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Publikationen des German Institute of Development and Sustainability (IDOS)
Updated: 1 day 23 hours ago

Warum der Kampf gegen die Folgen von Dürren mehr Aufmerksamkeit und Geld verdient

Mon, 12/02/2019 - 10:00
Bonn, den 02.12.2019. Dürren sind eine der dramatischsten Folgen des Klimawandels. Sie werden häufiger, dauern länger an und werden intensiver. Welche Schäden sie kurz-, mittel- und langfristig anrichten, hängt davon ab, wie verletzlich die betroffenen Öko-, Sozial- und Wirtschaftssysteme sind. Können diese die Folgen von Dürre abfedern und sich erholen, spricht man von Dürreresilienz. In Deutschland haben wir in den letzten zwei Jahren leidvoll erfahren, wie Dürren –verbunden mit hohen Temperaturen – zu großen Verlusten und teilweise irreparablen Schäden in der Land- und Forstwirtschaft, aber auch in Naturwäldern führten. Die Flüsse führten so wenig Wasser, dass der Schifftransport, die Kühlung von Kraftwerken und die Versorgung von Industrieanlagen mit Brauchwasser gestört waren. Wiederholen sich solche Jahre öfter, ist mit schwerwiegenden Folgen für Natur und Wirtschaft zu rechnen, die selbst im reichen Deutschland nicht einfach kompensiert werden können. In Entwicklungsländern sind die Folgen ungleich dramatischer: Dürren bedrohen nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Nahrungsmittelversorgung, Einkommensquellen, die Gesundheit, die Trinkwasserversorgung und damit die Lebensgrundlagen der Menschen. Laut einem Bericht des Global Water Institutes könnten bis zum Jahr 2030 zwischen 24 und 700 Millionen Menschen alleine in Afrika aufgrund von Wassermangel vertrieben werden – auch wenn manche Wissenschaftler diese Zahlen skeptisch sehen. Und auch die Natur kann nachhaltig geschädigt werden, wenn sich das Klima ändert und die natürliche Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme überfordert wird. Alles spricht also dafür, die verheerenden Folgen von Dürren zu verringern – bei uns und anderswo. Treibhausgasemissionen zu reduzieren, ist dabei eine (gewaltige) Aufgabe; die Folgen des schon jetzt nicht mehr rückgängig zu machenden Klimawandels zu bekämpfen, eine andere. Ginge es nur um die durch den Klimawandel verursachten Schäden, wäre deren Messung und Bezifferung sowie die Frage nach der „Schuld“ relativ schnell geklärt: Historisch sind es vor allem die Industrieländer und aktuell die Schwellenländer, die für den Großteil der Treibhausgasemissionen verantwortlich sind. Aber Dürren werden nicht nur durch den Klimawandel verursacht. Denn sie existieren auch unabhängig davon, und menschliche Einflüsse verstärken Dürren und ihre Folgen, zum Beispiel durch großflächige Verschlechterung der Vegetation und der Bodenqualität durch nicht nachhaltige Bewirtschaftung. Mit modernen Technologien können wir nun immer größere und eigentlich robuste Ökosysteme zerstören, und damit ihre Dürreresilienz. Auf diese Problematik weist auch der Weltbodentag hin, der am 5. Dezember ansteht. Dürren und Dürreschäden sind also eine höchst komplexe Folge natürlicher Schwankungen, menschengemachter lokaler Umweltschäden und des Klimawandels. Eine eindeutige Zuordnung von „Schuld“ ist in diesem Fall nahezu unmöglich, eine permanente Debatte um Schäden und Verluste vorprogrammiert. Nach römischer Rechtsprechung heißt es „actore non probante reus absolviture“: „Wenn der Kläger die Tatsachen nicht beweisen kann, obsiegt der Beklagte“. Dies kann aber nicht das Ende der Debatte sein. Die lokalen und regionalen Schäden und ihre Folgen sind zu gravierend, als dass wir uns zurücklehnen und warten können, bis sich neue Erkenntnisse ergeben. Dürren können jahrzehntelange Entwicklungsbemühungen zerstören – auch das sollten wir nicht in Kauf nehmen. Unabhängig von den UN-Klimaverhandlungen müssen wir uns für eine proaktive Förderung von Strategien für mehr Dürreresilienz einsetzen. So könnte zum Beispiel ein internationaler Dürrefonds Entwicklungsländer bei der Steigerung von Dürreresilienz unterstützen. Er müsste die Eigenanstrengungen von Regierungen und gute Regierungsführung honorieren; er sollte möglichst lokale Initiativen unterstützen; und er sollte weitere Nachhaltigkeitsziele fördern. Denn viele Maßnahmen, die mit Dürre und Dürreresilienz verbunden sind, stehen in direkter Wechselwirkung mit anderen Nachhaltigkeitszielen, wie Ernährungssicherung, nachhaltige Wassernutzung, Bekämpfung von Armut oder Leben an Land. Beispiele sind die Verbreitung robusterer Anbaupflanzen, Mischwälder, Wasserspeicherung im Boden und in Talsperren, Wetterversicherungen, soziale Sicherungssysteme, Lagerhaltung und Einkommensdiversifizierung. Solch ein Fonds könnte aus Entwicklung- und Katastrophengeldern, aus Versicherungsprämien und schon verfügbaren Klimageldern gespeist werden. Der Fonds sollte nicht die Maßnahmen selber finanzieren, dafür sind sie zu vielfältig und teuer; sondern nationale Strategien, die solche Maßnahmen fördern und koordinieren. Das UN-Wüstensekretariat (UNCCD), deren internationales Mandat die Förderung von Dürreresilienz und Bekämpfung von Bodendegradation und Desertifikation ist, könnte einen solchen Fonds verwalten. Er wird aber Katastrophenhilfe in besonders gravierenden Fällen, die es trotz aller Anstrengungen immer wieder geben wird, nicht ersetzen können – auch dies gehört zur Wahrheit über Dürreresilienz. Dadurch hieße es „in dubio pro res publica“ oder frei nach dem neuen Leitbild des DIE „im Zweifel für das globale Gemeinwohl“.

Die UN-Klimakonferenz von Madrid als Wegweiser der internationalen Klimapolitik

Mon, 11/25/2019 - 09:59
Bonn, 25.11.2019. Der Wirbel um die kurzfristige Verlegung der diesjährigen UN-Klimakonferenz von Santiago de Chile nach Madrid hat sich gelegt. Die Verhandlungsdelegationen können sich nun auf das Wesentliche konzentrieren: Sie müssen die Vorbereitungen zur verbindlichen Umsetzung des Pariser Klimaabkommens abschließen, die 2020 beginnen soll. Ein großer Teil der institutionellen und prozeduralen Vorbereitungen zur Umsetzung des Pariser Abkommens wurde bereits geleistet: die Verabschiedung des „Regelbuchs von Katowice“ durch die COP24. Doch einiges blieb strittig. Die Regelung der sogenannten Marktmechanismen etwa (wie zum Beispiel der Emissionshandel) wurde ausgeklammert. Diese betreffen den umstrittenen Artikel 6 des Pariser Abkommens. Kritische Beobachter aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und den Medien werden zu Recht vor allem darauf schauen, ob es hier zu einer Einigung kommen wird. Eine Einigung zu marktbasierten Mechanismen darf jedoch kein Selbstzweck sein. Sollte in Madrid keine Einigung erreicht werden, wäre dies im Zweifel das geringere Übel gegenüber einer schwachen Regelung, die den Zielen des Pariser Abkommens zuwiderläuft. Denn tatsächlich bieten die zur Diskussion stehenden Marktmechanismen vielversprechende Hebel für einen effizienten und deutlich ambitionierteren Klimaschutz. Sie können insbesondere helfen, möglichst viel Emissionsminderung zu möglichst niedrigen Kosten zu verwirklichen. Dies ist gleichermaßen im Interesse nationaler Regierungen wie unzähliger Unternehmen. Eine laxe – von Verfechtern wie Brasilien euphemistisch „flexibel“ genannte – Ausgestaltung der Regeln würde Mitnahmeeffekte begünstigen und perverse Anreize schaffen, um etwa durch den Handel mit Emissionsrechten vor allem Geld zu verdienen oder das Ambitionsniveau nationaler Klimapolitik zu senken. Das übergeordnete Ziel der Emissionsminderung würde effektiv untergraben werden. Es ist essentiell, dies zu verhindern. Es gilt deshalb, Brasilien und andere Bremser davon zu überzeugen, dass Kohlenstoff-Zertifikate nicht doppelt – im verkaufenden und im ankaufenden Land – als Emissionsminderung angerechnet werden können. Ebenso wenig darf der internationale Emissionshandel als Nullsummenspiel gestaltet werden: Käuferländer sollten gekaufte Zertifikate nur zu einem Teil auf ihre Emissionsbilanz anrechnen dürfen. Überhaupt müssen die verfügbaren Zertifikate knappgehalten werden, um substanzielle Netto-Emissionsminderungen bewirken zu können. Ein wesentlicher Schritt wäre, die Anrechenbarkeit alter Zertifikate aus der Zeit des überholten Kyoto-Protokolls strikt zu unterbinden. Nicht zuletzt müssen unerwünschte soziale und ökologische Nebenwirkungen der Klimaschutzmaßnahmen berücksichtigt werden, die dem Zertifikate-Handel zugrunde liegen, aber vielerorts zu Lasten etwa indigener Bevölkerungsgruppen oder der Artenvielfalt gehen können. Die ursprünglichen Kyoto-Mechanismen, wie der Clean Development Mechanism (CDM) oder auch der Mechanismus zur Vermeidung von Entwaldung REDD+ hatten hier große Schwachpunkte, was ihnen massive Kritik eingebracht hat. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass die EU sich als starker Fürsprecher „robuster“ statt „flexibler“ Regeln positioniert hat, auch wenn sie damit eine kurzfristige Einigung aufs Spiel setzt und eine mögliche Einigung aufschiebt. So bietet die COP25 der neuen EU-Kommission die Chance, zu zeigen, dass ihre hehren klimapolitischen Ankündigungen und der von Ursula von der Leyen propagierte „European Green Deal“ ernst gemeint sind und die EU ihren zuletzt wenig glaubwürdigen Führungsanspruch erneuern will. Zunehmend rücken vor dem Hintergrund der jüngsten Berichte des Weltklimarats IPCC auch die Dringlichkeit von Resilienz und Anpassung gegenüber den Folgen eines nicht mehr zu vermeidenden Klimawandels in den Fokus. Hier verdient in Madrid vor allem die anstehende Überprüfung des 2013 beschlossenen Warschauer Internationalen Mechanismus für Schäden und Verluste (WIM) mehr politische wie öffentliche Aufmerksamkeit. Sie sollte eine erkennbare Stärkung der internationalen Handlungsfähigkeit zu Fragen klimabedingter Schäden und Verluste (Loss and Damage) zur Folge haben. Dies ist eine grundlegende Voraussetzung im Streben nach Klimagerechtigkeit, nicht zuletzt für die große Zahl armer Entwicklungsländer und kleiner Inselstaaten, die kaum zur Verursachung des Klimawandels beigetragen haben, aber besonders dramatisch von dessen Folgen betroffen sind. COP25 markiert somit die Schwelle zu einer neuen Ära der internationalen Klimapolitik, die so oder so im kommenden Jahr beginnen wird. Sie stellt also die Weichen und Signale für das klimapolitische Schlüsseljahr 2020, in dem nicht nur die Umsetzungsphase des Pariser Abkommens verbindlich beginnt, sondern die Staaten infolgedessen auch ihre nationalen Klimapläne verbessert vorlegen und um ambitionierte Langfriststrategien ergänzen müssen Kurzum, es ist Zeit zu handeln.

