist es ein kaum steuerbares System, eher ein „Wirrwarr von Systemen“, wie es der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler in seiner Rede zum 70. Geburtstag der Vereinten Nationen ausgedrückt hat. Es gilt vielen heute als ineffizient, ineffektiv und wenig kohärent. Durch seinen Fokus auf operative Entwicklungsarbeit, die anhaltende Dominanz klassischer Geber sowie das Entstehen neuer Plattformen und Institutionen (z. B. globale Fonds oder neue Entwicklungsbanken) droht ihm außerdem eine politische Marginalisierung.

Was ändert sich mit der 2030 Agenda? Bislang folgte das VN-Entwicklungssystem – anders als die anderen Säulen Frieden, Menschenrechte sowie Humanitäres – der Vorstellung einer zweigeteilten Welt: Hier der Hilfe-leistende „Norden“, dort der Hilfe-empfangende „Süden“. Die 2030 Agenda hebt durch das neue Prinzip der Universalität diese überholte Zweiteilung der Welt auch konzeptionell auf. Alle Länder, reichere wie ärmere, müssen ihre Entwicklungspfade und -anstrengungen neu ausrichten. Transformative Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung muss weniger als Hilfe, sondern immer mehr als gegenseitiges Lernen und Verändern zwischen Ländern aller Einkommensgruppen gestaltet werden.

In der 2030 Agenda kommt auch ein neuer und neuartiger Bedarf an internationaler Kooperation zum Ausdruck. Herausforderungen in Bereichen wie Migration, Umwelt, globale Gesundheit oder auch Friedensentwicklung können immer weniger einzelstaatlich oder bilateral bewältigt werden. Bedürftigkeit und Solidarität bleiben wichtige Faktoren internationaler Zusammenarbeit, müssen aber – gerade in Zeiten zunehmender Nationalismen und, damit verbunden, abnehmender moralischer Ressourcen – durch eine neue Rationalität von Investitionen in das kollektive Interesse an Sicherheit, Wohlstand und Schutz des Planeten ergänzt werden.

Das transformative Projekt der 2030 Agenda kann nicht in den inhaltlichen und institutionellen Mustern der Vor-2015-Welt umgesetzt werden. Auch das Entwicklungssystem der Vereinten Nationen ist dafür weder gemacht noch gut geeignet. Die Mitgliedsstaaten sollten den neuen Auftrag der 2030 Agenda nutzen und das Entwicklungssystem neu und universell ausrichten. Ein „Mission Statement“, das die 2030 Agenda in ihrer Universalität und Gesamtheit zur Grundlage der normativen und operativen Arbeit des neuen „VN 2030 Systems“ macht, wäre ein Anfang. Als Kernelemente müssten darin genannt werden:

  1. Stärkung der Norm- und Standardsetzung sowie der konzeptionellen Arbeit, um die politische Führungsrolle in der globalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung zu behaupten.
  2. Ausbau von Berichterstattung, Monitoring und Beratung für die Umsetzung der 2030 Agenda in allen Mitgliedsstaaten, auch in den Industrieländern.
  3. Fokussierung der operativen Projektarbeit auf die ärmeren, fragilen und Konfliktländer, in denen andere Entwicklungsakteure nicht oder noch nicht handeln können.
  4. Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der Bearbeitung grenzüberschreitender und globaler Probleme, auch auf regionaler Ebene.
  5. Berufung eines Hochkommissars für nachhaltige Entwicklung, zuständig für strategische Steuerung und Management des „VN-2030-Systems“.
  6. Umgewichtung zweckgebundener Beiträge auf eine verlässliche Kernfinanzierung, basierend auf multilateral vereinbarten Agenden und Strategieplänen.
Diese Vorschläge betreffen nicht nur das „VN-2030-System“ selbst, sondern sie enthalten auch eine Forderung an die Mitgliedsstaaten: Bislang sehen z. B. die „Geberstaaten“ die Vereinten Nationen häufig nur als Dienstleister für eigene kurzfristige Initiativen. Auch „Nehmerstaaten“ haben sich oft in dieser Rolle bequem eingerichtet. Beide Seiten beharren auf ihrer Souveränität. Dadurch untergraben sie den Mehrwehrt der VN als multilaterale Organisation. Jetzt kommt es darauf, in ein neues universelles „VN-2030-System“ zu investieren – durch Ressourcen, Kompromissbereitschaft und einen Vertrauensvorschuss – um jenen längerfristigen Gewinn an geteilter Sicherheit und gemeinsamem Wohlstand innerhalb der planetarischen Grenzen zu erreichen, auf den die 2030 Agenda zielt.
Dieser Beitrag ist am 25.04.2016 auf www.dgvn.de erschienen.

