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Stiftung Wissenschaft und Politik
Updated: 2 months 2 days ago

Die Ultraorthodoxen, Corona und die Grenzen staatlicher Autorität in Israel

Mon, 02/11/2020 - 00:00

Trotz eines staatlichen Verbots im Zuge der Corona-Pandemie sandte der in Israel führende Rabbiner der Charedim bzw. Ultraorthodoxen Chaim Kanievsky letzte Woche Zehntausende Religionsschüler zurück in die Schulen. Dieser in seiner Dimension beispiellose Vorfall zivilen Ungehorsams zeigt sowohl, dass die Charedim die staatliche Autorität bis heute nicht anerkennen, als auch das Maß an Autonomie, das sie sich in Israel erkämpft haben.

Der Staat Israel stieß in den letzten Wochen an seine Grenzen: In den ultraorthodoxen Städten wurde der strikte Corona-Lockdown oftmals nicht akzeptiert. Hochzeiten, Trauerfeiern oder religiöse Festivitäten – immer wieder kamen Hunderte oder sogar Tausende von Charedim zusammen. Gleichzeitig sah sich die Polizei nicht in der Lage, dem Einhalt zu gebieten, und musste die Versammlungen weitestgehend geschehen lassen.

Dies führte zu außergewöhnlich hohen Infektionszahlen: Bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von zwölf Prozent waren die Charedim für bis zu 40 Prozent der Corona-Fälle in Israel verantwortlich. Die ultraorthodoxen Städte verzeichneten Höchstwerte von 2500 Neuinfizierten auf 100 000 Einwohner bei den 7-Tages-Inzidenzen. Damit haben sie maßgeblich dazu beigetragen, dass Israel zeitweise die höchste Pro-Kopf-Infektionsrate weltweit hatte.

Misstrauen gegenüber dem Staat als Katalysator

Zu den Gründen für diese hohen Infektionszahlen gehört sicherlich, dass die Charedim ein stark kommunal verortetes Leben führen und dass ihre gemeinschaftlichen Aktivitäten – wie Thorastudium und Synagogenbesuch – in ihrer religiösen Weltsicht existentielle Pflicht sind.

Gleichzeitig zeigt sich aber darin auch das ambivalente Verhältnis der Charedim zum Staat Israel. Denn selbst wenn sie sich in den letzten Jahren stärker in den Staat integrierten, herrscht innerhalb der ultraorthodoxen Gemeinde bis heute das Narrativ vor, dass staatliche Politik gegenüber den Charedim das Ziel habe, diese ihrer Identität zu berauben und zwangsweise an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen. In diesem Sinne lehnen sie jede Einmischung in ihre Lebensweise ab. Die staatlichen Corona-Regeln werden in vielen ultraorthodoxen Gemeinden entsprechend interpretiert: Sie seien unverhältnismäßige Maßnahmen und nur ein weiterer Versuch, die Charedim von ihrem Lebensweg abzubringen. Diese Position wird vielfach zusätzlich mit dem Fingerzeig auf die säkularen Israelis gerechtfertigt, die die Maßnahmen auch nicht einhielten – etwa bei den Demonstrationen gegen Netanyahu.

Ultraorthodoxe Autonomie

Verschiedene Faktoren ermöglichen den Charedim diesen Widerstand gegen den Staat: Erstens der Einfluss ihrer politischen Parteien, die in den letzten 50 Jahren nur rund fünf Jahre nicht an der Regierung beteiligt waren. Insbesondere für Benjamin Netanyahu sind sie die wichtigsten politischen Partner, deren Loyalität er sich mit der Finanzierung und dem Schutz ihres Milieus sichert; auch verhindert er jedes härtere Vorgehen gegen sie. Das macht ihn allerdings erpressbar: Sichtbar wurde dies zuletzt, als der von der Regierung angedachte Lockdown nur Hotspots betreffen sollte, was vor allem ultraorthodoxe, aber auch arabische Städte waren. Auf Druck der ultraorthodoxen Parteien wurde der Lockdown aber auf das ganze Land ausgeweitet, weil die Charedim argumentierten, dass alles andere sie diskriminieren würde.

Zweitens die vom Staat zwar subventionierten, aber kaum kontrollierten, semi-autonomen Strukturen, die die Charedim über Jahrzehnte hinweg geschaffen haben: Sie haben eigene Gerichtshöfe, ein Schulsystem, einen weitgehend entkoppelten Wirtschaftskreislauf und territorial segregierte Viertel oder sogar Städte. Die weitgehende Geschlossenheit nach außen war daher auch schon vor der Pandemie Realität, und jede Einmischung etwa durch die Polizei war immer von Ablehnung begleitet.

Drittens schließlich die Mischung aus religiösen Überzeugungen, einer gewissen Renitenz und der Bereitschaft, dem Staat die Stirn zu bieten. Denn letztlich hat sich gezeigt, dass der Staat relativ machtlos gegenüber einer solchen unkooperativen Gruppierung ist, wenn er nicht massive Gewalt anwenden will. Ein härteres Vorgehen ist allerdings schwer vorstellbar. So fragte etwa ein israelischer Polizist resigniert, ob man mit Sturmtruppen in religiöse Grundschulen einmarschieren solle. Die Folge wäre wohl ein noch weiter eskalierender Konflikt.

Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte

Zwar sind die Corona-Fallzahlen in Israel wieder rückläufig, aber das ohnehin schon angespannte Verhältnis zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den Charedim hat sich über die Krise weiter verschlechtert. Fast täglich konnte man unisono in den nicht-ultraorthodoxen Medien wütende Meinungsbeiträge über das unsolidarische Verhalten ultraorthodoxer Gruppierungen lesen.

Dies geschieht im Kontext eines bereits bestehenden Kulturkampfes um ultraorthodoxe Sonderrechte, wie der staatlich alimentierten Erwerbslosigkeit zum Thorastudium bei rund 50 Prozent der Männer, der weitgehenden Wehrdienstbefreiung oder auch dem Einfluss der ultraorthodoxen Parteien auf das Verhältnis von Religion und Staat. Denn nicht zuletzt spielen die Charedim auch eine immer wichtigere Rolle bei der Frage nach der rechten Balance zwischen jüdisch und demokratisch und weiteren Aspekten, die den Charakter des Staates betreffen.

Allerdings gibt es auch immer mehr Charedim, die Kritik an der rabbinischen Führung und deren Handhabung des Pandemiegeschehens üben und für mehr Integration und Übernahme von Verantwortung im Staat plädieren.

Und so facht die gegenwärtige Diskussion einen bereits vorher aufgeheizten Aushandlungsprozess weiter an: Welche Rechte und Pflichten haben die Charedim im Staat, welche Rolle wollen sie darin spielen und inwiefern verändert sich auch ihre eigene Identität?