Warum Europa und Afrika einen Dialog über zukunftsfähige Gesellschaftsmodelle führen sollten

Mon, 11/18/2019 - 11:13
Bonn, 18.11.2019. Am morgigen Dienstag lädt die Bundeskanzlerin zwölf afrikanische Staats- und Regierungschefs zu einem Afrika-Gipfel nach Berlin. Das Treffen ist Teil des Compact with Africa (CwA), eine Initiative der deutschen G20-Präsidentschaft 2017. Der CwA soll private Investitionen in afrikanischen Partnerländern fördern. Die Initiative hat deutscher Kooperation mit Afrika mehr politische Bedeutung verliehen – ebenso wie der im selben Jahr vom Bundesentwicklungsministerium angestoßene „Marshallplan mit Afrika“. Doch um Afrikapolitik gemeinwohlorientiert und wirksam zu gestalten, muss sich Deutschland auch für einen breiteren Dialog über zukunftsfähige Gesellschaftsmodelle einsetzen. Mehr Wettbewerb um Kooperation mit Afrika: Warum jetzt? Deutschland steht mit seiner Initiative nicht alleine da. Der CwA ist nur ein Beispiel für eine Reihe von Initiativen, die die EU und einige EU-Mitgliedsstaaten, aber auch China, Russland, die USA, die Türkei, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan in den letzten Jahren ins Leben gerufen haben. Es geht den Ländern darum, ihre Wirtschaftsbeziehungen mit Afrika zu intensivieren und Investitionen zu fördern. Deutschland und andere EU-Akteure möchten außerdem dazu beitragen, das Investitionsklima und die politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen in afrikanischen Ländern zu verbessern. Warum steigt das Interesse an Kooperation mit Afrika gerade jetzt? Deutschland und die EU sehen in der Förderung von Wirtschaftsbeziehungen einen Beitrag zur Reduzierung der Zahl afrikanischer Flüchtlinge und Migrant*innen, die nach Europa kommen (könnten). Vereinfacht gesagt, Investitionen sollen die Lebensbedingungen in afrikanischen Ländern verbessern und damit Migrationsbewegungen langfristig reduzieren. Die Initiativen stehen außerdem im Zeichen des verstärkten wirtschaftlichen und politischen Wettbewerbs mit China in Afrika. Dialog jenseits der Förderung von Privatinvestitionen Das neue Interesse an der wirtschaftlichen Kooperation mit Afrika kommt zu einem entscheidenden Zeitpunkt. Die afrikanischen Gesellschaften stehen vor einem massiven Umbruch. Afrikanische und globale Megatrends wie hohes Bevölkerungswachstum, exponentiell wachsende Urbanisierung, die negativen Folgen des Klimawandels und die Digitalisierung verändern Gesellschaften fundamental. Daher ist es grundsätzlich ein wichtiger Schritt, öffentliche und private Investitionen in Infrastruktur und den Privatsektor zu unterstützen. Nur mit den entsprechenden Mitteln können Gesellschaften gemeinwohlorientierte Politik betreiben und damit die Megatrends pro-aktiv gestalten. Finanzmittel können jedoch nur ein Teil der Antwort auf die immensen Herausforderungen sein, denen die Menschen auf dem afrikanischen Kontinent gegenüberstehen. Investitionen tragen zu Gemeinwohl bei, wenn sie eingebettet sind in breitere Vorstellungen und Visionen für zukunftsfähige Gesellschaftsmodelle in Afrika. Die Initiativen müssten daher von einem umfassenden Dialog mit afrikanischen Partnern begleitet sein, wie wirtschaftliche Entwicklung in Afrika begünstigt werden kann, die nicht nur sozial inklusiv, sondern auch ökologisch nachhaltig ist.  Die Agenda 2063 der Afrikanischen Union (AU) sowie die aktuellen Überlegungen in der EU zur Schaffung eines Green Deal bieten hierfür wichtige Anknüpfungspunkte. Europäische Afrikapolitik als Forum für Dialog über zukunftsfähige Gesellschaftsmodelle Deutschland hat mit dem CwA einen wichtigen Beitrag geleistet, um in der G20 die Kooperation mit Afrika höher auf die Agenda zu setzen. Jedoch sind die G20 bislang kein Forum, in dem G20-Staaten ihre Afrikapolitik untereinander abstimmen oder einen Dialog über zukunftsfähige Gesellschaftsmodelle mit afrikanischen Partnern suchen würden. Jenseits der Bemühungen in der G20 sollte Deutschland sich daher für die Erarbeitung einer europäischen Afrikapolitik einsetzen. Bisher gestalten die EU-Mitgliedsstaaten und EU-Institutionen ihre afrikapolitischen Initiativen weitgehend im Alleingang. Angesichts der großen gesellschaftlichen Herausforderungen, der starken Präsenz Chinas und des steigenden geostrategischen Wettbewerbs zwischen externen Kräften in Afrika haben einzelne EU-Staaten in Afrika kaum Gewicht. Eine europäische Afrikapolitik mit gemeinsamer Zielsetzung und abgestimmten Instrumenten ist daher dringend erforderlich. Das Angebot zu einem umfassenden Dialog über zukunftsfähige Gesellschaftsmodelle könnte Dreh- und Angelpunkt einer gemeinsamen europäischen Afrikapolitik sein. EU-Mitgliedsstaaten könnten so ihre vielfältigen Erfahrungen mit unterschiedlichen Sozial- und Wirtschaftsmodellen als komparativen Vorteil in der Kooperation mit Afrika nutzen. Gleichzeitig ist klar, dass sich im Zeitalter der Transformation zur Nachhaltigkeit alle Gesellschaften gleichermaßen in einem Suchprozess befinden. Europa hat keine Blaupausen wie eine CO2-neutrale Wirtschaft aussieht, die gleichzeitig sozial und politisch inklusiv ist. Hierin liegt auch eine Chance, weil europäische und afrikanische Gesellschaften in gemeinsame Wissensproduktion investieren können und müssen. Die Vorbereitungen für den nächsten AU-EU-Gipfel, der im Winter 2020/2021 stattfindet, sind ein zentrales Zeitfenster, um diesen Dialog anzustoßen.

Wie kommt die Nachhaltigkeit in die öffentliche Beschaffung?