Niemanden zurücklassen – Chancen und Grenzen des Inklusionsversprechens der Agenda 2030

Mon, 18/04/2016 - 09:06
Bonn, 18.10.2016. Am 25. September 2015 wurden in New York feierlich die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen verabschiedet. Neben anderen Neuerungen im Vergleich zu ihren Vorgängern, den Millennium Development Goals, enthalten die SDGs den Anspruch, inklusiv zu sein. Das bedeutet: In acht von 17 Zielen ist festgeschrieben, dass neben anderen Gruppen Menschen mit Behinderungen ausdrücklich Teil der angestrebten weltweiten Entwicklungsziele sind. Soweit so gut. Es stellt sich allerdings das Problem der konkreten Umsetzung; Beispielsweise beim Ziel 4 „Hochwertige Bildung“ – insbesondere in Staaten mit hoher wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit oder instabilen politischen Verhältnissen. Bildung für alle Das Sustainable Development Goal 4 fordert Bildung für alle Jungen und Mädchen bis zum Jahr 2030. Es hat mehrere Unterziele und drei Mittel der Umsetzung. Die Lernergebnisse und die kognitiven Fähigkeiten sind dabei wichtiger als der bloße Schulbesuch. So soll bis 2030 eine kostenfreie, qualitativ hochwertige, gleichberechtigte und inklusive Grund- und Hauptschulbildung ermöglicht werden. Des Weiteren soll der Zugang zu frühpädagogischen Angeboten, Vorschulbildung, aber auch zu Ausbildungsplätzen und universitärer Bildung gesichert werden. In einem zusätzlichen Unterziel soll die Anzahl der Jugendlichen erhöht werden, die angemessene Berufe und Ausbildungsgänge ergreifen oder Unternehmen selbst gründen können. Bis 2030 sollen alle Barrieren für vulnerable Gruppen wie Indigene oder Menschen mit Behinderungen im Bildungssektor beseitigt werden. Ebenfalls wird die Alphabetisierung aller Jugendlichen bis 2030 gefordert, darüber hinaus eine substantielle Anzahl von Frauen und Männern, bei denen dasselbe Ziel erreicht werden soll. Drei Mittel der Implementierung sollen das Ziel konkret umsetzbar machen. Zunächst sollen Bildungseinrichtungen errichtet oder umgebaut werden, die kinder-, gender- und behindertengerecht sind. Die substanzielle Erweiterung der Stipendienprogramme für Lernende aus Ländern des Südens bis 2020 sowie die verbesserte Lehrerausbildung in Entwicklungsländern sind weitere Arten der Umsetzung des Anliegens. Inklusive Bildung in einem schwierigen Umfeld Aber wie sieht die Umsetzung dieser ambitionierten und weitreichenden Ziele, die auch die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung beinhalten, beispielsweise in einem Land wie Mexiko aus? Das zentralamerikanische Land erlebt seit Jahren eine Welle der Gewalt. Zwischen 2006 und 2016 sind über 100.000 Menschen im Kampf staatlicher Sicherheitskräfte mit den Drogenkartellen getötet worden oder verschwunden. Darüber hinaus gehört das Land zu denjenigen Gesellschaften der westlichen Hemisphäre, in denen der ökonomische Reichtum sehr ungleich verteilt ist. Weitere Probleme sind die Verbreitung einer endemischen Korruption und der Klientelismus. Es liegt auf der Hand, dass es in solch einem Umfeld zumindest sehr herausfordernd ist, inklusive Bildung ernsthaft zu betreiben, zumal es über die zu inkludierende Gruppe seit Jahren keine Statistiken gibt. Vor Jahren geisterte die Zahl von 20.000 Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen bei einer Gesamtzahl von 26 Mio. Schulpflichtigen durch die örtliche Bildungslandschaft. Genauere Erhebungen, etwa nach Art der Behinderung, sind jedoch nicht vorhanden. Mexikanische Pädagoginnen und Pädagogen, öffentliche und private Bildungseinrichtungen sowie Organisationen der Zivilgesellschaft haben trotz der vielen Hindernisse bei der Ausbildung von Mädchen und Jungen mit Behinderungen in den letzten Jahren beachtliches geleistet. Allerdings gibt es noch weiteren Handlungsbedarf: Es muss ein Bewusstseinswandel der Behörden erfolgen, wonach Inklusion ein Menschenrecht ist, und keine Gunst, die nach Gutdünken gewährt wird. Ebenfalls ist eine Verlässlichkeit in der Aufstellung von inklusiven Bildungsplänen, die nicht abhängig von der Wahlkonjunktur nach der nächsten Präsidentenwahl in Vergessenheit gerät, von Nöten. Schließlich ist die soziale und gesundheitliche Versorgung von allen Menschen – auch jenen mit Behinderungen – dringen notwendig. In vielen Fällen sehen sich nämlich diese Menschen gleich mit einem ganzen Bündel von Problemen wie Armut, fehlender Gesundheitsversorgung und Rechtlosigkeit konfrontiert. Diese Probleme gesellen sich in diesem Fall zur ohnehin schwierigeren Ausgangslage als Mensch mit Behinderung hinzu. Es bleibt die Gefahr, dass das Ziel inklusiver Bildung unter den jetzigen Bedingungen ein Papiertiger im Gestrüpp aus Armut, Ungleichheit, Gewalt und Korruption bleibt. Nur wenn Mexiko seine massiven strukturellen Probleme parallel zur Inklusion im Bildungsbereich angeht, ist Bildung für alle ein realistisches und erreichbares Ziel. Dann wäre Mexiko auch ein Beispiel für andere Länder der Region, die sich bei der Umsetzung der Forderung nach inklusiver Bildung mit sehr ähnlichen Problemen konfrontiert sehen.