Da die Charedim bis 2040 wohl über 20 Prozent der israelischen Gesellschaft stellen werden, gehört diese Auseinandersetzung zu den wichtigsten gesellschaftlichen Dynamiken in Israel überhaupt.

Launch of Germany’s new global health strategy

Mon, 02/11/2020 - 00:00

Praised as ambitious by the government, criticised as a drop in the ocean by the opposition: Under the leadership of the Federal Ministry of Health, the German cabinet adopted its new global health strategy on 7 October. Compared to its predecessor from 2013, “Shaping Global Health – Taking Joint Action – Embracing Responsibility”, this strategy has made progress in critical areas. New topics and approaches have been included: the intersection of climate and health; human, animal, and environmental health are linked through the One Health approach; for the first time, occupational health and safety are considered health issues; and coordination mechanisms between the ministries responsible for global health have been expanded. However, the document lacks political foresight.

In Germany, the scientific community and civil society have been waiting a long time for the strategy to be updated. At the same time, expectations towards Germany are growing internationally, since key players have largely withdrawn from international health policy.  While the United States is dropping out of the World Health Organization (WHO), the United Kingdom’s commitment to global health is diminishing amidst Brexit and the domestic outbreak of COVID-19.

Why Germany needs a visionary strategy

The new global health strategy presented by the federal government is anchored in Germany’s value-oriented and multilateral foreign policy. Moreover, the strategy embeds health policy action within the United Nations 2030 Agenda for Sustainable Development, within partnerships – in particular with WHO and African countries – as well as within a human rights-based approach. According to the new strategy, health systems are to be strengthened globally, research for global health shall be expanded, and challenges such as Covid-19 are to be addressed. However, the strategy comes across as a stocktaking exercise full of vague statements that are hardly forward-looking.

If Germany wants to shape the global health landscape, an implementation of the strategy over the long term with a view to future developments is indispensable. Setting long-term objectives for global health policy would give Germany a clear international profile and make it easier to pool and align various health issues. Ultimately, having a clear objective would make it easier to produce concrete guidelines for action. This would, in turn, contribute to the strategy’s binding nature and verifiability. The German Parliament could take the lead in this, and the subcommittee on global health could monitor the strategy’s implementation process and review progress annually.

A call for an implementation of the global health strategy with foresight

Three elements could make the implementation of the federal government’s global health strategy more forward-looking: setting overarching goals, providing perspectives on future roles, and continuing current efforts. When compared internationally, Germany stands out for its global commitment to strengthen health systems, and it does not focus solely on infectious disease control, such as Covid-19, as does the United States. The overarching goal in implementing the strategy should therefore be to prevent future crises by focusing on resilient health systems. This would enable Germany to take future events into account and to think beyond conventional health crises such as pandemics. Upcoming challenges – namely global mental health crises, with increasing incidences of depression and trauma; a worldwide shortage of health workers with serious consequences for standard care; and conflicts in the global health economy, where patent protections for medicines and the diversification of supply chains are under discussion – can already be considered when implementing the strategy.

Where does Germany, the EU, and WHO want to be in 10 years, and where should they be? Germany can find answers to those questions when implementing its strategy, thereby providing incentives for others and contributing to the international debate. This would eventually result in concrete proposals for shaping international health governance. Within the global health landscape, Germany could see itself even more as a cornerstone of the European order and support the EU in its global health policy in the long run. The EU could potentially take a clear stance on global health via a new strategy and strategic unit for global health within the European External Action Service. Internationally, the EU could improve its position through its partnership with the African Union, and it could gain a more influence within WHO by going beyond mere observer status. A WHO office in Germany could not only support national health policy, but also demonstrate Germany’s commitment to expanding WHO structures – a continuation of Germany’s strategy could provide the impetus for this.

Through national export bans and border closures, the pandemic revealed the role of Germany’s health policy within the international context. The German government should take this into account when implementing the strategy. It should also think ahead about an action plan for health that links domestic and foreign policy more closely.

It is not too late to strengthen the implementation of the strategy using an action plan with political foresight. The German government and Parliament should use this opportunity to successfully implement the strategy in order to strategically shape global health.

Kartenspiele in Kaschmir

Fri, 30/10/2020 - 00:00

Die politische Geographie Kaschmirs hat sich in den letzten Monaten grundlegend ver­ändert. Ausgangspunkt war die Entscheidung der indischen Regierung vom 5. August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir in zwei Unionsterritorien aufzuteilen. In Reaktion darauf veröffentlichte Islamabad am 4. August 2020 eine Karte, die ganz Kaschmir als Teil Pakistans darstellte. Ende September 2020 kündigte die chinesische Regierung den bisherigen Status quo mit Indien in der Region Ladakh/Aksai Chin auf. Damit deutet sich eine neue Phase im Konflikt um Kaschmir an, in der China und Pakis­tan enger zusammenarbeiten könnten. Zudem wird der Konflikt um eine neue geo­politische Dimension erweitert, denn die Auseinandersetzung mit Indien ist für China jetzt auch Teil des Ringens mit den USA um die künftige Machtverteilung im Indo-Pazifik.

Welche Reform die Bundeswehr heute braucht – Ein Denkanstoß

Fri, 30/10/2020 - 00:00

Spätestens seit dem sicherheitspolitischen Epochenjahr 2014 (Russlands Annexion der Krim) und den Nato-Beschlüssen von Wales, zuvor aber schon mit dem Strategischen Konzept des Nato-Gipfels von Lissabon 2010 rückte die kollektive Verteidigung wieder in den Mittelpunkt der Bündnisanstrengungen. Der Nordatlantikrat stellte sie gleich­rangig neben die weltweiten Einsätze zur Krisenintervention. Ungeachtet dessen wurde in Deutschland die Organisation der Bundeswehr 2011 noch stärker auf inter­nationales Krisenmanagement als Schwerpunkt ausgerichtet. Erst mit dem Weißbuch 2016 und der Konzeption der Bundeswehr 2018 erfolgte politisch die notwendige Korrektur. Wesentliche Auswirkungen auf die zuvor eingenommenen Strukturen sind bislang noch nicht erkennbar, wohl aber Fehlentwicklungen. Deshalb sollte jetzt mit den erforderlichen Veränderungen begonnen werden.

A European Economic Policy in the Making

Thu, 29/10/2020 - 00:00

Although the roots of the European Union lie in economic integration, the EU’s economic policy competences and possibilities are narrowly limited in European primary law. Nevertheless, the influence of the EU, and in particular the European Commission, on economic policies of the member states is clearly visible and tangible.

The focus of European economic policy is on the coordination of member state policies by the European Commission. It uses strategic planning in­struments such as 10-year strategies, guidelines, and reform recommen­dations, which it bundles within the European Semester.

European economic policy-makers are actually faced with the task of limiting the acute socio-economic consequences of the Covid-19 pandemic on the one hand, and finding answers to the structural challenges posed by globalisation, digitisation, and climate change on the other. A com­mon European economic policy is becoming increasingly necessary, and expectations are growing.