Mon, 11/11/2019 - 10:18
Bonn, 11.11.2019. Alleine in der EU geben öffentliche Einrichtungen jährlich 2 Billionen Euro für Beschaffungen aus. Der öffentliche Einkauf ist somit ein starker Hebel zur Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen. Seit einigen Jahren finden Nachhaltigkeitskriterien immer öfter Einzug in Gesetze und Verordnungen für die öffentliche Beschaffung. Bereits 2014 wurden sie europaweit in der aktuellen EU Vergaberichtlinie (2014/24/EU) verankert und seitdem in die nationalen Gesetzgebungen der Mitgliedsstaaten übertragen. In der Praxis öffentlicher Ausschreibungen stellt die Integration von Nachhaltigkeitskriterien bislang aber eher die Ausnahme als die Regel dar. Rechtliche Regelungen, egal ob freiwillig oder verpflichtend, bedürfen einer „Übersetzung“ in die Praxis. Ein Paradigmenwechsel für diese Übersetzung zeichnet sich auf internationaler Ebene aktuell ab. Dies konnte auch auf dem zweiten Dialogforum zu Nachhaltiger Öffentlicher Beschaffung beobachtet werden. Ende Oktober kamen dazu in Bonn deutsche, europäische, lateinamerikanische und afrikanische Expertinnen und Experten für öffentliche Beschaffung zusammen. Sie diskutierten die Umsetzung einer nachhaltigen öffentlichen Beschaffung, zum Beispiel durch die Einbindung von Nachhaltigkeitskriterien in elektronische Vergabeverfahren und die generelle Nutzung von Nachhaltigkeitsstandards. Denn wenn es keinen einfachen Lehrbuchansatz gibt, sind Erfahrungsaustausch und gemeinsames Lernen die wichtigsten Werkzeuge, um Veränderungen zu bewirken. Zusätzlich zu einer guten rechtlichen Grundlage braucht es Change-Management Ansätze, mehr Personal und konkrete Beratung in der Umsetzung. Gerade bei einer stark dezentral organisierten öffentlichen Beschaffung wie in Deutschland brauchen beispielsweise kommunale Vergabestellen mehr Unterstützung von außen. Es bestehen bereits Beratungs- und Hilfsangebote wie die Kompetenzstelle für Nachhaltige Beschaffung sowie die Servicestelle Kommunen in der Einen Welt. Um die über 11.000 Kommunen zu erreichen, müssen neben dem Bund die Länder endlich ihrer Verantwortung nachkommen, ebenfalls Angebote zur Verfügung zu stellen. Hierbei lohnt sich ein Blick in die Niederlande. Dort hat die zentrale Beratungseinrichtung PIANOo erfolgreich nachhaltige Beschaffung in den gerade einmal 355 Gemeinden angeregt und berät und unterstützt diese mit mehr als 30 Stellen. Auch in vielen Ländern Afrikas, wie Ghana und Südafrika, finden regelmäßig Weiterbildungskampagnen für Beschaffungsverantwortliche statt, die auch vermehrt das Thema Nachhaltigkeit einbeziehen. Bedarfsträger, die die eingekauften Produkte nachfragen und nutzen, und Beschaffungsstellen müssen durch Weiterbildungsangebote und neue Strukturen in die Lage versetzt werden, nachhaltige Beschaffungskriterien zu entwickeln und anzuwenden. Dies zeigen Beispiele von Bremen und Berlin über Rotterdam bis Tshwane in Südafrika. Nachhaltigkeitsziele mit dem Markt zu kommunizieren kann recht aufwendig sein. In sogenannten Bieterdialogen können Vergabestellen ihre Vorstellungen mit potentiellen Bietern diskutieren. Die Organisation solcher Bieterdialoge erfordert gute Vorbereitung und eine breite Öffentlichkeitsarbeit. Gerade afrikanische Praktikerinnen und Praktiker sorgen sich wegen des vermeintlichen Korruptionsrisikos bei einem intensiveren Austausch mit Unternehmen. Ein offener Austausch mit dem Markt ist jedoch nicht nur eine Möglichkeit zur Stärkung nachhaltiger Beschaffung. Sie kann die Transparenz des Vergabeverfahrens sogar zusätzlich erhöhen. Mit der Digitalisierung der Beschaffung werden zurzeit viele Erwartungen verknüpft. Neben der Steigerung von Effektivität und Transparenz kann die elektronische Vergabe auch genutzt werden, um Nachhaltigkeitsziele einzubinden. So verwenden die Städte Mainz und der Bundesstaat Sao Paulo elektronische Kataloge, um die Bedarfsträger auf ökologischere und fairere Alternativen in bestehenden Rahmenverträgen aufmerksam zu machen. Neue Verfahren sorgen aber nicht allein für eine bessere Integration von Nachhaltigkeitskriterien in die öffentliche Beschaffung. Entscheidend für die nachhaltigere Ausrichtung von Beschaffungsinstrumenten ist es, das Thema Nachhaltigkeit von Beginn an als integralen Bestandteil mitzudenken. Für das nötige Umdenken brauchen die Beschaffungsstellen die entsprechende Unterstützung. Wir erleben gerade eine Trendwende in der öffentlichen Beschaffung. Die langfristige und strategische Planung in der Vergabe wird gestärkt und professionalisiert. Zudem werden neue Verfahren, wie Bieterdialoge und digitale Prozesse, eingeführt und erprobt. Diese eignen sich auch dazu, soziale und ökologische Nachhaltigkeit verstärkt im öffentlichen Einkauf zu integrieren. Auf dem Weg dahin gilt es, die nötigen Mittel für diese Wandlungsprozesse zur Verfügung zu stellen. Dies wird sich durch gesteigerte Effizienz und langfristigere Planung auszahlen und ermöglicht auch den nationalen wie internationalen Austausch zwischen Verwaltungen. Diese sich abzeichnende Trendwende ist kein Automatismus – sie muss begleitet und geformt werden.

So kann Kooperation für die Agenda 2030 gelingen

Mon, 11/04/2019 - 10:37
Bonn, 04.11.2019. Mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung wurde „Entwicklung“ zu einer globalen Angelegenheit. Wenn es um klima- und sozialgerechte Lebensweisen geht, sind auch die Länder des Nordens Entwicklungsländer. Dieser neue Blick auf globale nachhaltige Entwicklung erfordert neue Herangehensweisen. Immer wieder wird gefordert, Denksilos zu verlassen, um so den komplexen Herausforderungen der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) gerecht zu werden. Als Mittel der Wahl für lösungsorientierte Wissenschaft gilt die transdisziplinäre und transnationale Kooperation auf Augenhöhe. Partner aus dem globalen Norden und Süden, aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft sollen gemeinsam an wissensbasierten Lösungen arbeiten. Zwischen der Vision einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit und deren konkreten Umsetzung klafft jedoch eine Lücke. Bestehende Kooperationen sind oft durch Ungleichheiten und Machtgefälle geprägt, zum Beispiel, wenn Forschende aus dem Norden die Forschungsfrage für ein Nachhaltigkeitsproblem des globalen Südens definieren, Daten interpretieren und den vermeintlich richtigen Lösungsansatz vorgeben, während Partner aus dem Süden bloße Datenlieferanten sind. Warum ist dies auch 2019 immer noch so? Zusammenarbeit ist anstrengend! Es ist herausfordernd, das Wissen aller beteiligten Akteure gleichermaßen wertzuschätzen. Alte Wissenshierarchien und traditionelle Rollenverteilungen müssen neu definiert werden, denn nur so kann der globale Norden auch vom globalen Süden lernen. Für Partner aus dem globalen Norden bedeutet das, alte Denkmuster und Privilegien zugunsten einer gleichberechtigten Partnerschaft aufzugeben – auch wenn die Finanzierung noch oft aus dem globalen Norden stammt. Und dennoch: Zusammenarbeit ist der Mühe wert, nicht nur weil SDG 17 die sektoren- und grenzübergreifende Kooperation als Instrument zur Lösung globaler Herausforderungen hervorhebt. Die Wertschätzung unterschiedlicher Wissensformen, ob aus globalem Süden oder Norden, ob aus dem gesellschaftlichen Alltag, der politischen Praxis oder der Wissenschaft, ist auch eine Frage des gegenseitigen Respekts. Zusammenarbeit erfordert deshalb, sich mit verschiedenen Sichtweisen auseinanderzusetzen, um jenseits aller Differenzen das verbindende menschliche Element zu finden. Indem wir gemeinsame grenzüberschreitende Werte formulieren und verhandeln, können wir auch gegenwärtigen Trends wie Nationalismus, Polarisierung und wachsender gesellschaftlicher Ungleichheit entgegentreten. Eine Grundvoraussetzung der grenzüberschreitenden Kooperation ist ein gemeinsamer Wertehorizont. Diesen scheint es auch zu geben. Der kanadische Philosoph Charles Taylor argumentiert, dass das Moralische jedem Menschen inne ist. Und in der Tat teilen Menschen in verschiedenen Weltregionen die Vision eines guten Lebens für alle. Aus Lateinamerika stammt das Konzept des „buen vivir“, das auf Lebensphilosophien indigener Völker basiert. Das südasiatische Königreich Bhutan setzt mit dem Bruttonationalglück dem Bruttonationaleinkommen einen ganzheitlichen Bezugsrahmen entgegen. Die UN-Menschenrechtscharta von 1948 oder die Agenda 21 von 1992 sind Ausdruck global geteilter grundlegender Werte. In Zeiten des Klimawandels und des Raubbaus an den natürlichen Ressourcen bedeutet dies auch, innerhalb der planetaren Grenzen zu leben. Für die Forschung, Ausbildung und Politikberatung des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik ist deshalb das „globale Gemeinwohl“ ein Leitbild. Was können wir tun, um faire Kooperation Wirklichkeit werden zu lassen? Auf der individuellen Ebene heißt es, an sich selbst zu arbeiten und Vorurteile gegenüber anderen Wissensformen und Denkmustern abzubauen. In der Zusammenarbeit bedarf es einer gegenseitigen Offenheit: Wissen sollte auch vom globalen Süden in den Norden fließen. Im Managing Global Governance (MGG) Netzwerk fördern wir dies und diskutieren zum Beispiel über die Chancen und Risiken der Digitalisierung für nachhaltige Entwicklung – sowohl in Deutschland als auch in den Partnerländern. In unseren Wissensnetzwerken müssen wir uns immer wieder auf gemeinsame Werte und Problemdefinitionen besinnen. Auch wenn es trivial klingt: Gemeinsame Antworten und Lösungsansätze findet man nur, wenn man auch eine gemeinsame Frage stellt und ein Wir-Gefühl herrscht. Im MGG-Netzwerk arbeiten wir daher nicht nur zu konkreten Problemen, sondern auch an einer gemeinsamen Netzwerkidentität, um unsere gemeinsame Basis zu festigen. Auf struktureller Ebene ist es wichtig, Plattformen, Projekte und Netzwerke über Legislaturperioden von Regierungen hinaus zu finanzieren, um so nachhaltigen Austausch und intensive Wissenszusammenarbeit zu ermöglichen. Es gibt noch zu wenig Forschung zu den Auswirkungen von Netzwerken mit Transformationsanspruch: Wie gestalten wir die Kooperation so, dass sie sich positiv auf nachhaltige Entwicklungspfade auswirkt? Wie tragen an Netzwerken beteiligte Individuen zu weiterem institutionellem Wandel bei? Wir brauchen aber auch mehr Forschung zur Praxis der Zusammenarbeit: Wie gelingt respektvolle Wissenskooperation ganz konkret? Welche Methoden helfen uns, nachhaltiges Wissen auszutauschen und zu kultivieren? Dieses Handlungswissen müssen wir auch anderen Akteuren zugänglich machen, um die Skepsis an Zusammenarbeit zu nehmen. Denn Kooperation lohnt sich. Eine Kolumne anlässlich des DIE-Panels zu transnationaler Wissenskooperation im Rahmen der 19th Global Development Conference.