Süd-Süd-Kooperation: Globaler Akteur mit unklarer Identität

Mon, 11/04/2016 - 09:00
Im März veranstaltete Indien in New Delhi die zweite globale Konferenz für Süd-Süd-Kooperation (SSC). Verglichen mit der Konferenz im April 2013 zeigte Delhi 2, wie schnell sich SSC als wichtige Modalität internationaler Entwicklungszusammenarbeit weiterentwickelt hat. Aufstrebende Mächte im Süden wie Brasilien, China, Indonesien, Indien, Mexiko und Südafrika sind jetzt bereit, sich aktiv in kollektive Bemühungen für die internationalen Nachhaltigkeitsziele, die Addis-Agenda zur Entwicklungsfinanzierung und für den Pariser Klimavertrag einzubringen.

Dennoch herrscht Unsicherheit über die Natur und Ausrichtung von SCC, da Diskussionen und praktisches Handeln im Süden noch keine gemeinsame Basis gefunden haben. Konzepte und Definitionen sind weiterhin vage und umstritten. Methoden der Berichterstattung und Wirkungsanalyse stehen noch ganz am Anfang. Um das Potenzial der Süd-Süd-Kooperation voll zu entfalten, müssen die Regierungen im Süden Mechanismen institutionalisieren, die Transparenz, Rechenschaftspflicht und Wissen schaffen. Diese Herausforderungen in den Griff zu bekommen ist von zentraler Bedeutung für die ganze Welt. Wenn sich SSC zu einer echten Quelle internationaler Solidarität entwickelt, könnten die Geber des Südens die Nord-Süd-Kooperation ergänzen und traditionelle Geber dazu bringen, sich stärker für eine globale nachhaltige Entwicklung einzusetzen.

Verschwommene Konturen

In den letzten Jahren hat SSC deutlich an Umfang und wirtschaftlichem wie politischem Gewicht gewonnen. Dennoch haben Entscheidungs- und Wissensträger im Süden noch kein einheitliches Verständnis entwickelt, was SSC eigentlich bedeutet. So fokussieren sich einige Verantwortliche in Lateinamerika und China auf die Bereitstellung staatlicher Gelder für Entwicklungsländer – ähnlich der klassischen „Entwicklungshilfe“. Andere – wie die indische Regierung – beharren auf einer umfassenderen Auslegung von SSC. Sie würden gern Technologietransfer, Handelserleichterungen, Friedensmissionen und private Investitionen und Darlehen einbeziehen. Aus ähnlichen Gründen haben Geber im Norden unlängst ihr Konzept zur Unterstützung von Entwicklungsländern um eine Kategorie erweitert: die „Öffentliche Gesamtleistung zur Förderung Nachhaltiger Entwicklung“ (Total Official Support for Sustainable Development – TOSSD), die auch private Geschäfte umfasst.