The European Commission is trying to combine these two tasks – the stimulation of the European economy and the sustainable transformation of national economies – with the new European recovery fund “Next Generation EU”. The European Green Deal will become the guiding prin­ciple for both economic policy coordination and economic policy at the national level.

This reorientation of European economic policy towards sustainable and decarbonised growth will promote the Europeanisation and, in the long term, the unitarisation of national economic policies.

 

 

Chile auf dem Weg zu einer neuen Verfassung

Wed, 28/10/2020 - 00:00

Die profunde Unzufriedenheit der chilenischen Bevölkerung mit der tradierten Politik und der geltenden Wirtschaftsordnung hatten seit Oktober 2019 zu Demonstrationen und gewaltsamen Ausschreitungen in der Andenrepublik geführt. Im Ergebnis einigten sich die traditionellen politischen Parteien auf ein »Übereinkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung«, das unter anderem die Durchführung eines bindenden Referendums über die Eröffnung eines Verfassungsprozesses vorsah.

Am letzten Sonntag nun stimmten 78,27 Prozent der Wählerinnen und Wähler dafür, dass das Land eine neue Verfassung erhält. Diese soll, auch dafür hat sich mit 78,99 Prozent eine deutliche Mehrheit ausgesprochen, eine direkt gewählte Verfassungsgebende Versammlung erarbeiten. Damit werden viele der zivilgesellschaftlichen Forderungen, die im Zuge der Demonstrationen erhoben wurden, institutionell aufgegriffen und diskutiert. Dass nur rund 51 Prozent der Wählerschaft an die Urnen gingen und sich damit der Trend niedriger Wahlbeteiligung seit der Abschaffung der Wahlpflicht fortsetzt, macht zugleich sichtbar, wie groß die Verdrossenheit gegenüber Parteien und institutionalisierter Politik ist. Bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung werden die Chileninnen und Chilenen noch zweimal um ihre Stimmabgabe gebeten: im April 2021 für die Wahl der Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung sowie voraussichtlich Ende 2022 für die Entscheidung über den neuen Verfassungstext. Bei diesem so genannten Ausgangsreferendum wird im Unterschied zum Eingangsreferendum vom 25. Oktober die Wahlpflicht gelten. Sollte es zu einem Votum gegen den neuen Text kommen, bleibt die aktuelle Verfassung in Kraft.

Hohe Erwartungen an einen normativen Rahmen

Die Verfassungsgebende Versammlung wird sich unter anderem mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Politik, von Wirtschaft und Staat sowie privatem und öffentlichem Sektor auseinandersetzen müssen. Auch die Anerkennung von Minderheiten und die Ausweitung von Rechten, etwa die Einführung von Sozialrechten oder des Rechts auf eine saubere Umwelt, werden Thema sein. Die Chance ist groß, dass daraus ein neuer Gesellschaftsvertrag mit großer Ursprungslegitimität hervorgeht – anders als beim geltenden Verfassungstext, der zwar mehrere demokratisierende Reformen erfahren hat, jedoch unter der Pinochet-Diktatur entstand. Doch eine neue Verfassung allein wird Chile nicht in den demokratischen und sozialen Rechtsstaat verwandeln können, nach dem sich so viele sehnen. Sie kann nur den normativen Rahmen schaffen, in dem pluralistischere und inklusivere Aushandlungsprozesse innovative Sozial- und Wirtschaftspolitiken hervorbringen können. Hierzu müssen die etablierten Eliten aber bereit sein, ihre Privilegien aufzugeben, Kompromisse zu machen, Konflikte auszuhalten und sich mutig auf ergebnisoffeneren politische Verfahren einzulassen. Mit Blick auf andere Beispiele aus der Andenregion hat der chilenische Kongress vorsorglich gesetzgeberisch die Gefahr ausgeräumt, dass die Verfassungsgebende Versammlung durch Selbstermächtigung eine umfassende Volkssouveränität für sich beansprucht oder der verfassungsgebende Prozess thematisch wie zeitlich aus den Fugen gerät. Auch ist festgelegt worden, dass Chile eine Republik bleibt sowie ratifizierte internationale Verträge und rechtskräftige Urteile Geltung behalten.

Große Herausforderungen im Prozess

Um zu verhindern, dass der Verfassungsprozess das Land lange lahmlegt, hat der Kongress einen sehr straffen Arbeitsplan aufgestellt: Die Verfassungsgebende Versammlung wird neun bzw. maximal zwölf Monate lang tagen dürfen. Da der neue Verfassungstext »auf dem weißen Blatt« – also ohne vorausgehende Verfassungsentwürfe oder konkrete, umfassende Verfassungsprojekte als Grundlage – entsteht, ist der Zeitdruck allerdings immens. Dies einmal mehr, als für die Annahme der Beschlüsse stets eine aufwendig zu beschaffende Zweidrittelmehrheit erforderlich ist.

Bis Chile eine neue Verfassung hat, werden nichtsdestotrotz noch gut zwei Jahre vergehen, da die Verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit laut Plan erst im Mai 2021 aufnimmt. So lange muss Chile aber weiterregiert werden. Präsident Sebastián Piñera, dessen Regierungskoalition in der Verfassungsfrage gespalten war, bemühte sich zuletzt um eine positive Leseart des Plebiszits im Sinne einer Stärkung der chilenischen Demokratie und versprach bedeutende politische Reformen unabhängig vom Verfassungsprojekt. Dennoch wird es eine große Herausforderung für seine Regierung sein, Erwartungsmanagement entlang des Verfassungsprozesses zu betreiben und Chile durch die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im November 2021 zu führen – während die Verfassungsgebende Versammlung noch tagt. Ein erneuter Ausbruch von Gewalt sollte unbedingt vermieden werden.

Der Verfassungsgebenden Versammlung wird ihrerseits die gewaltige Aufgabe zukommen, für die Inklusion zu sorgen, die die meisten Bürgerinnen und Bürger Chiles in zahlreichen Bereichen vermissen. Während dank des ausordentlichen Engagements der Frauenbewegung die Genderparität für die Verfassungsgebende Versammlung bereits festgeschrieben ist, wird im Kongress noch über die Beteiligung von Indigenen und unabhängigen Kandidatinnen und Kandidaten diskutiert. Neben der physischen Vertretung verschiedener Gesellschaftsgruppen (deskriptive Repräsentation) ist aber auch deren inhaltlicher Einfluss (substantive Repräsentation) im Gremium für eine gelingende Beteiligung unabdingbar. Hierfür ist es notwendig, dass die Verfassungsgebende Versammlung Mechanismen zur Kommunikation mit der Zivilgesellschaft etabliert; im Zuge der Proteste sind im letzten Jahr zahlreiche Dialogforen entstanden, die einen Beitrag zum Verfassungsprozess leisten möchten.