Wie die Europäische Union ihre Rolle als Friedensmacht stärken kann

Mon, 10/28/2019 - 15:56
Bonn, 28.10.2019. Die neue Europäische Kommission nimmt weiter Gestalt an. Das Team um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird jedoch frühestens am 1. Dezember formell seine Tätigkeit aufnehmen. Vier Mitglieder der Kommission werden für die EU-Außenbeziehungen zuständig sein. Diese vier sind Josep Borrell aus Spanien als Hoher Vertreter für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik, die Finnin Jutta Urpilainen, Kommissarin für Internationale Partnerschaften, ein (noch zu bestätigender) Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterung und Janez Lenarčič aus Slowenien für humanitäre Hilfe und Krisenmanagement. Von der Leyen hat angekündigt, dass ihr Team eine „geopolitische“ Kommission mit einer starken strategischen Ausrichtung in der Außenpolitik sein werde. Grundsätzlich ist dies ein begrüßenswerter Ansatz, ist die EU bisher doch für ihre langwierigen und bürokratischen Entscheidungsprozesse bekannt. Es gibt jedoch frühe Hinweise darauf, dass der Ansatz der neuen Kommission gegenüber der internationalen Zusammenarbeit auch stark von Sicherheitsaspekten geprägt sein wird. Das Phänomen der Versicherheitlichung – welches bedeutet, dass einerseits politische Fragen, die keinen vordergründigen Sicherheitsbezug haben, als Sicherheitsfragen behandelt und andererseits Mittel für die Abwehr wahrgenommener Bedrohungen eingesetzt werden, die eigentlich nicht für sicherheitspolitische Zwecke vorgesehen sind – gewinnt in den Außenbeziehungen der EU seit einigen Jahren an Bedeutung. Besonders deutlich wird dies auf dem Gebiet der Migrationspolitik. Narrative, die Migranten und Geflüchtete als Bedrohung für die Sicherheit, den Wohlstand und die Kultur Europas porträtieren, halten sich hartnäckig. Entwicklungshilfegelder werden zur Finanzierung von Initiativen zur Migrationssteuerung eingesetzt, in denen der Zugang zu EU-Mitteln von Grenzkontrollen und der Rücknahme von Flüchtlingen abhängig gemacht wird. Die Mission Letters, in denen von der Leyen die Aufgaben der Kommissare beschreibt, weisen darauf hin, dass sich daran auch in den nächsten fünf Jahren wenig ändern dürfte. Im Schreiben an Borrell wird der Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion eine hohe Priorität eingeräumt; die Rolle der EU als zivile Friedensstifterin, auf die der Hohe Vertreter wesentlich mehr Einfluss nehmen könnte, findet jedoch keine Erwähnung. Im Schreiben an Urpilainen wird diese aufgefordert, die Mittel der Entwicklungshilfe im Zweifelsfall anzupassen, um die Ziele der EU im Bereich der Migrationssteuerung zu erreichen. Dies würde bedeuten, dass die Mittel für Länder gekürzt werden könnten, die in diesem Bereich nicht (ausreichend) kooperieren. Zwei zentrale Vorschläge für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU verstärken den Eindruck, dass sich das Gleichgewicht von zivilem Engagement für den Weltfrieden zugunsten eines ausgesprochen sicherheitslastigen Ansatzes verschiebt. Der erste Vorschlag betrifft die Schaffung der Europäischen Friedensfazilität, eines außerbudgetären EU-Fonds zur Finanzierung der Sicherheitszusammenarbeit mit Partnerregierungen und regionalen Organisationen. Wenn der 10,5 Millionen Euro schwere Fonds genehmigt wird, könnten damit die Bereitstellung von Waffen und Munition durch die EU finanziert werden. Dies würde eine erhebliche Abkehr vom Kerngedanken der EU als Zivilmacht bedeuten. Zweitens sehen die Vorschläge für den nächsten EU-Haushalt die Aufnahme des 2,3-Milliarden-Instruments für Sicherheit und Frieden in das neue Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit der EU vor. Diese Maßnahme könnte die Dimension der zivilen Friedensförderung durch die EU weniger sichtbar machen. Unterstützer der EU als globale Stimme für den Frieden können sich trotzdem dafür einsetzen, dass einige Schlüsselfragen auf der Agenda bleiben. Am wichtigsten ist kurzfristig gesehen die Einrichtung strenger Auflagen für die Europäische Friedensfazilität, um die Lieferung von Waffen in autoritäre und instabile Partnerländer zu verhindern. Daneben muss die zivile Dimension der Friedensförderung und Krisenbewältigung durch die EU gestärkt werden. Eine solche Stärkung könnte angestoßen werden durch die Ausarbeitung einer EU-Strategie für Konfliktprävention und Friedensförderung mit einem besonderen Schwerpunkt auf Mediation und ziviler Konfliktbearbeitung. Eine weitere Maßnahme wäre die Einrichtung einer eigenen Ratsarbeitsgruppe für Konfliktprävention und Friedensförderung. Die Verabschiedung eines entsprechenden Beschlusses im Europäischen Parlament im März spricht dafür, dass eine Nachfrage nach diesen Maßnahmen vorhanden ist, wenn der politische Wille unter den Mitgliedstaaten gefunden werden kann. Zu guter Letzt sollten die Prinzipien zur Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit eingehalten werden, vor allem im Hinblick auf Eigenverantwortung der Partner, gegenseitige Rechenschaftspflicht und Transparenz, wenn es darum geht, Initiativen zur Migrationssteuerung oder den Kapazitätsaufbau von Sicherheitskräften in den Partnerländern zu finanzieren.

Warum Einfluss in der Global Governance gerechter verteilt werden sollte

Mon, 10/21/2019 - 05:00
Bonn, 21.10.2019. Als vergangene Woche die Gouverneurinnen und Gouverneure des IWF und der Weltbank in Washington, D.C. zusammenkamen, war es wie so oft, wenn Entscheidungen in internationalen Organisationen gefällt werden. Die Möglichkeiten der Mitgliedsstaaten, Einfluss zu nehmen, waren extrem unterschiedlich. So hat der Vertreter der USA im Gouverneursrat des IWF alleine mehr Stimmen als die Vertreterinnen und Vertreter aller Staaten Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik gemeinsam. Staaten wie Japan oder Deutschland kommen auf nicht viel weniger Stimmen als alle afrikanischen Länder zusammen. In anderen Institutionen der Global Governance wie der G7, der G20 oder der OECD sind ohnehin nur eine begrenzte Gruppe von Staaten vertreten. Auch in Organisationen wie der WTO, in der formal jedes Land eine Stimme hat, können reiche Staaten zum Beispiel mehr Personal in Verhandlungsprozessen einsetzen oder die Position von anderen Staaten mithilfe von ökonomischen Anreizen beeinflussen. Der Einfluss auf Entscheidungen der Institutionen der Global Governance ist also zutiefst ungleich verteilt. Und das obwohl diese Institutionen die Lebensbedingungen von Menschen überall auf der Welt beeinflussen. Diese postkolonialen Verhältnisse werden von Vertreterinnen und Vertretern der Entwicklungs-, vor allem aber der Schwellenländer immer wieder als ungerecht kritisiert. Bei globaler Gerechtigkeit geht es eben nicht nur darum, wie die Vorteile und Lasten internationaler ökonomischer Kooperation verteilt werden. Ebenfalls wichtig ist, wer politische Entscheidungen trifft und damit am Ende auch Herrschaft ausübt. In den letzten Jahren kam es durchaus zu einigen globalen Machtverschiebungen: Da die G20 teilweise die Rolle einnahm, die früher die G7 ausgeübt hatte, gewann eine Reihe von Ländern an Einfluss. Des Weiteren initiierten, aus Unzufriedenheit über ihre Einflussmöglichkeiten in den bestehenden Institutionen, einige Schwellenländer 2014/15 die Gründung zweier neuer Entwicklungsbanken (Asian Infrastructure Investment Bank (AIIB) und New Development Bank (NDB)). Auch gab es eine kleinere Stimmrechtsreform im IWF. Einige internationale Organisationen versuchten zudem durch größere Transparenz und die Einbindung zivilgesellschaftlicher Organisationen ihrer Rechenschaftspflicht besser nachzukommen. Doch erstens konnten diese Reformen nur in einem begrenzten Umfang etwas an den grundsätzlichen Machtverhältnissen in der Global Governance ändern. Zweitens ging es meistens vor allem darum, einige wenige sogenannte „Rising Powers“ stärker zu beteiligen, während vor allem arme Länder weiter außen vor blieben. Entscheidungsverfahren, in denen Einfluss so ungleich verteilt ist, könnten wohl nur dann gerechtfertigt sein, wenn internationale Organisationen als Vereinigungen von Staaten privaten Vereinigungen ähnelten. Privatpersonen steht es frei, zusammen mit anderen zum Beispiel einen Verein oder eine Firma zu gründen, ohne dabei andere mitentscheiden lassen zu müssen. Genauso könnte es in Ordnung sein, wenn Staaten einfach nach ihren eigenen Vorstellungen und Interessen internationale Organisationen bilden. Doch erstens gibt es für private Vereinigungen einen institutionellen Rahmen, der die Interaktion der Individuen reguliert. Damit soll verhindert werden, dass Vertragsparteien über den Tisch gezogen oder Unbeteiligte geschädigt werden. Es fehlen jedoch Institutionen, die einen ähnlichen Rahmen für die Interaktion zwischen Staaten durchsetzen können. Zweitens erfüllen viele Institutionen der Global Governance öffentliche Aufgaben. Sie sollen zum Beispiel die Stabilität der Finanzmärkte garantieren oder einen besseren Umweltschutz vorantreiben. Dies sind Angelegenheiten, die alle etwas angehen. Das heißt nicht unbedingt, dass Einfluss in der Global Governance immer gleich zwischen den Ländern verteilt werden muss. Bevölkerungsgröße oder auch das Ausmaß, in dem ein Land, von den Entscheidungen einer Institution betroffen ist, könnten Unterschiede rechtfertigen. Angesichts der derzeitigen Machtverhältnisse erscheinen jedoch weitreichende Reformen erforderlich. Beispielsweise sollte die Stimmverteilung im IWF und der Weltbank massiv zugunsten ärmerer Staaten angepasst werden. Das mag bei Regierungen, die durch solche Reformen an Stimmen verlören, nicht gut ankommen. Vielleicht können manchmal pragmatische Gründe angeführt werden, das wirtschaftlicher Wohlstand als Kriterium für Einflussmöglichkeiten verwendet wird. Andernfalls ist zu befürchten, dass mächtige Staaten die jeweiligen Institutionen sonst nicht unterstützen oder gar torpedieren. Dass damit aber wichtige Normen der Gerechtigkeit verletzt werden, sollte nicht aus den Augen verloren werden. Jeder umsetzbare Schritt in Richtung einer gerechteren Einflussverteilung sollte aus dieser Sicht gegangen werden. Als die modernen Nationalstaaten in Europa freie Wahlen einführten, galt zunächst meist ein Zensuswahlrecht. Ob die Bürger (Frauen waren meist ausgeschlossen) wählen durften oder wie viel ihre Stimme zählte, richtete sich danach, wie viel Vermögen oder Landbesitz sie hatten oder wie viel Steuern sie zahlten. Zumindest was die formalen Prozeduren der Entscheidungsfindung angeht, sind wir aber in demokratischen Staaten nicht mehr bereit, solche Unterschiede zu akzeptieren. Vielleicht schaffen wir es irgendwann, die Institutionen der Global Governance ebenfalls als öffentliche Institutionen aufzufassen, in denen all diejenigen eine Stimme haben, die von den Entscheidungen betroffen sind.