Lateinamerika sticht mit seinem einheitlichen Ansatz aus der Gruppe der SSC-Geber heraus. Das Iberoamerikanische Generalsekretariat veröffentlicht jährliche Berichte von SSC-Aktivitäten, die lateinamerikanische Regierungen auf Basis einheitlicher Definitionen und Berichtsmodalitäten abgeben. Jedoch beinhaltet SSC bei diesem Ansatz nur die technische Zusammenarbeit von Regierungen. Der Vorschlag Lateinamerikas, seinen Rahmen als Ausgangspunkt für einen globalen SSC-Bericht zu nutzen, wird von asiatischen Regierungen abgelehnt. Sie sind der Ansicht, die Vielfältigkeit von SSC-Ansätzen mache ein gemeinsames Monitoring derzeit unmöglich.

Bislang ist es dem Süden nicht gelungen, eine funktionierende Plattform für den Meinungs- und Erfahrungsaustausch einzurichten. Die lose Allianz von ca. 20 SSC-Gebern, die auf der Konferenz in New Delhi 2013 zusammenkamen, hat aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen von SSC keine greifbaren Ergebnisse erzielt. Die Vereinten Nationen schenken SSC zwar große Beachtung, konnten aber nicht bei der Überwindung dieser Differenzen helfen. Das UN-Forum für Entwicklungszusammenarbeit stellt in seiner Arbeit die SSC konsequent in den Vordergrund, jedoch ohne im Süden großes Interesse zu wecken.

Kann NeST die Heimat sein?

Mit dem kürzlich etablierten Network of Southern Think Tanks (NeST) ist ein starker Motor für eine Annäherung verschiedener SSC-Konzepte und -Methoden entstanden. Die Bildung dieses Netzwerks wurde auf einem Workshop des UN-Entwicklungsprogramms in Peking im März 2014 vorgeschlagen. Es gewann weiter an Profil am Rand des Treffens der Globalen Partnerschaft für wirksame Entwicklungskooperation in Mexiko später im Jahr und betrat die internationale Bühne auf der SSC-Konferenz 2016 in New Delhi. Die Hauptakteure von NeST sind Denkfabriken in Indien, China, Brasilien und Südafrika. Sie haben einen methodischen Rahmen für die SSC-Berichterstattung und  Wirkungsmessung erarbeitet, der derzeit in Fallstudien in China und Brasilien erprobt wird.

Aktuell kann die Süd-Süd-Kooperation ihr Potenzial als kollektive Kraft nicht voll entfalten, da lateinamerikanische und asiatische Geber nicht an einem Strang ziehen. Nur mit einem einheitlichen Verständnis von Konzepten, Zielen und Definitionen im Süden kann SSC uneingeschränkt zu den Zielen nachhaltiger Entwicklung, der Addis-Agenda und dem Pariser Klimavertrag beitragen. Der globale Wandel hin zu umfassender Nachhaltigkeit ist alternativlos. Deshalb brauchen die Regierungen des Südens, wie der Norden auch, einen neuen Ansatz für den Ausgleich nationaler Interessen und internationaler Solidarität. Insofern ist der Süden gut beraten, nationale Denkfabriken zu fördern, die gemeinsames Wissen schaffen und die Politik beraten können.

Mission impossible? Internationale Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technologie und Innovation für große Herausforderungen