Eine Parteienstunde der anderen Art

Viele der Vorzüge, die der chilenischen Demokratie in den letzten Dekaden aus guten Gründen zugeschrieben wurden, sind einem stark strukturierten Parteiensystem mit hoch institutionalisierten und an Konsens orientierten politischen Parteien zu verdanken. Dieses Modell begann zu versagen, als die Stabilität zur Starre wurde und sich die politischen und ökonomischen Eliten, unter anderem aufgrund von Oligarchisierungstendenzen und Korruption, zunehmend von der breiten Gesellschaft abkoppelten. Diese verlor die Geduld und äußerte ihren Unmut im letzten Jahr massiv auf den Straßen. Auch im verfassungsgebenden Prozess werden die politischen Parteien ausschlaggebend sein. Es ist zu hoffen, dass sie die dringende Notwendigkeit erkennen, sich neuen Akteuren, Anliegen und Anschauungen zu öffnen, damit sie zentrale Instanzen auch des künftigen politischen Systems Chiles bleiben können.

Maghrebinischer Wettstreit um Subsahara-Afrika

Tue, 27/10/2020 - 00:00

Die Covid‑19-Pandemie hat die Beziehungen zu Subsahara-Afrika weit oben auf die magh­rebinische Agenda gesetzt und damit bestehende Tendenzen verstärkt. Marokko hat unter den Maghreb-Staaten die profilierteste Subsahara-Politik vorzuweisen. Eine Rolle spie­len dabei attraktive Wachstumsmärkte in Afrika, Frustration über den be­schränkten Marktzugang in Europa, die Perspektivlosigkeit der Integration im Magh­reb und der Wunsch, die Westsahara möge als marokkanisch anerkannt werden. Marokkos Subsahara-Politik hat Spannungen mit Algerien verschärft und in Tunesien eigene Ambitionen geweckt. Algier als wichtiger Financier und sicherheitspolitischer Akteur in der Afrikanischen Union (AU) sowie »Schutzmacht« der Unabhängigkeitsbewegung der Westsahara versucht, Rabat auszubremsen. Tunis dagegen setzt auf Nach­ahmung und erhofft sich von engeren Beziehungen zu Afrika mehr Wirtschafts­wachstum. Die Europäische Union (EU) sollte diese Tendenzen als Chance für afrikanische Integration und tri­anguläre EU-Maghreb-Subsahara-Kooperationen verstehen. Dies könnte Marokkos hegemoniale Ansprüche relativieren, Algeriens Gefühl des Bedeutungsverlusts ent­gegenwirken und Tunesiens Wirtschaft stärken – und damit negative Dynamiken des Wettstreits entschärfen.

Startschuss für die neue globale Gesundheitsstrategie Deutschlands

Wed, 21/10/2020 - 00:20

Gepriesen von den Regierungsfraktionen als ambitioniert, kritisiert von der Opposition als Tropfen auf dem heißen Stein: Am 7. Oktober hat das Bundeskabinett unter Federführung des Bundesgesundheitsministeriums seine neue globale Gesundheitsstrategie verabschiedet. Diese hat sich im Vergleich zu ihrer Vorgängerin aus dem Jahr 2013 mit dem Titel »Verantwortung – Innovation – Partnerschaft: Globale Gesundheit gemeinsam gestalten« in entscheidenden Punkten weiterentwickelt. Neue Themenbereiche wie der Zusammenhang zwischen Klima und Gesundheit wurden aufgenommen; die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt wird durch den One-Health-Ansatz verknüpft; Arbeitsschutz wird zum ersten Mal als Thema für den Gesundheitsschutz betrachtet – und Koordinierungsmechanismen zwischen den für globale Gesundheit zuständigen Ressorts wurden erweitert. Doch fehlt es in dem Regierungsdokument an politischer Vorausschau.

In Deutschland haben Wissenschaft und Zivilgesellschaft lange auf die Aktualisierung der Strategie gewartet. Und auch international steigen die Erwartungen an Deutschland. Denn zentrale Akteure haben sich weitgehend aus der internationalen Gesundheitspolitik verabschiedet. Die USA treten aus der WHO aus und das Engagement Großbritanniens für globale Gesundheitsthemen lässt im Zuge der Brexit-Debatte und des Covid-19-Ausbruchs im eigenen Land immer mehr nach.

Warum Deutschland eine visionäre Strategie braucht

Die vorgelegte globale Gesundheitsstrategie fußt auf der werteorientierten und multilateralen Außenpolitik Deutschlands, wodurch sie ein solides Fundament hat. Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, Partnerschaften insbesondere mit der WHO und afrikanischen Ländern sowie eine menschrechtsbezogene globale Gesundheitspolitik werden als Rahmen für gesundheitspolitisches Handeln bestimmt. Der neuen Strategie zufolge sollen Gesundheitssysteme global gestärkt, die Forschung für globale Gesundheit ausgebaut und Herausforderungen wie Covid-19 begegnet werden. Allerdings wirkt sie dabei wie eine Bestandsaufnahme. Die Aussagen bleiben an vielen Stellen unkonkret und wenig zukunftsorientiert.

Doch um die globale Gesundheitslandschaft weiterzuentwickeln, ist eine zukunftsgerichtete Umsetzung der Strategie erforderlich. Eine solche gesundheitspolitische Zielsetzung würde Deutschland ein klares internationales Profil verleihen und die vielfältigen Gesundheitsthemen leichter bündeln und ausrichten lassen. Aus einer klaren Zielrichtung lassen sich letztlich besser konkrete Handlungsanweisungen ableiten, was wiederum zur Verbindlichkeit und Überprüfbarkeit der Strategie beiträgt. Der Bundestag kann bei einem Mechanismus zur Überprüfung der Strategie federführend sein. Der Unterausschuss für globale Gesundheit im Bundestag könnte die Durchführung der Strategie begleiten und den Fortschritt jährlich prüfen.

Für eine Umsetzung der globalen Gesundheitsstrategie mit Vorausschau

Der Gesundheitsstrategie der Bundesregierung ließe sich durch die folgenden drei Elemente eine Zukunftsorientierung geben: Durch eine übergreifende Zielsetzung, durch Perspektiven für die künftigen Rollenbilder und durch die Weiterführung aktueller Impulse. Deutschland zeichnet im internationalen Vergleich aus, dass es sich global für die Stärkung von Gesundheitssystemen einsetzt und nicht – wie die USA – einen Fokus nur auf die Eindämmung von Infektionskrankheiten wie Covid-19 legt. Daher sollte das übergeordnete Ziel in der Umsetzung der Strategie sein, künftigen Krisen durch resiliente Gesundheitssysteme zuvorzukommen. Damit würde Deutschland zukünftige Ereignisse bereits heute berücksichtigen und hätte so die Möglichkeit, über herkömmliche Gesundheitskrisen wie Pandemien hinauszudenken. Kommende Herausforderungen wie globale Krisen der mentalen Gesundheit mit einer steigenden Bedeutung von Depression oder Traumata, ein weltweiter Mangel an Gesundheitsfachkräften mit schwerwiegenden Folgen für die Regelversorgung oder Konflikte in der globalen Gesundheitswirtschaft, bei denen Patentschutz für Heilmittel und die Diversifizierung von Lieferketten zur Diskussion stehen, können so bereits jetzt in der Umsetzung der Strategie mitberücksichtigt werden.