Warum unser enger Blick auf Armut ihre Beseitigung behindert

Thu, 10/17/2019 - 11:58
Bonn, 17.10.2019. Am 17. Oktober 1987 versammelten sich in Paris auf Initiative von Pater Joseph Wresinski rund 100.000 Menschen, um mit Nachdruck zu erklären, dass Armut eine Verletzung der Menschenrechte ist. Angeregt durch dieses Großereignis erklärten die Vereinten Nationen 1992 dieses Datum offiziell zum Internationalen Tag für die Beseitigung der Armut. Heute, mehr als drei Jahrzehnte nach dem Ereignis von Paris, gilt die Beseitigung der Armut immer noch als „die größte globale Herausforderung“, wie unlängst das hochrangige politische Forum der Vereinten Nationen (HLPF) für nachhaltige Entwicklung betonte. Da die vergangenen Jahrzehnte eine deutliche Verringerung extremer Armut gebracht haben, mag dies wie eine Übertreibung erscheinen. 1990 lebte mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung in extremer Armut (von der Weltbank definiert als Einkommen unter 1,90 $ pro Tag). Bis 2015 sank dieser Wert auf ein Zehntel. Soweit also gute Nachrichten. Doch weil sich die weltweite Verringerung der Armut in jüngster Zeit verlangsamt hat, spricht vieles dafür, dass Armutsbekämpfung weiterhin ganz oben auf der Tagesordnung steht: Als Folge der Verlangsamung wird die Welt voraussichtlich das Ziel der Beseitigung der Armut bis 2030 verfehlen, vor allem wenn die prognostizierten negativen Folgen des Klimawandels in Bezug auf Armut eintreten. Um diesen Trend umzukehren, ist ein besseres Verständnis von Armut erforderlich.  Sowohl das Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG) 1 als auch der Internationale Tag für die Beseitigung der Armut fordern, Armut und Elend in all ihren Formen überall zu beenden. Diese Verpflichtung hat zwei Implikationen. Erstens ist es notwendig, über eine auf Einkommensmangel basierende Armutskonzeption hinauszugehen und die Mehrdimensionalität von Armut anzuerkennen. Dies bedeutet, Armut als Mangel an hinreichender Bildung, Gesundheit, menschenwürdiger Arbeit und anderen wichtigen Dimensionen menschlichen Lebens zu betrachten. In einer aktuellen Studie haben wir gezeigt, dass das Niveau der multidimensionalen Armut viel höher ist als das der Einkommensarmut. Überdies war der Rückgang der multidimensionalen Armut zwischen 2000 und 2012 deutlich geringer als der der Einkommensarmut. Zum Zweiten sind die Erfolge bei der Armutsbekämpfung sowohl beim Einkommen als auch bei der multidimensionalen Armut in einzelnen Regionen sehr unterschiedlich. Die globale Verringerung der Armut wurde von China und anderen asiatischen Ländern getragen. Einige Regionen haben nur sehr geringe Verbesserungen verzeichnet. Die absolute Zahl der Menschen, die in Subsahara-Afrika in extremer Armut leben, nimmt sogar zu. Dort leben 85 Prozent der Bevölkerung mit einem täglichen Einkommen, das unter dem Preis einer Tasse Kaffee in New York liegt. Zugleich werden ländliche Gebiete in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen von den nationalen Regierungen vernachlässigt. Ihre Armutsquoten sind im Durchschnitt etwa drei- bis viermal so hoch wie in städtischen Gebieten.  Diese Entwicklungen zeigen, dass business as usual nicht überall die Armut in all ihren Formen beseitigen wird. Entscheidungsträger müssen unterschiedliche Strategien verfolgen. Auch wenn Wirtschaftswachstum weiterhin wichtig ist, um Wohlstand und Arbeitsplätze zu schaffen, ist es weder ausreichend noch ökologisch nachhaltig, vor allem darauf zu setzen. Die Bekämpfung der Armut erfordert vielmehr Sozialpolitiken, insbesondere Programme zur sozialen Sicherheit. Die Erfahrungen mit großangelegten Programmen, insbesondere mit social cash transfer-Programmen in Lateinamerika, zeigen, dass derartige Instrumente sehr effektiv sein können, wenn es darum geht, niemanden zurückzulassen. Sie reduzieren erfolgreich Ungleichheit und damit sowohl Einkommens- als auch multidimensionale Armut. Die Zahl der Programme und ihr Umfang sind auch in Asien schnell gewachsen. Die Situation in Subsahara-Afrika ist jedoch ganz anders, wie ein aktueller Bericht des UNDP verdeutlicht, der die anhaltende Armut in der Region teilweise erklärt. Trotz der Tatsache, dass das Recht auf sozialen Schutz in einer wachsenden Zahl von Verfassungen genannt wird und trotz der zunehmenden Zahl von Sozialprogrammen, müssen schätzungsweise 87 Prozent der Bevölkerung in Subsahara-Afrika ohne jegliche Sozialleistungen auskommen.  Der 1988 verstorbene Pater Joseph Wresinski würde sich sicherlich über die weltweiten Fortschritte bei der Armutsbekämpfung seit der Kundgebung in Paris freuen. Sein Aufruf zum Handeln sollte jedoch in den Köpfen von Entscheidungsträgern lebendig bleiben, wenn wir die Armut endgültig überwinden wollen. In diesem Sinne muss die Beseitigung der Armut im Zentrum der internationalen Agenda bleiben, auch wenn sich das jüngste UN-HLPF-Treffen auf die akute Klimakrise konzentrierte; dabei sollte der Fokus auf Synergien mit Klimaschutzmaßnahmen liegen. Politische Anstrengungen müssen den Ländern in Afrika südlich der Sahara Vorrang geben, in denen Armut im Wesentlichen unverändert geblieben ist, sowie ländlichen Gebieten, die bei der Verteilung nationaler Ressourcen immer noch benachteiligt werden. Systeme der sozialen Sicherheit bieten praktikable Lösungen, doch ist es wichtig, ihre Qualität zu verbessern und die staatliche Eigenverantwortung für die Programme zu erhöhen. Schließlich kann die Forschung eine wichtige Rolle spielen, insbesondere durch die Entwicklung besserer Verfahren zur Messung von Armut. Nur wenn wir besser verstehen, wer die Armen sind, wo sie leben und worin die Ursachen der Armut liegen, können wir effektivere Politiken entwickeln und die Armut ein für alle Mal beseitigen. 