Mon, 04/04/2016 - 10:22
Bonn, 04.04.2016. Viele der heutigen Herausforderungen wie der Klimawandel oder die Überfischung der Meere sind von globaler Bedeutung. Art, Reichweite, Umfang und Dringlichkeit zu handeln, verlangen erheblich mehr Anstrengungen in den Bereichen Wissenschaft, Technologie und Innovation (WTI), denn für viele dieser Probleme gibt es keine Lösungen von der Stange. Auch soziale Neuerungen sind nötig, damit Veränderungen der Lebensweise machbar und annehmbar werden. Mehr Investitionen in technische Forschung und Entwicklung (F & E) und abgestimmte, disziplinübergreifende Anstrengungen, auch in den Natur- und Sozialwissenschaften, sind erforderlich. Zudem müssen Ressourcen über Grenzen hinweg gebündelt werden, damit Lösungen der Bedeutung und Größe der Problemstellungen gerecht werden. Globale Innovationsanstrengungen kommen nur langsam voran. Weltweit stagniert das Verhältnis von Ausgaben für F & E zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) seit der Jahrhundertwende (2000–2013) mit einem Wachstum von nur 0,1 % weitgehend. Dabei hat die Innovationstätigkeit einzelner Weltregionen unterschiedlich zugenommen. In den USA hat sich der Anteil der F & E-Ausgaben praktisch nicht geändert (2000: 2,6 %, 2014: 2,8 %), in der Europäischen Union (EU) stagniert er bei unter 2 %. Drei Länder Asiens dagegen verzeichnen im gleichen Zeitraum einen deutlichen Anstieg: China gab im Jahr 2000 lediglich 0,9 % des BIP für F & E aus. Seitdem hat das Land seine Ausgaben bis 2014 auf 2,1 % mehr als verdoppelt. Ähnliches ist im gleichen Zeitraum in Korea (Zuwachs von 2,1 % auf 4,3 %) und in Japan (von 3,0 % auf 3,6 %) zu beobachten. Hinsichtlich des Einsatzes von WTI für globale Probleme besteht indes ein Dilemma: Die F & E-Ausgaben sind zwar gestiegen, doch hauptsächlich im Zuge industriepolitischer Maßnahmen und um nach einer Wirtschaftskrise Impulse zu geben. So ist das Ziel der EU, das Verhältnis von F & E-Ausgaben zum BIP auf 3 % anzuheben, in der Strategie „Europa 2020“ verankert, die primär Wachstum und Beschäftigung fördern soll. Das heißt nicht, dass auf Wirtschaftswachstum abzielende F & E nicht zur Lösung globaler Probleme beitragen kann. Beispielsweise hat die Förderung erneuerbarer Energien in Deutschland zu wirtschaftlichem Wachstum und zur Senkung des Kohlendioxidausstoßes beigetragen. Gleichwohl gibt es globale Aufgaben, bei denen Geschäftsmodelle noch zu riskant sind, um eine substanzielle Innovationsdynamik auszulösen. Daher kann nur die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen in vertretbarer Zeit verhindern, dass schwere humanitäre Krisen oder ökologische Kipp-Punkte erreicht werden. Einige Wissenschaftler befürworten eine Art neues Apollo-Programm, um Innovationen zur Bewältigung globaler Aufgaben zu forcieren. Die – nur schwer zu replizierende – Geschichte von Apollo zeigt, dass es generell nützlich ist, finanzielle, fachliche und personelle Ressourcen zu bündeln, um ein bestimmtes Ziel zu realisieren, das zunächst unerreichbar erschien. Unlängst haben viele Länder die Mission ihrer WTI-Politik neu ausgerichtet, manchmal als Folge großer Herausforderungen. Verglichen mit der klassischen Missionsorientierung haben die neuen Missionen einen klaren Fokus auf der Nachfrageseite und der Verbreitung von Innovationen, auf der Kohärenz mit anderen Politikfeldern und der Akzeptanz schrittweiser wie auch systemischer Neuerungen. Die strategische Stärke dieser neuen missionsorientierten Ansätze liegt in der Verbindung staatlicher Steuerung von WTI mit dem kreativen Potenzial etablierter und junger Unternehmen. In den USA, so wird berichtet, hat die kräftige staatliche Förderung von F & E bahnbrechende Erfindungen in der Energiespeichertechnik angestoßen. Analysiert man die Missionsorientierung und ihren möglichen Beitrag zur Bewältigung globaler Herausforderungen, stellen sich wichtige, einander beeinflussende Fragen: Inwieweit können technologische Missionen unabhängig von nationaler Industrie- und Verteidigungspolitik, multilateral strukturiert und eindeutig auf große Herausforderungen ausgerichtet sein? Lassen sich Finanzmittel so weit erhöhen, dass sie der Bedeutung und Notwendigkeit, auf solche Probleme zu reagieren, gerecht werden? Und wie können Entwicklungsländer mit kleinen F & E-Budgets in die Suche nach WTI-basierten Lösungen für globale Probleme eingebunden werden? Es wird schwer sein, staatliche Mittel für WTI von Zielen nationaler Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zu lösen, ohne die öffentliche Akzeptanz aufs Spiel zu setzen. Es ist Aufgabe der Wissenschafts- und Technikkommunikation und anderer Akteure, für eine Aufstockung der Mittel zur Bewältigung globaler Probleme zu werben. Ein Beispiel, das hier angefügt werden kann, ist das Montrealer Protokoll der Vereinten Nationen von 1987, durch das der Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre gestoppt werden konnte. Gerade bei internationaler Zusammenarbeit an globalen Problemstellungen ist es wichtig, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass multilaterale Allianzen über die klassischen Modelle hinausgehen und z. B. die neuen, in Sachen WTI treibenden Kräfte China und Korea einerseits und Entwicklungsländer andererseits einbeziehen müssen.