Wo will und sollte Deutschland, die EU oder die WHO in zehn Jahren sein? Auf solche Fragen kann Deutschland in der Umsetzung seiner Strategie Antworten finden, damit Anregungen geben und international Akzente setzen. Denn hieraus ergeben sich konkrete Vorschläge, um die internationale Gesundheitsordnung zu gestalten. Deutschland könnte sich in der globalen Gesundheitslandschaft noch mehr als Baustein der europäischen Ordnung verstehen und die EU langfristig in ihrer globalen Gesundheitspolitik unterstützen. Ein zukünftiges Rollenbild der EU könnte vorsehen, dass die Union eine klare Haltung in globaler Gesundheit hat – durch eine neu aufgelegte Strategie und ein strategisches Referat für globale Gesundheit im Europäischen Auswärtigen Dienst. Sie verbessert ihre Position international durch die Partnerschaft mit der Afrikanischen Union und einen einflussreicheren Status in der WHO, der über die reine Beobachtung hinausgeht. So könnte ein WHO-Büro in Deutschland nicht nur die nationale Gesundheitspolitik unterstützen, sondern auch international zeigen, dass Deutschland sich für den Ausbau der WHO-Strukturen einsetzt. Für all das kann die Weiterführung der deutschen Strategie mit konkreten Maßnahmen Anstöße geben.

Schließlich offenbarte die Pandemie durch nationale Exportstopps oder Grenzschließungen, dass deutsche Gesundheitspolitik mit der internationalen Ebene verwoben ist. Diese Erkenntnis sollte die Bundesregierung in der Umsetzung berücksichtigen und innerhalb eines Aktionsplanes weiterdenken, in dem die Innen- und Außenpolitik auf gesundheitspolitischem Gebiet stärker miteinander verbunden werden.

Es ist noch nicht zu spät, die Umsetzung der vorgelegten Strategie durch Aspekte politischer Vorausschau mit Hilfe eines Aktionsplans zu stärken. Die Bundesregierung und das Parlament sollten das aktuelle Handlungsfenster für eine erfolgreiche Umsetzung der Strategie nutzen, um globale Gesundheit mit Blick in die Zukunft strategisch zu gestalten.

Dieser Text ist auch bei euractiv.de erschienen.

Die Charedim als Herausforde­rung für den jüdischen Staat

Wed, 21/10/2020 - 00:10

In Israel wogt ein Kulturkampf: um die Identität des Staates, seine Leit­normen, das Verhältnis von Religion und Staat und generell um die Frage, was Jüdischsein im »Staat der Juden« bedeuten soll.

Gestritten wird zwischen Ultraorthodoxen bzw. Charedim und der übri­gen israelischen Bevölkerung, wobei sich der Anteil der Ersteren daran seit 1980 von vier auf zwölf Prozent verdreifacht hat und bis 2040 auf über 20 Prozent ansteigen dürfte. Das hat Folgen für die Debatte.

Die Weltanschauung der Charedim steht jener der Mehrheitsbevölkerung häufig diametral entgegen. Sie akzeptiert als Grundlagen jüdischen Lebens und jüdischer Identität nur die Thora und die religiösen Gesetze (Halacha), ist ihrem Wesen nach antidemokratisch, setzt auf hierarchische Gesellschaftsstrukturen mit Rabbinern an der Spitze und ist weit­gehend azionistisch.

Dennoch sind die Charedim auf den Staat und seine Institutionen an­gewiesen, wollen sie ihre Lebenswelt bewahren. Ihre (wachsende) »Gesellschaft der Lernenden« mit vom Wehrdienst befreiten und auf Erwerbs­arbeit verzichtenden Thoraschülern muss finanziert, das Bildungssystem als zentrale Säule der Ultraorthodoxie vor Eingriffen von außen geschützt werden. Das lässt sich nur über Beteiligung am demokratischen Prozess erreichen.

Die charedischen Parteien bewegen sich daher in einem Spannungsfeld aus Rückzug und Einflussnahme: Sie versuchen – neben dem Milieuschutz – einerseits, als »Verteidiger des jüdischen Charakters des Staates« Tendenzen entgegenzuwirken, die ihrer Vorstellung des Judentums ent­gegenlaufen, und andererseits, religionsrechtlichen Prinzipien mehr Gel­tung in Staat und Gesellschaft zu verschaffen. Dieser Gestaltungswille ist neu.

Die Charedim verändern Staat und Gesellschaft und werden dadurch selbst verändert. Die innergemeinschaftlichen Antworten darauf reichen von Plädoyers für Isolation über den Wunsch nach Integration in den Staat bis hin zu Forderungen nach dessen Übernahme.

Für die internationalen Partner Israels wird der zunehmende Einfluss der Charedim für größeren Verhandlungsbedarf sorgen, insbesondere wenn ein Anliegen liberale und emanzipatorische Werte betrifft.

Die Strategische Partnerschaft zwischen Georgien und den USA: Vision gesucht

Wed, 21/10/2020 - 00:00

Spätestens seit der Präsidentschaft Micheil Saakaschwilis hat die politische Führung in Georgien eine möglichst enge Anbindung des Landes an die USA und damit dessen geopolitische Verortung im »Westen« verfolgt. Seit 2009 strukturiert eine Strategische Partnerschaft die Kooperation.

Donald Trumps Politik des »America First« sowie eine angeblich weniger amerikafreundliche politische Führung in Georgien ließen Fragen über den Zustand des bilateralen Verhältnisses laut werden.

Einerseits sind die Beziehungen weiterhin eng, wurden in den letzten Jahren noch intensiviert und spielen für Tbilisi eine wesentliche Rolle. Andererseits verbinden die beiden Partner nicht überall dieselben Erwartungen, Funktionen und Prioritäten mit der Strategischen Partnerschaft.

Die USA legen einen Schwerpunkt auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie entsprechende Reformen in Georgien. Die georgische Seite kon­zentriert sich auf den Bereich Sicherheit und Verteidigung sowie zunehmend auch Wirtschaft und Handel.

Das größte Hindernis für eine weitere Vertiefung der georgisch-amerika­nischen Beziehungen liegt jedoch darin, dass die USA keine strategische Vision für Georgien und die Region besitzen.

Diese strategische Leerstelle setzt Tbilisis Bestrebungen Grenzen, seine eigene imaginierte Geographie in Washington zu verankern. Ohne klare Strategie der USA schreibt die Strategische Partnerschaft Georgiens Liminalität, den Schwebestatus zwischen »Ost« und »West«, fort. Darin ähnelt sie dem Assoziierungsabkommen Georgiens mit der EU.