Governance-Mechanismus für langsam eintretende Klimaänderungen auf dem Prüfstand

Mon, 10/14/2019 - 10:00
Bonn, 14.10.2019. Wetterextreme und Katastrophen, die durch die globale Erwärmung verursacht werden, wie Überschwemmungen, Hurrikane und Hitzewellen, erhalten zunehmend Aufmerksamkeit in den Medien und den politischen Debatten. Schleichende Folgen des Klimawandels wie der Anstieg des Meeresspiegels, die Versauerung der Ozeane, der Rückzug der Gletscher, die Degradation von Böden und der Verlust der biologischen Vielfalt sind ebenfalls schwerwiegend und dürfen nicht übersehen werden. Im Jahr 2013 erkannten die Vertragsparteien der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) die zunehmenden Klimarisiken an und schufen den Warschauer Internationalen Mechanismus für Verluste und Schäden (WIM). Der WIM leistet Entwicklungsländern technische Hilfe, um bleibende Verluste und Schäden infolge des Klimawandels zu vermeiden, zu minimieren und zu beheben. In der kommenden Woche trifft sich das Exekutivkomitee (ExCom) des WIM in Bonn, um unter anderem darüber zu diskutieren, wie es seine Aktivitäten unter dem Dach der UNFCCC am besten koordinieren kann. Dieses Treffen ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil im Dezember bei der UN-Klimakonferenz (COP25) in Chile Struktur, Mandat und Wirksamkeit des WIM auf dem Prüfstand stehen werden. Aktuelle wissenschaftliche Befunde des Weltklimarats (IPCC) geben alarmierend klare Einschätzungen zu den beobachteten und potenziellen Klimafolgen ab. Der Sonderbericht 2018 über die Auswirkungen der globalen Erwärmung von 1,5 °C weist auf einen erheblichen Unterschied zwischen den Auswirkungen einer globalen Erwärmung um 1,5 °C gegenüber 2 °C hin. Der Sonderbericht über Klimawandel und Land (2019) bewertet den Verlust von Nutzflächen durch Wüstenbildung und extreme Bodenerosion, samt ihrer Folgen für landwirtschaftliche Produktion und Ernährungssicherheit. Der kürzlich veröffentlichte Sonderbericht über die Ozeane und die Kryosphäre in einem sich ändernden Klima beleuchtet die Folgen von großen Schäden an Eisschilden und Gletschern, einer schrumpfenden Schneedecke und schwindendem Eis in der Arktis, auftauenden Permafrostböden und deren Auswirkungen auf die menschlichen Lebensbedingungen. Der aktuelle Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) betont zudem die Kaskadeneffekte einer raschen Zerstörung von Natur und Biodiversität. Was all diese Berichte miteinander verbindet, ist die Dringlichkeit von Maßnahmen zum Aufbau von Resilienz – nicht nur gegenüber plötzlich einsetzenden Extremereignissen, sondern auch gegenüber den schleichenden Auswirkungen des Klimawandels. Selbst wenn die globale Erwärmung auf 1,5 °C begrenzt werden kann, bleiben enorme Risiken von Verlusten und Schäden bestehen. Die damit verbundenen Auswirkungen auf Armut, Gesundheit und menschliche Sicherheit haben langfristige Auswirkungen auf nachhaltige Entwicklung. Soziale, wirtschaftliche und politische Faktoren, z. B. die Nutzung und Bewirtschaftung von Land- und Wasserressourcen, sind ein wesentlicher Teil der Risikogleichung. Schon jetzt tragen Meeres-, Land- und Süßwasserökosysteme die Hauptlast der kumulativen Folgen von Übernutzung und Verschmutzung. Diese Effekte erhöhen das Risiko von Verlusten und Schäden durch langsam ablaufende Prozesse. Ein integrierter, kohärenter, koordinierter und langfristiger Ansatz für das klimabezogene Risikomanagement ist erforderlich, um der Komplexität der Risiken und der Vielzahl von Reaktionsmöglichkeiten bei langsam auftretenden Ereignissen gerecht zu werden. Dies spiegelt sich auch in Artikel 8 des Pariser Abkommens wider, der „die Rolle der nachhaltigen Entwicklung bei der Verringerung des Risikos von Verlusten und Schäden“ hervorhebt. Maßnahmen zur Minderung von Verlusten und Schäden sollten mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) sowie mit weiteren Prozessen und Institutionen, die die Klima- und Entwicklungspolitik heute prägen, in Einklang stehen. Dem WIM fehlt jedoch derzeit die Anbindung an andere internationale Prozesse und Institutionen. Eher früher als später sollte sich der WIM an verschiedenen etablierten Regelwerken orientieren, z. B. (1) „Land Degradation Neutrality“ gemäß der UN-Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung (UNCCD), (2) den Aichi-Zielen der Konvention über die biologische Vielfalt (CBD) und vor allem (3) der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Eine enge Verzahnung kann dazu beitragen, die mit allmählich auftretenden Klimafolgen verbundenen Risiken gezielter anzugehen. Dies kann in verschiedenen Sektoren von Nutzen sein, etwa der Gesundheit, beim sauberen Wasser, der Bodenproduktivität und der Biodiversität. Es wird ebenfalls von zentraler Bedeutung für eine erfolgreiche Umsetzung sein, ein breites Spektrum von Akteuren auf lokaler und regionaler Ebene, darunter der Privatsektor, öffentlich-private Partnerschaften, Städte und Regionen, einzubeziehen. Mit der Sitzung des Exekutivkomitees in der nächsten Woche und der bevorstehenden COP25 in Chile befindet sich der WIM in einer kritischen Phase. Den Governance-Mechanismus zu stärken wird entscheidend sein, um auf nationaler Ebene Maßnahmen zur Bewältigung langsam auftretender Klimarisiken zu ermöglichen. Die bevorstehende Überprüfung des WIM bietet hierzu eine gute Gelegenheit – sie sollte genutzt werden.

Wissenschaft muss sich (wieder) ihren Kritikern stellen

Wed, 10/09/2019 - 11:10
Bonn, 09.10.2019. Wissenschaftliches Wissen als Grundlage für Politikgestaltung befindet sich derzeit in der Defensive. Mit gesunder Skepsis allein lassen sich die neu aufkommende Wissenschaftsfeindlichkeit und der Antiintellektualismus nicht erklären. Hat die Wissenschaft vielleicht auch selbst dazu beigetragen? Die gegen Wissenschaft gerichtete Stimmung hat eine erschreckende Dynamik entwickelt. Klimawandel-Leugner, Impfgegner und Anhänger der Vorstellung, die Erde sei eine Scheibe begründen ihre Überlegungen mit „alternativen Fakten“ und ergänzen sie durch Angriffe auf die Wissenschaft. Zugleich zögern viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, eine öffentliche Debatte zu führen und sich zu verteidigen. Damit – so das Argument – würden sie nicht nur der Anti-Wissenschaftsbewegung Legitimität verleihen, sondern auch den Antiintellektualismus hoffähig machen. Diese Zurückhaltung ist für die Verteidigung von Wissenschaft nicht hilfreich Zwei Beispiele: In den ersten beiden Monaten 2019 wurden auf den Philippinen rekordverdächtige 8.443 Masernfälle mit mehr als 130 Toten gemeldet. Der Ausbruch wurde auf Ängste vor Impfungen zurückgeführt, die durch Falschinformationen ausgelöst worden waren. Brasiliens neue Regierung fror 43 Prozent des Budgets für das Wissenschaftsministerium ein, kappte 30 Prozent der Mittel für Bundesuniversitäten und setzte mehr als 80.000 Stipendien für junge Forscher aus. Das erste Beispiel zeigt die Bedrohung von Leben durch Misstrauen gegen den Impfschutz. Das zweite Beispiel zeigt, wie ein Land seine Fähigkeit eines Landes selber Wissen zu schaffen und in die eigene Zukunft zu investieren, drastisch verringert. Die Anti-Wissenschaftsbewegung stellt vier Behauptungen auf, mit denen sie die Wissenschaft angreift. Diesetreffen wunde Punkte im Verhältnis zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Wissenschaftler müssen lernen, dem Misstrauen entgegenzustellen, das so in der Öffentlichkeit geschürt wird. Im Folgenden daher eine Gegenprüfung dieser Behauptungen: Erste Behauptung: Wissenschaft beruht auf Dogmen und stellt diese nicht zur Diskussion. Wissenschaftler müssen immer wieder die Voraussetzungen für qualitativ hochwertige wissenschaftliche Arbeit erklären. Wissenschaft baut nicht auf statischen Dogmen auf, sondern auf Annahmen, die in verschiedenen Phasen überprüft werden: durch theoretische Reflexion, den Austausch von Sichtweisen und durch empirische Forschung. Wissenschaftliche Ergebnisse sind so das Resultat eines Reifungsprozesses. Darüber hinaus sollten wissenschaftliche Experten transparent handeln und – wenn sie in den politischen Diskurs gehen – deutlich kommunizieren, wenn sie politische Schlussfolgerungen aus ihren wissenschaftlichen Einsichten ziehen. Zweite Behauptung: Wissenschaftler sind voreingenommen. Wissenschaftler sollten sich nicht scheuen zuzugeben, dass sie selbst Menschen mit Wertesystemen sind, die auf Erfahrungen aufbauen. Sie sollten jedoch sicherstellen, dass diese Wertesysteme ihre wissenschaftliche Arbeit nicht verfälschen. Dafür gibt es wissenschaftliche Methoden und Regeln. Wissenschaftler verpflichten sich auf die Einhaltung dieser Regeln und Methoden, und wissenschaftliche Einrichtungen wie auch Verlagshäuser müssen sicherstellen, dass sich alle Mitglieder an diese Regeln und Methoden halten. Dritte Behauptung: Wissenschaftler sind unfähig, brauchbare Lösungen zu liefern. Wissenschaftler werden oft als Orakel dargestellt, die keine konkreten Lösungen bieten. Zwar können Wissenschaftler politikrelevante Inputs erarbeiten und unterschiedliche Szenarien oder das Kosten-Nutzen-Verhältnis bestimmter politischer Maßnahmen analysieren. Sie sollten aber stets deutlich machen, dass komplexen Problemen in der Regel nicht mit einfachen Lösungen beizukommen ist und dass es nicht ihre gesellschaftliche Aufgabe ist, politische Entscheidungen zu treffen. Lösungen orientieren sich an Wertentscheidungen, die nicht von Wissenschaftlern, sondern von Politikern getroffen werden. Wissenschaftler sollten sich laut und deutlich zu Wort melden, wenn ihre wissenschaftlichen Ergebnisse von politischen Akteuren missbraucht werden. Vierte Behauptung: Wissenschaftler predigen die Rettung des Planeten und fliegen dennoch zu Auslandskonferenzen, die Tonnen von Emissionen verursachen. Wissenschaftler fahren auf Konferenzen, um Ideen auszutauschen, Forschungsergebnisse vorzustellen und sich der kritischen Auseinandersetzung mit Kollegen zu stellen. Sie erfahren dort von neuen Studien und vernetzen sich mit anderen Forschungseinrichtungen. Das ist wichtig. Dennoch sollten Wissenschaftler überlegen, ob sie lediglich akademischen Tourismus betreiben oder ob ihre Teilnahme an Konferenzen oder ihre Feldforschung im Ausland die dabei entstehenden Umweltwirkungen rechtfertigt oder sogar aufwiegt. Worum geht es uns? Die Wissenschaft hat empfindliche Stellen, an denen sie getroffen werden kann. Kritik ist dann wohlfeil, wenn sie sich selber nicht an Wahrheit und Logik, den Grundpfeilern von Wissenschaft, orientiert, dies aber von der Wissenschaft einfordert. Wohlfeile Kritik nennt weder Quellen noch führt sie Nachweise oder deckt Plagiate auf. Wir Wissenschaftler müssen unser Anliegen nicht nur auf Fakten zurückführen, wir müssen die Fakten auch interessant und reizvoll machen, indem wir Licht auf den eigentlichen Zweck unseres Tuns werfen – nämlich das menschliche Wohlergehen zu fördern.