Das Hausrezept für eine bessere globale Ernährung?

Tue, 29/03/2016 - 12:07
29.03.2016. Die Frage der Ernährungssicherheit der Haushalte ist nicht einfach. Und das Rezept für eine Lösung noch komplexer. Im Januar 2016 veröffentlichte Oxford Medicine die dritte Auflage von „Nutrition for Developing Countries“. Diese wegweisende, im Themenfeld Ernährung anerkannte Publikation könnte die Sichtweise von Akteuren und ihr Herangehen an zentrale Fragen maßgeblich beeinflussen. Mit einfachen Worten wird erklärt, was gute Ernährung ist und wie arme Haushalte mit dem Wenigen, das sie haben, für ausreichende Ernährung sorgen können. Das Buch basiert auf den Erfahrungen internationaler Autoren mit praktischen Lösungsansätzen, die den Nährstoffbedarf von Säuglingen, Kindern, Schwangeren und Stillenden decken, Fehlernährung und Vitaminmangel entgegenwirken und Fettleibigkeit und Diabetes eindämmen. Ein wichtiger Abschnitt, das Kapitel 26, behandelt indes die völlig andere Frage: „Wie lässt sich die Ernährungssicherheit der Haushalte verbessern?“ Dass Ernährung und Ernährungssicherheit langsam zu einem Thema verschmelzen, ist eine gute Entwicklung, die aber fundiert und ausgewogen sein muss. Das bedeutet, dass beide Seiten versuchen, die Anliegen der jeweils anderen zu verstehen. Misslingt dies, kann das dazu führen, dass künftige Maßnahmen an den wahren Problemen vorbeigehen oder ungeeignete Lösungen versuchen. Kapitel 26 beschreibt, wie Haushalte in ländlichen und urbanen Räumen Nahrung in Haus- und Nutzgärten erzeugen können („kitchen gardening“). In solchen Gärten lässt sich eine Fülle saisonaler Gemüse, Früchte, Kräuter, Hülsenfrüchte und Knollen in kleinen Mengen anbauen: ein ganzjähriges Nahrungsangebot. Das Buch nennt mikronährstoffreiche Nutzpflanzen, deren Anbau an die Haushaltskasse angepasst werden kann. Und es bietet ein schlagendes Argument für integrierte Acker- und Viehwirtschaft, eine Kombination aus Pflanzenbau und Nutztierhaltung mit Hühnern, Enten, Kaninchen, Ziegen, Fischen usw. Sie deckt den Eiweißbedarf der Familie und liefert Produkte, die sich auf dem Markt verkaufen lassen.