German Armed Forces Approaching Outer Space

Tue, 20/10/2020 - 00:00

With the establishment of the Air and Space Operations Centre (ASOC), the Bundes­wehr is bringing together several capacities in one central facility. What sounds like science fiction at first glance is a necessary response to the growing military impor­tance of space as an operational dimension. Space operations will not become part of everyday life overnight. In the medium to long term, however, the new centre offers opportunities for multidimensional integration that could prove to be a driver of innovation for the armed forces as a whole. In order to exploit this potential, addi­tional personnel and structural adjustments are necessary.

Frühtod eines Abkommens? Das EU-Mercosur-Abkommen droht an fehlendem Vertrauen zu scheitern

Fri, 16/10/2020 - 00:10

Es war eine Vereinbarung, die der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beim G20-Gipfel 2019 als historisch bezeichnete. Die EU und die Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay wollten die weltweit größte Freihandelszone mit rund 800 Millionen Einwohnern schaffen. Das bislang umfangreichste von der EU vereinbarte Abkommen sollte jährlich Zollabgaben in Höhe von vier Milliarden Euro einsparen. Nun wurde der Handelsvertrag nach 20 Jahren Verhandlungen zwischen der EU und dem südamerikanischen Staatenbund auf Eis gelegt. Das Europäische Parlament hat am 7. Oktober mit 345 zu 295 Stimmen deutlich gemacht, dass es das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen in seiner jetzigen Fassung nicht für annahmefähig hält.

Ohnehin hat sich gegen den Vertrag mittlerweile eine breite Front gebildet: Neben die europäischen Agrarlobbyisten, die billige Konkurrenz aus Brasilien und Argentinien fürchten, sind die Verteidiger des Amazonas-Regenwalds getreten. Sie bemängeln die im Handelsvertrag fehlenden Sanktionen bei Verstößen gegen das Pariser Klimaabkommen und wollen eine Vertragsformulierung, die eine Aussetzung des Abkommens ermöglicht, wenn Umwelt- und Klimaregeln missachtet werden. Im Vertrag soll diese Schutzbestimmung der Achtung der Menschenrechte und der Wahrung der Demokratie rechtlich gleichgestellt werden.

Widerstand auf nationaler und europäischer Ebene

Daneben haben die Parlamente in Österreich, den Niederlanden und der belgischen Region Wallonie mit ihrer Ablehnung bereits Pflöcke eingerammt, die eine Ratifizierung durch die Parlamente der EU-Mitgliedstaaten wenig aussichtsreich erscheinen lassen. Auch die deutsche Bundeskanzlerin hat »ernste Zweifel« angemeldet, so dass davon auszugehen ist, dass der Vertrag in seiner jetzigen Fassung nicht nur im Europäischen Parlament, sondern auch bei den Mitgliedstaaten und im Europäischen Rat nicht mehrheitsfähig ist.

Im Zentrum der Kritik steht dabei insbesondere die Umweltpolitik des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, die zu massiven Bränden im Amazonas geführt hat. Die französische Regierung sprach sogar davon, dass es um die »Disziplinierung der Praktiken der Mercosur-Länder« gehe, um fortschreitende Entwaldung, die weitere Ausdehnung der Flächen für Rinderzucht sowie Verlust an Biodiversität und negative Klimafolgen zu verhindern. Brasilien beharrt derweil auf seine nationale Souveränität über den Amazonas. Hinter den Protesten gegen seine Politik vermutet Bolsonaro eine Verschwörung europäischer und brasilianischer NGOs. Nicht zuletzt würden sich dahinter protektionistische Interessen Europas, insbesondere der französischen Agrarlobby, verbergen.

Demgegenüber sind die Stimmen von Unterstützern des Handelsvertrages auf beiden Seiten des Atlantiks gegenwärtig kaum zu vernehmen. Vor allem Unternehmerverbände sowie die Regierungen Paraguays und Uruguays sprechen sich nach wie vor für die Vereinbarung aus, während Argentiniens Regierung angesichts der Verwerfungen der Corona-Krise und der leeren Staatskassen eine distanzierte Loyalität zum Vertragsentwurf zeigt, da sie eine Marktöffnung eher kritisch einschätzt. Doch reichen Verlautbarungen mit Unterstützungserklärungen nicht aus, wenn die weltweit größte Freihandelszone geschaffen werden soll.

Ein ernsthafter Dialog erfordert vertrauensbildende Maßnahmen

Heute stehen die Vertragsparteien vor der Alternative, entweder das Abkommen nachzuverhandeln oder ganz aufzugeben. Letzteres wäre sicherlich die schlechteste Option, da Europa ohne Abkommen noch weniger Einfluss auf die Umweltpolitik in den Mercosur-Staaten nehmen könnte. Zudem würde die Region vollkommen China als wichtigstem Handelspartner überlassen. Die EU würde sich damit in Lateinamerika insgesamt aus dem Spiel nehmen, nicht zuletzt auch mit Hinblick auf die gleichzeitig zur Ratifizierung vorliegende Modernisierung des Handelsabkommens mit Mexiko, bei der vergleichbare Vorbehalte hinsichtlich ungenügender Umsetzung von Rechtsstaats- und Umweltstandards zu erwarten sind.

Allerdings könnten als Rückfallposition bilaterale Einzelvereinbarungen mit den Partnerländern des Mercosur angestrebt werden. Der jetzt vorliegende Text des Vertrages könnte als Vorlage dienen, um schnell zu Vereinbarungen zu gelangen, die eine Inhaftnahme der Nachbarländer Brasiliens für Bolsonaros verfehlte Umweltpolitik vermeiden würden. Indes stehen dieser Option die bisherige Präferenz der EU-Kommission für einen regionalen Zuschnitt bei Freihandelsabkommen entgegen, wie auch Mercosur-interne Regelungen, die keine individuellen Freihandelsabkommen gestatten. Gegenwärtig scheint es keine Bereitschaft zu geben, diese Positionen aufzugeben und die bestehenden Hindernisse zu beseitigen.

So bleibt letztlich nur die Option, die Partner in Lateinamerika zu Zugeständnissen in den Umweltfragen zu bewegen – etwa in Anlehnung an die gemeinsame Erklärung, die die EU und Südkorea zur Ergänzung ihres Freihandelsabkommens mit Bezug auf arbeitsrechtliche Regelungen abgegeben haben. Indes scheint auch dieser Weg verstellt: Die Verlässlichkeit der Partner, dass vertragliche Regelungen eingehalten werden, steht in Frage, wenn diese nicht mit Sanktionen versehen sind. Den Regierungen in Buenos Aires, Brasilia, Paris und Berlin fehlt es an gegenseitigem Vertrauen. Daher sind sie gegenwärtig nicht bereit, politische Kosten für eine Verabschiedung des Abkommens zu übernehmen – oder befürchten einen Gesichtsverlust bei möglichen Nachverhandlungen einer verpflichtenden Umweltklausel. Notwendig sind daher von beiden Seiten vertrauensbildende Maßnahmen, die bestehende Animositäten ausräumen und Grundlagen für einen ernsthaften Dialog schaffen, bevor sich das politische Panorama mit den Wahlen in Deutschland (2021) und Frankreich (2022) wieder neu konstituiert. Es gibt nur ein kurzes Zeitfenster, das für politische Initiativen genutzt werden sollte.