Überlebt der Amazonas-Regenwald die populistische Regierung?

Mon, 09/30/2019 - 10:54
Bonn, 30.09.2019. Die Brände im Amazonas-Gebiet gefährden nicht nur das Erdklima, sondern schüren auch weltweit diplomatische Spannungen. Vor noch nicht allzu langer Zeit galt Brasilien als aufstrebende Volkswirtschaft, die die globale Landschaft mitgestalten würde. Doch unter der Führung von Jair Bolsonaro hat sich das Image Brasiliens drastisch verändert. Wie andere rechtspopulistische Politiker beeinflusst er die Weltpolitik zum Negativen und untergräbt die Bemühungen zur Erreichung der globalen Entwicklungsziele. Nativismus und Anti-Elitismus sind kennzeichnend für den Rechtspopulismus. Anders ausgedrückt geben Rechtspopulisten vor, ihren Nationalstaat vor mutmaßlichen äußeren und inneren kulturellen, wirtschaftlichen oder sicherheitsbezogenen Bedrohungen zu schützen. Sie beanspruchen dabei für sich, den „Willen des Volkes“ zu vertreten, bedienen sich dazu aber einer illiberalen Form der Demokratie, die diesen letztlich untergräbt, da sie institutionelle Kontrollmechanismen umgehen sowie Rechtsstaatlichkeit und Rechte von Minderheiten missachten. Multilateralismus lehnen sie ab und stellen die Interessen des „eigenen Volkes“ in den Vordergrund. Und so können wir Zeuge werden, wie sich Nationen von ihren globalen Verpflichtungen lossagen, wie es in Brasilien geschieht. Dies bedroht die gemeinsamen Anstrengungen zur Förderung und Erhaltung globaler Gemeinschaftsgüter. Die Maßnahmen Bolsonaros tragen zur Zerstörung des Amazonas-Gebiets bei, das als Kohlenstoffsenke eine besondere Bedeutung für den Klimaschutz hat und zudem eine wichtige Rolle für die regionale und globale Klimaregulierung spielt. Bolsonaro strich verschiedene Maßnahmen gegen die Abholzung und ebnete damit der Umweltzerstörung den Weg. Er entließ den Direktor der für die Überwachung der Abholzung zuständigen Behörde, lockerte die staatlichen Kontrollen der Grundeigentümer und beschuldigte sogar NGOs, die Brände selbst gelegt zu haben. Ähnlich wie US-Präsident Donald Trump und andere populistische Politiker, legitimiert auch er eine antiökologische, antiakademische und nationalistische Rhetorik, die den Klimawandel leugnet, ökologische Mindeststandards untergräbt und sogar Gewalt gegenüber indigenen Völkern fördert. Vor diesem Hintergrund haben die Reaktionen der führenden Politiker aus aller Welt auf die Brände im Amazonas-Gebiet der nationalistischen Rhetorik Bolsonaros im eigenen Land noch Auftrieb verliehen. So war Brasilien nicht eingeladen, an den Amazonas-Gesprächen beim G7-Treffen in Frankreich teilzunehmen. Dies erweckte einen neokolonialen Anschein und machte das Argument der brasilianischen Regierung, dass sie ihre Souveränität über die Amazonas-Region schützen müsse, glaubwürdig. Die Angst vor internationalem Neid auf die Reichtümer des Amazonas ist nicht neu. Dieses Mal aber nährt sie den Glauben an eine Verschwörung der reichen Länder, die versuchen würden, die wirtschaftliche Entwicklung Brasiliens zu behindern. Am Unabhängigkeitstag Brasiliens appellierte Bolsonaro an seine Anhänger, in den Farben der Flagge auf die Straße zu gehen, um „zu zeigen, dass der Amazonas den Brasilianern gehört“. Wie wichtig es ist, den Amazonas-Regenwald zu erhalten ist aus Sicht der internationalen Gemeinschaft offensichtlich.  Dies ist jedoch weder im Hinblick auf nationale Souveränität noch aus der Perspektive nachhaltiger Entwicklung eine einfache Aufgabe. Viele Brasilianer sind der Auffassung, dass die Ausbeutung des Amazonas-Gebiets für das Wirtschaftswachstum unerlässlich sei. Investitionen in die Region sind vor allem auch für die lokalen Gemeinschaften wichtig, die für ihr Überleben auf natürliche Ressourcen angewiesen sind. Trotzdem sollte eine Entwicklung auf nachhaltige und integrative Weise erfolgen, was nach wie vor eine Herausforderung darstellt. Welchen Ausweg gibt es? Auf innenpolitischer Ebene sollte sich die Opposition um Themen wie Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung zusammenschließen. Die Gruppe der linken Parteien, von denen die Arbeiterpartei den größten Anteil der Sitze im Parlament hat, ist jedoch fragmentiert und hat keinen glaubwürdigen Plan. Druck sollte insbesondere von der Zivilgesellschaft und den Gerichten ausgehen, ähnlich wie bei den Protesten in mehreren brasilianischen Städten gegen die Kürzung der Staatsausgaben für Hochschulbildung im Mai 2019. Auf internationaler Ebene drohen Länder wie Österreich, Frankreich und Irland damit, das Handelsabkommen EU-Mercosur nicht zu ratifizieren. Dies könnte Bolsonaro zwingen, seine Umweltpolitik zu überdenken, da Wirtschaftswachstum zu seinen zentralen Versprechungen gehörte. Die Regierung muss die Abholzung kontrollieren, indem Gesetze zum Erhalt der Schutzgebiete auch durchgesetzt werden. Darüber hinaus sollte die internationale Zusammenarbeit lokale Entwicklungsinitiativen anerkennen und unterstützen, die Einkommensgenerierung und Umweltschutz miteinander verbinden. Ein Beispiel ist das Projekt des mit dem Äquatorpreis 2019 ausgezeichneten indigenen Vereins „Kisêdjê“, in dem zerstörte Waldflächen mit einheimischen Pequi-Bäumen wieder aufgeforstet werden. Für die lokalen Gemeinschaften stellen solche Maßnahmen zudem eine Alternative zur Beschäftigung im landwirtschaftlichen Großbetrieb dar.

Agrar- und Ernährungsthemen verdienen zentrale Rolle

Mon, 05/06/2019 - 09:00
Bonn, 06.05.2019. Vor dem G20-Gipfel im Juni in Japan eröffnen die Agrarminister auch dieses Jahr wieder die Serie der Fachministertreffen der G20. Doch Landwirtschaft und Ernährungssicherung sind erst seit Kurzem wichtige Themen der internationalen Politik. In Zeiten niedriger Agrar-Weltmarktpreise in den 1990er und 2000er-Jahren waren sie eher Nischenthemen. Sie wurden als Hemmfaktoren bei internationalen Handelsvereinbarungen wahrgenommen, als Probleme lokaler Entwicklung, und galten allenfalls in der Entwicklungszusammenarbeit als Schwerpunkte. Doch selbst dort hatten die beiden Themen oft einen schweren Stand: Der Anteil der Landwirtschaft an der gesamten internationalen Entwicklungszusammenarbeit sank von 15-20% in den 1980er Jahren auf unter 5% Ende der 1990er. Erst mit der Agrarpreiskrise 2007/2008 änderte sich das Interesse deutlich. Mit der Verdopplung und Verdreifachung vieler internationaler Nahrungsmittelpreise in kurzer Zeit kam es zu einer weltweiten Zunahme an Armut und Hunger und zur Furcht vor globaler Nahrungsmittelknappheit. Während die Welternährungssituation vor der Krise nicht viel besser war, waren es dieses Mal  nicht die Landbewohner, sondern die städtischen Armuts- und Mitteleinkommens-Schichten, die litten. In vielen Entwicklungsländern gab es politische Unruhen. Damit schafften es Agrar- und Ernährungsthemen wieder auf die internationale Agenda. Die G8 verpflichteten sich 2009 auf ihrem Gipfel in Aquila, Italien, ihre Hilfen für Agrar- und Ernährungssicherungsthemen deutlich anzuheben. 2011 nahm die G20 die Themen auf, führte sie allerdings nach 2012 zunächst nicht weiter. Erst seit 2015 gibt es eine permanente Arbeitsgruppe „Landwirtschaft“ innerhalb der G20. Auf der Agenda beim Agrarministertreffen am 11. und 12. Mai im japanischen Niigata stehen nun alte und neue Themen: Das Agrarmarkt-Informationssystem AMIS, 2011 das erste G20-Agrarthema, braucht eine dauerhafte Finanzierung. Die Digitalisierung der Landwirtschaft muss vorangetrieben werden. Sie war 2016 von China eingebracht worden und war ebenso ein Schwerpunkt der deutschen G20-Präsidentschaft wie die Ausstiegspläne für den Verzicht auf Antibiotika als Wachstumsförderer in der Tiermast, die jedes Land bis 2020 vorlegen soll. Nachdem 2017 Wasser und 2018 Boden schon Themen der G20 waren, kommen in diesem Jahr Agrarwertschöpfungsketten und das gesamte Nahrungssystems neu hinzu. Damit werden voraussichtlich auch weitere ökologische Probleme der Landwirtschaft wie Biodiversität und ihr Beitrag zum Klimawandel angesprochen. Landwirtschaft heute muss sich mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen befassen: Der Sektor konsumiert etwa 70-80% des Wassers weltweit. Dies bedeutet nicht nur eine dominante Konkurrenz zu anderen Bereichen menschlichen Wasserverbrauchs (Trinkwasser, Industrie), sondern auch für Gewässer-Ökosysteme, für die gerade in Trockenperioden oft kaum etwas übrigbleibt. Die Landwirtschaft trägt ca. 10-30% zur Emission von klimarelevanten Gasen bei – je nach Berechnung und Zuordnung, bspw. ob und wie Entwaldung und Aufforstung, Nahrungsverarbeitung oder Konsum bzw. Verschwendung dem Sektor zugeschrieben werden. Ein großer Teil der Bedrohung der Biodiversität des Planeten geht auf die Ausdehnung und Intensivierung der Landwirtschaft zurück. Auch ein erheblicher Anteil der Plastikverpackungen und der entsprechenden Umweltverschmutzung entfallen auf den Nahrungssektor. Das Nahrungssystem wird auch für einen erheblichen Teil von Krankheiten verantwortlich gemacht wie Mangelernährung oder Zivilisationskrankheiten wie Fettleibigkeit oder Diabetes. Aber Landwirtschaft stellt nicht nur quasi per Definition einen Eingriff in die Natur dar und nutzt, verbraucht oder zerstört dabei Naturressourcen. Sie ist gleichzeitig die Quelle fast der gesamten Nahrung der Menschheit, eines großen Teils der Einkommen armer Haushalte in ärmeren Ländern, und häufig sogar der Artenvielfalt. Eine simple Verteufelung ist daher nicht hilfreich. Während sich die reichen Industrieländer sicher mehr Umwelt- und Klimaschutz in der Landwirtschaft leisten können und müssen, geht es in armen Ländern den Kleinbauern zunächst ums bloße Überleben und darum, fundamentale Bedürfnisse zu stillen. Längerfristige Überlegungen, wie die eigenen Überlebensgrundlagen erhalten werden können oder wie die Umwelt geschützt werden kann, haben oft nur wenig Platz. Um zu tragfähigen Lösungen zu kommen, sollte nicht über die Landwirtschaft und die Landwirte, sondern mit ihnen debattiert werden. Nur gemeinsam können effiziente und realistische Strategien gefunden werden. In Entwicklungsländern ist eine Regulierung gegen die Interessen der Bauern angesichts der schwachen Durchsetzungskraft des Staates im ländlichen Raum so gut wie ausgeschlossen. Umweltschutz kann dort nur erreicht werden, wenn die Bauern von umweltfreundlichen Politiken profitieren. Landwirtschaft und Ernährungssicherung gehören daher in die G20, wo oft sehr unterschiedliche Ernährungs- und Agrarprobleme an einem Tisch sitzen. Dort kann auch aus den Fehlern früherer Agrarstrategien in Industrieländern gelernt werden. Der Agrarsektor muss eng mit anderen Politikfeldern abgestimmt werden, in reichen Ländern eher mit den Umwelt- und Gesundheitsthemen, in Entwicklungsländern auch mit Wirtschafts- und sozialen Ressorts. Was wir brauchen, ist eine systemische Perspektive, die statt des Agrarsektors die gesamte Nahrungskette von der Produktion über die Verarbeitung bis zum Verbrauch und zur Abfallwirtschaft betrachtet.