Das Buch zeigt gangbare Wege, die Ernährung zu verbessern. Bedenklich ist jedoch, dass es als Hauptursache von Ernährungsunsicherheit einzig die wachsende Bevölkerung und Urbanisierung ansieht und die dominierende Bedeutung des wirtschaftlichen Zugangs zu Nahrung ignoriert. Ernährungs- und bevölkerungsrelevante Aspekte werden über-, Armut und andere Einflüsse auf den Zugang unterbewertet – eine ökonomisch und sozial kurzsichtige und politisch blinde Sichtweise. Ernährungsunsicherheit ist ein unübersichtliches Wechselspiel vieler, oft tief in Armut verwurzelter Kräfte. Armut ist das Ergebnis sehr niedriger (oder fehlender) Einkommen in weiten Teilen der Bevölkerung und/oder fehlender wirtschaftlicher Transferleistungen aus sozialen Netzen oder staatlichen Transfersystemen. Ohne andere Ursachen für Armut im ländlichen Raum wie den Mangel an Land und Wasser zu vernachlässigen, sind Einkommen in der Landwirtschaft niedrig, weil die Produktivität gering ist. In vielen armen Ländern erwirtschaften die Kleinbauern nur 15–30 Prozent des Möglichen. Das reduziert die Erzeugung für Eigenbedarf und Handel und damit die Möglichkeit, andere notwendige Produkte und Dienste wie Lebensmittel, Bildung, Gesundheit und Kommunikation einzukaufen. Überdies dämpfen niedrige Agrarumsätze und -einkommen das lokale Wirtschaftsleben, die Nachfrage nach Arbeitskräften und Betriebsmitteln, Lohnsteigerungen und nichtagrarische Aktivitäten. Sozial- und Bargeldtransfers fehlen in vielen armen Ländern, da die Mehrheit der Einwohner arm ist, vom informellen Sektor lebt, keine Steuern zahlt und keinen politischen Einfluss hat. Das ist Armut! Der Motor, der landwirtschaftliche Produktivität und Einkommen steigen lässt, ist oft ein besserer Marktzugang. Den erhalten Kleinbauern aber nur, wenn sie durch eine Intensivierung der Produktion ihre Erträge steigern können. Voraussetzung ist ein verstärktes Bemühen um z. B. Land, Wasser, Arbeitskräfte, biologische Ressourcen und Fachwissen. Kleinbauern, die überwiegend auf eigene Mittel wie Kompostierung, Düngung und Mehrebenen-Produktion setzen, haben in schwierigen Zeiten oft mehr Arbeit, als sie bewältigen können. Sie müssen Kräfte einstellen oder Maschinen kaufen – ohne zusätzliches Kapital unmöglich. Bareinnahmen aus Agrarproduktion setzen gute, kalkulierbare Marketingkanäle und einträgliche, stabile Preise voraus. Selbst wenn ein marktfähiger Überschuss erzielt wird, bleibt noch die Hürde, ihn zum Markt zu transportieren und zu konkurrenzfähigen Preisen zu verkaufen. Die Produkte konkurrieren mit denen anderer Anbieter, ob lokal oder international. Für Gemeinschaften in Randgebieten, die kaum Zugang zu Märkten haben, stellt das Einschleusen ihrer Erzeugnisse in Wertschöpfungsketten eine gewaltige Herausforderung dar. „Nutrition for Developing Countries“ zufolge gewährleistet häusliche Nutzpflanzenproduktion die Ernährungssicherheit der Haushalte. Diese These weicht jedoch dem drängenden Problem chronischer Armut in ländlichen Haushalten aus und spielt die Hürden auf dem Weg zum Marktzugang herunter. Die Frage der Ernährungssicherheit der Haushalte ist komplexer, als viele denken, und ihre Antwort ist es erst recht.

Was heißt das Pariser Klimaabkommen für die Wasserpolitik?