Die schwierige Normalisierung der Beziehungen arabischer Staaten mit Bashar al‑Assad

Fri, 16/10/2020 - 00:00

Während der syrische Bürgerkrieg zugunsten des Regimes von Präsident Bashar al‑Assad entschieden scheint, haben der Prozess und die Debatte über die Normalisierung der Beziehungen arabischer Länder mit Syrien und dessen mögliche Wieder­eingliederung in die Arabische Liga (AL) bereits begonnen. Eine Rück­kehr zur diplo­ma­tischen Nor­ma­lität würde die Legitimität des syrischen Regimes stärken. Dies würde dem Bestreben Deutschlands und der Europäischen Union (EU) entgegen­wirken, die gemeinsam mit den USA das syrische Regime mittels Sanktionen und Isolation zur Verhandlung einer politischen Lösung des Konfliktes bewegen wollen. Neben der Diskussion über die frag­liche Rückkehr Syriens in die AL besprechen die hier vorgestellten Beiträge die Beweggründe arabischer Länder, ihre Beziehungen mit Damaskus zu normalisieren, sowie den Einfluss externer Akteure und der Corona-Pandemie auf diesen Prozess.

Customs Union: Old Instrument, New Function in EU-Turkey Relations

Thu, 15/10/2020 - 00:00

The European Council’s conclusions on external relations published on 1 October 2020 hint at the readiness of the European Union (EU) to enter into a new stage in its relations with Turkey. On the one hand, the EU “strongly condemns violation of the sovereign rights of the Republic of Cyprus” and “calls on Turkey to abstain from similar actions in the future, in breach of international law”. It also insists on resolv­ing differences “through peaceful dialogue” – a clear hint at Turkey’s extensive show of military might in the Mediterranean – and underlines its determination to apply sanctions to Turkey. On the other hand, the EU has agreed “to launch a positive politi­cal EU-Turkey agenda with a specific emphasis on the modernisation of the Customs Union and trade facilitation, people-to-people contacts, High level dialogues”, and “con­tinued cooperation on migration issues”. The essential condition to kick off this new agenda is to sustain the “constructive efforts to stop illegal activities vis-à-vis Greece and Cyprus”. Based on joint research conducted by six European think tanks, we suggest that the EU should explicitly separates the accession framework from the modernisation of the Customs Union. Additionally, we lay out a framework for the negotiations on a modernised Customs Union.

Upholding the World Health Organization

Thu, 15/10/2020 - 00:00

Before the COVID-19 pandemic, the European Union (EU) was neither a strong pro­moter of global health nor a strong supporter of the World Health Organization (WHO). The Global Health Council Conclusions from 2010 were never comprehensively implemented and quickly forgotten. With the pandemic greatly affecting EU member states, the EU is increasingly interested in upholding multilateral cooperation in the global health field. Therefore, the EU should aim for an upgrading of the EU’s status in WHO, the establishment of a global health unit in the European External Action Service (EEAS), and an overhaul of the formal relationship between the European Com­mission and WHO.

Jenseits der Wahlen

Thu, 15/10/2020 - 00:00

Viele politische Entscheidungsträger in Deutschland und anderen EU-Staaten dürften darauf hoffen, dass die transatlantischen Beziehungen nach den bevorstehenden US‑Präsidentschaftswahlen am 3. November wieder in ruhigere Fahrwasser gelangen, falls der Demokrat Joe Biden gewinnt. Allerdings wird der innen- und außenpolitische Handlungsspielraum des amerikanischen Präsidenten auch von langfristigen und strukturellen Entwicklungen bestimmt, die über die nächsten (und übernächsten) US-Wahlen hinauswirken. Sieben Trends sind in dieser Hinsicht besonders rele­vant. Zusammen betrachtet verdeutlichen sie, dass außenpolitische Anforderungen und innenpolitische Ressourcen in den USA zunehmend auseinanderklaffen.

 

Wie China Weltpolitik formt

Mon, 12/10/2020 - 00:10

Unter der Führung Xi Jinpings hat sich die Ausrichtung der chinesischen Außenpolitik deutlich verändert. Es geht Peking heute in erster Linie darum, eine größere Kompatibilität zwischen der sich verändernden Weltordnung und dem chinesischen Einparteienstaat herzustellen.

Maßgeblich für den chinesischen Kurs ist das Zusammenwirken der Handlungsprinzipien »Andocken« (Duijie) und »Diskursmacht« (Huayuquan).

In Verbindung mit bestimmten strategischen Narrativen wie etwa der »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit« (Renlei mingyun gongtongti) ist es chinesischen Kadern möglich, in den Außenbeziehungen des Landes eine einheitliche »China-Erzählung« zu vermitteln.

Gegenwärtig ist die internationale Ordnung von einem Interregnum geprägt, in dem etablierte Strukturen nicht mehr die gewohnte Sicherheit und Stabilität gewährleisten können. Vor diesem Hintergrund ergeben sich immer wieder Möglichkeiten für chinesische Akteure, in ihrem Sinne auf die bestehende Ordnung einzuwirken.

Die deutsche und europäische Politik muss sich mit dem Interregnum der Weltordnung auseinandersetzen. Dabei eröffnen sich auch Chancen für die Staaten und Gesellschaften der EU, die künftige internationale Ordnung nach liberalen Maßstäben entscheidend mitzuprägen.

Deutsche und europäische Akteure benötigen ein tiefergehendes Verständnis der chinesischen Handlungslogik. Dies hilft dabei, Chinas Aktivitäten auch in solchen Bereichen richtig einzuordnen, in denen die politisch-ideologischen Differenzen zwischen Peking und dem Westen nicht immer offensichtlich sind.

Nur auf dieser Basis können Deutschland und Europa eine eigenständige Handlungslogik entwickeln und Xis »China-Erzählung« die passenden eigenen Narrative entgegensetzen.