Tue, 22/03/2016 - 09:37
Bonn, 22.03.2016. Am 22. März findet zum 23. Mal der Weltwassertag der Vereinten Nationen statt, um auf die Bedeutung des Wassers für die Menschheit hinzuweisen. Es ist der erste Weltwassertag nach Verabschiedung der globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen im September 2015 und des Pariser Klimaabkommens im Dezember 2015. Zweifellos wird das Wasserziel (SDG 6)  im Mittelpunkt des diesjährigen Weltwassertags stehen. Was aber bedeutet das Klimaabkommen von Paris für die Wasserpolitik? Bislang wurde die lebenswichtige Bedeutung von Wasser und damit verbundene Zielkonflikte mit der Klimapolitik weitgehend ignoriert. Auf den ersten Blick spielt Wasser im Pariser Abkommen keine Rolle. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die Klimapolitik weitreichende Folgen für die Verfügbarkeit von Wasser und umgekehrt haben wird. Dies betrifft sowohl die Anpassung an den Klimawandel,- als auch die  Minderung von Treibhausgasemissionen. Das Pariser Abkommen hat erstmals die Stärkung von Kapazitäten zur Anpassung an den Klimawandel und die Steigerung der Widerstandsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel zum globalen Ziel erklärt. Damit wird der Anpassung an den Klimawandel nun derselbe Stellenwert wie dem Klimaschutz eingeräumt. Sowohl in der Klima- als auch in der Wasserpolitik wird jedoch oft ausgeblendet, dass Wasser das Medium ist, über das der Klimawandel sich am deutlichsten und unmittelbarsten auf unsere Lebensumstände und viele Wirtschaftszweige (z.B. Landwirtschaft, Energiewirtschaft, Tourismus) auswirkt. Gleich ob es sich dabei um die klimabedingte Zunahme von Dürren oder Überschwemmungen, um saisonale Veränderungen der Niederschläge, um die Verknappung lokal verfügbarer Wasserressourcen (z.B. durch das Abschmelzen von Gletschern) oder die Verschlechterung der Wasserqualität (z.B. die Versalzung von Süßwasservorkommen infolge des Meeresspiegelanstiegs) handelt. Wenn der Klimawandel Menschen veranlasst zu migrieren, dann weil dieser sich in vermehrten Dürren oder Überschwemmungen niederschlägt. Folglich muss sich die Wasserpolitik erstens auf die Zunahme von extremen Wetterereignissen, zweitens auf klimawandelbedingte Verknappungen sowie drittens auf qualitative Verschlechterungen der Ressource Wasser einstellen. Wichtige Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel im Wassersektor umfassen die Speicherung von Wasserressourcen durch Wälder, Feuchtgebiete oder künstliche Speicher, ein verbessertes Boden-Wasser-Management im Regenfeldbau oder auch den Hochwasserschutz. Gleichzeitig können andere Anpassungsmaßnahmen, wie der Ausbau der Bewässerungslandwirtschaft, selbst die Verfügbarkeit und Qualität von Wasserressourcen reduzieren. Noch weniger berücksichtigt wird bislang, dass auch Klimaschutzmaßnahmen mit einem hohen Wasserverbrauch einhergehen können. Das zentrale Ziel des Pariser Abkommens ist es, die langfristige Erderwärmung auf unter 2°C und möglichst auf 1,5°C zu reduzieren. Zu diesem Zweck sollen die Vertragsparteien schnellstmöglich eine Kehrtwende in Richtung einer klimaverträglichen Wirtschaft einleiten, um den Ausstoß der globalen Treibhausgasemissionen und ihren Abbau durch Kohlenstoff-Senken spätestens in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ins Gleichgewicht zu bringen. Fast alle Szenarien des Weltklimarates, in denen die Einhaltung der Grenze von 2°C Erwärmung als wahrscheinlich gilt, setzen in einem erheblichen Ausmaß auf Technologien mit negativen Emissionen, also solchen, die Kohlenstoffdioxid (CO2) aus der Atmosphäre in Kohlenstoffsenken binden. Zu Letzteren gehört beispielsweise die Aufforstung von Wäldern, aber auch die Bioenergie in Verbindung mit der Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid – sogenannte bioenergy with carbon capture and storage (BECCS). Bei BECCS wird zunächst Biomasse, z.B. Holz oder Pflanzen wie Mais, als Energieträger angebaut. Dann wird die Biomasse zur Energieerzeugung verbrannt. Diese beiden Schritte sind im Prinzip emissionsneutral. Schließlich wird das bei der Verbrennung freigesetzte CO2 technisch abgeschieden und gespeichert (sog. carbon capture and storage, CCS-Technologie). Somit soll Energie mit netto-negativen CO2-Emissionen erzeugt werden. Dabei werden Zielkonflikte zwischen Klimaschutz und Wasserschutz sichtbar. Insbesondere die Bioenergieproduktion, aber auch die CCS-Technologie verbrauchen erhebliche Mengen von Wasser, was insbesondere regionale Wasserknappheiten weiter verschärfen kann. Weiterhin stünde der massive Wasser- und Landverbrauch durch BECCS in Konkurrenz mit der Nahrungsmittelproduktion. Die Alternative zu BECCS ist lediglich ein schnellerer, radikalerer Umbau zu kohlenstofffreien Gesellschaften, da umgekehrt der Verzicht auf die Einhaltung der 2°C-Grenze (auch) wasserpolitisch vom Regen in die Traufe führen würde: eine wärmere Welt würde ebenfalls den Druck auf Wasserressourcen erheblich erhöhen.

Werden die Zielkonflikte zwischen Klimaschutz und Wasserschutz nicht rechtzeitig ernst genommen, drohte der Klimaschutz das Wasserziel (SDG 6) in Frage zu stellen. Das würde gleichsam andere Nachhaltigkeitsziele, die von einer ausreichenden Wasserverfügbarkeit abhängen, wie etwa „keine Hungersnot“ (SDG 2), „nachhaltige Städte und Gemeinden“ (SDG 11) und „Leben an Land“ (SDG 15) gefährden. Für die Wasserpolitik bedeutet dies, dass ein nachhaltiges Wasserressourcenmanagement im Sinne von SDG 6 nicht nur angesichts der Anpassung an den Klimawandel, sondern auch wegen des Klimaschutzes in Zukunft umso wichtiger wird. _ Dieser Beitrag wurde auch veröffentlicht auf dem Bonn Sustainability Portal.

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