Die Pandemie als »Armee Allahs«

Mon, 12/10/2020 - 00:00

Am 24. August 2020 verübten zwei Selbstmordattentäterinnen einen Doppelanschlag im südphilippinischen Jolo, bei dem 14 Menschen getötet und mehr als 75 verletzt wurden. Er wurde vom »Islamischen Staat« (IS) für sich beansprucht und war das erste aufwendig geplante und öffentlichkeitswirksame Attentat seit Beginn der Corona-Pandemie. Zudem kommt es beinahe wöchentlich zu An­schlägen und An­griffen in Indonesien und auf den Philippinen. Zuvor hatten Anhänger des IS die Pan­demie als »Armee Allahs« bezeichnet, welche die Gegner des IS schwäche und so die Gelegenheit für neue, größere Anschläge biete. Befürchtungen, islamistische Attacken könn­ten sich infolge von Covid-19 massiv häufen, bestätigten sich indes bislang nicht, obwohl der IS in der Region weiterhin präsent ist. Dort gehen die Sicherheitskräfte nach wie vor militä­risch gegen die Organisation vor. Die strukturellen Ursachen des Terro­ris­mus dagegen werden bei seiner Bekämpfung immer noch vernachlässigt.

Zum Vergabestopp für den Schweren Transporthubschrauber

Fri, 09/10/2020 - 00:00

Das Vergabeverfahren zur Beschaffung eines neuen Transporthubschraubers wurde gestoppt. Ein bruchloser Übergang zwischen dem in die Jahre gekommenen Mittleren Transporthubschrauber (MTH) und seinem Nachfolger ist nun möglicherweise nicht mehr zu gewährleisten. Auf die Beschaffung eines Schweren Transporthubschraubers (STH) als Ablösung zu verzichten würde die militärische Handlungsfähigkeit der Bun­deswehr einschränken. Dies gilt für den Einsatz im internationalen Krisenmanagement (IKM), bei Hilfeleistungen im In- und Ausland und in der Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV).

The Abraham Accords: An invitation to rethink the Arab-Israeli conflict

Thu, 08/10/2020 - 00:10

German facilitation of the first meeting between the Israeli and UAE foreign ministers on Tuesday is a welcome change in the European attitude toward the Abraham Accords, which are viewed very differently in Europe than in the Middle East. In the region, supporters and antagonists alike view the accords as a meaningful development that revises the rules of engagement for Arabs and Israelis. However, in Europe the agreement is often downplayed as being yet another PR stunt designed for the mutual electoral interests of Benjamin Netanyahu and Donald Trump. Others dismiss this step as symbolic – a mere formalization of the relations that have existed below the surface between the parties for years now.  

Improving Netanyahu’s declining approval ratings and boosting Trump’s image as statesman before the elections are among the main motivations behind this initiative. Nevertheless, they do not reduce the potential impact of the accords as a challenge to the status quo. The Abraham Accords set in motion new regional dynamics in a time of new regional needs. The lesson learned from previous rounds of conflict and peace in the Middle East – from Anwar Sadat’s visit to Jerusalem to Ariel Sharon’s visit to the Temple Mount – is that when the timing is right, symbolic steps can become the catalyst for major political developments.

The Abraham Accords break a long-standing taboo in the Arab world. The prevailing formula – as outlined by the Arab Peace Initiative (2002) – was that normalization would be granted to Israel in return for making meaningful political compromises vis-à-vis the Palestinians. The accords have shattered this formula, as they replace the equation of “peace for land” with the Netanyahu-coined “peace for peace” approach, in which normalization is given almost unconditionally. Moreover, the accords reframe the role of the Israeli-Palestinian conflict within the framework of Arab-Israeli relations. The Israeli-Palestinian conflict has been downgraded to yet another topic alongside other standing issues. The needs to counter Iran’s regional ambitions or utilize economic opportunities have all become alternative frames of reference to Israeli-Arab relations. Prevention of annexation notwithstanding, Israeli policies in the occupied Palestinian territory (OPT) have hardly served as main motives for the UAE and Bahrain to normalize. This process of disassociating Arab-Israeli relations from the Israeli-Palestinian conflict may create a domino effect, in which other Arab nations that are not involved in direct confrontation with Israel will follow suit.

Shifting regional priorities

The potential of the accords to change regional realities relies on its extraordinary timing. As the Covid-19 crisis takes its toll, national priorities – from Khartoum to Kuwait City – are partially shifting from traditional political considerations to urgent economic needs. The decline in oil prices and the expected decline in growth of more than 7 percent in Gulf Cooperation Council countries in 2020 have turned general goals such as diversifying the Gulf economies and utilizing new global business opportunities into immediate necessities. In this nexus, normalization with Israel provides an undeniable opportunity. Israel’s status as a leading hi-tech hub presents a viable platform for joint cooperation in multiple fields from agriculture to health. For other regional actors, such as Sudan, US endorsement of the normalization process offers the opportunity to mend relations in the hope of lifting sanctions and receiving financial aid.

From an international perspective, the potential of the accords to influence the Israeli-Palestinian political stalemate remains a key question. On the one hand, the accords serve as yet another disincentive for Israel to reengage with the Palestinian issue. They demonstrate that Israel’s acceptance in the region does not necessitate paying the price of tough compromises on the Palestinian front. The Israeli public’s sense of urgency for dealing with topics such as the occupation or the settlements will decrease even further, as the accords enhance the comfortable illusion that the events shaping Israel’s future in the region are taking place in Abu Dhabi and Muscat instead of in Gaza and Kalandia.

Nevertheless, the accords reintroduced the terms “peace” and “normalization” into Israeli public discourse after a decade of absence. The violence affiliated with the “Arab Spring” enhanced the Israelis’ self-perception of their country as a “villa in the jungle.” These events had turned their perception of normalization with the Arab world from a token concern into an outdated distraction. Now, and for the first time in decades, public polls indicate a change in the Israeli public mindset regarding normalization, both on the political and economic levels, reinstating it as a matter of value.

Using the regional context to reengage with the Palestinian issue

The Abraham Accords invite European leaders to rethink their policy approach regarding the Israeli-Arab conflict. In the last two decades, the EU approach has been to compartmentalize the Israeli-Palestinian conflict from the regional context and focus on bilateral relations. The accords offer new opportunities to leverage the broader regional context as a basis to reengage with the core Israeli-Palestinian conflict. Europe’s involvement in enhancing Israel’s regional normalization is not a withdrawal from the two-state solution. On the contrary, it should become a factor in reconnecting the normalization process with efforts to influence Israeli policies in the OPT and Gaza. The converging interests between the moderate regional forces and Europe have already been demonstrated in the campaign against annexation. At present, leveraging the accords to constructively influence the Israeli-Palestinian conflict sounds highly unlikely, as the actors involved either aim to cement the separation between the topics (Netanyahu), or under-prioritize the need to engage with it (Trump). Nevertheless, possible changes to the political leadership in the near future in Israel, the United States and the Palestinian National Authority – combined with growing Arab public pressure on the normalizing countries to address the Palestinian issue – might present an opportunity to harness regional influence to impact Israeli policies. Instead of observing from afar, Europe should be at the forefront of the effort to promote this regional dynamic as a conciliatory vector. After all, who can speak better for regionalism as a basis for peace than the EU?

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