Südafrikas globale Bedeutung schwindet

Mon, 04/29/2019 - 09:00
Bonn, 29.04.2019. Am 27. April haben sich in Südafrika die ersten freien und allgemeinen Wahlen zum 25. Mal gejährt. Ähnlich wie der Fall der Berliner Mauer verkörpern sie einen globalen Epochenwechsel. Südafrikas Rolle im globalen Gefüge hat sich seither mehrfach verändert, zuletzt nicht zum Besseren. Am 8. Mai stehen wieder Parlamentswahlen an, die von der korruptionsgeschüttelten Regierungspartei zwar souverän gewonnen und dennoch schwierig werden könnten. An der schrumpfenden globalen Rolle Südafrikas werden sie allerdings kaum etwas ändern. Die Südafrikaner gedenken jedes Jahr am 27. April – Freedom Day – dem Ende der Apartheid. Auch im globalen Gefüge kam es in dieser Zeit zu grundlegenden Veränderungen, nicht zuletzt durch einen globalen Bedeutungszuwachs einer Reihe von Staaten des Globalen Südens; darunter China, Indien und Brasilien – und eben auch Südafrika. Südafrika als Globalisierungsgewinner… Trotz, oder vielleicht auch wegen, globaler Veränderungen werden diese Mächte des Südens in außenpolitischen Diskussionen oftmals als „Status Quo Mächte“ bezeichnet. Ihnen wird ein Streben nach dem Erhalt der multilateralen und regelbasierten globalen Ordnung nachgesagt. Südafrika tue gut daran das Regelsysteme der globalen Ordnung zu bewahren, dass ihm und anderen Staaten des Südens den Aufstieg ermöglichte, so die Argumentation. Südafrika liegt beispielsweise laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung „nur“ auf Platz 35 der Globalisierungsgewinner, allerdings als erster Nicht-OECD-Staat. In der Tat sind es die Staaten, die die deutsche Entwicklungspolitik als „Globale Entwicklungspartner“ bezeichnet, die wie auch Deutschland, Europa und viele Industriestaaten, von Multilateralismus und regelbasierter Globalisierung profitieren. Die letzten 25 Jahre haben viele Veränderungen zum Guten gebracht und Südafrika eine positive globale Rolle als möglicher Mitgestalter einer globalen Ordnung beschert. Die Aufnahme Südafrikas in die BRICS im Jahr 2013 kann als Zenit der globalen Bedeutung des Landes gesehen werden. Das Land ist vom internationalen Paria zum gesuchten Partner geworden – und hat dennoch in den letzten Jahren einen Bedeutungsverlust erfahren. … mit massiven innenpolitischen Problemen Die letzten Jahre der Zuma-Präsidentschaft waren verlorene Jahre für Südafrika. Das mit dem Anbruch der demokratischen Ordnung erstarkte Wirtschaftswachstum hat sich deutlich abgeschwächt. Wenn man das Bevölkerungswachstums berücksichtigt, muss man sogar von Stagnation oder Rückfall sprechen. Auch ein Strukturwandel kam nicht in Gange, von einer schnellen Transformation des Wirtschaftsmodells hin zu mehr Nachhaltigkeit ganz zu schweigen. Tiefgreifende Veränderungen hat auch der seit 2018 amtierende Präsident Cyril Ramaphosa bisher nicht angestoßen; zu stark ist der Zwang innerhalb der Regierungspartei Einheit zu bewahren. Erst die Wahlen am 8. Mai könnten die Koalitionen innerhalb der Regierungspartei verschieben und notwendige Veränderungen ermöglichen. Die Höhe des erwarteten Ergebnisses der Regierungspartei ist hierbei entscheidender als die Tatsache der Wahlsieges an sich. Präsident Ramaphosa weiß um die Bedeutung von interner Stabilität, um notwendige Investitionen anzuziehen; zugleich bremst ihn diese Erkenntnis. Globale Transformation mit Südafrika als Partner? Investitionen sind insbesondere notwendig, wenn Südafrika selbst nachhaltiger beziehungsweise zukunftstauglicher werden soll. Bisher ist das Land auch in Afrika kein Vorreiter, wie die Klimapolitik als ein Beispiel für globale Diskussionen illustriert. Südafrika ist weltweit der vierzehntgrößte CO2-Emittent und produziert pro Kopf der Bevölkerung etwa die gleiche Menge Kohlendioxid wie Deutschland (rund 10 metrische Tonnen pro Jahr) – bei deutlich größerer gesellschaftlicher Ungleichheit. Mit anderen Worten: eine kleinere Oberschicht lebt massiv über den globalen Verhältnisse. Trotz riesigem Potential in der erneuerbaren Energie, nicht zuletzt Solarstrom, decken diese weniger als acht Prozent der Energieversorgung, während Kohle nahezu 80 Prozent ausmacht. Aus Gründen der Patronage und der Korruption wurde unter Präsident Zuma neben der traditionellen Kohle vor allem die teure Atomenergie gefördert. Der gegenwärtig zunehmend raue globale Wind bremst Südafrika zusätzlich. Bei rauerer See geraten kleinere Boote schnell ins Schlingern – und Südafrika wirkt zwischen den großen Tankern der anderen BRICS, der Europäischen Union und den USA immer kleiner. Ein verlässlicher Kompass und Stabilität an Bord wären in dieser Situation besonders wichtig; war im Präsidialamt in Pretoria in den letzten Jahren aber nicht erkennbar. Es ist fraglich, ob das Land unter Präsident Ramaphosa an Fahrt gewinnt. Er wird nur schwerlich nach den Wahlen seine tief zerstrittene Partei geschlossen hinter sich versammeln. Auch nach den anstehenden Wahlen am 8. Mai lässt sich nach aller Voraussicht auf keine südafrikanische Renaissance hoffen: Zwar bleibt Südafrika als einziges afrikanisches G20-Land global bedeutsam, kann sich aber auf diesem Status nicht ausruhen. Es droht weiterer globaler Bedeutungsverlust.

Warum El-Sisis Erhöhung des ägyptischen Mindestlohns fehlschlagen könnte

Mon, 04/15/2019 - 09:00
Bonn, 15.04.2019. Ägyptens Präsident El-Sisi hat kürzlich angekündigt, den Mindestlohn um 67 Prozent von 1.200 (69,27 US-Dollar) auf 2.000 ägyptische Pfund (115,74 US-Dollar) pro Monat zu erhöhen. Er versprach den Staatsbediensteten außerdem eine Lohnerhöhung um sieben Prozent sowie einen einmaligen Bonus von 150 ägyptischen Pfund. Sisi hat die Erhöhungen als Lohn für die Opfer der Menschen bei der Bewältigung der Sparmaßnahmen angekündigt, die als Gegenleistung für den 12 Mrd. US-Dollar Kredit des Internationalen Währungsfonds umgesetzt wurden. Maßnahmen wie das Floaten der Währung, deutliche Subventionskürzungen und die Einführung neuer Steuern haben zu höheren Preisen beigetragen und die Ärmsten und die Mittelschicht am stärksten getroffen. Die Lohnerhöhung kann auch ein Versuch sein, die Wut der Menschen über die erwartbaren Ergebnisse des Referendums aufzufangen, was dem Präsidenten ermöglichen soll, das Land mindestens 20 Jahre lang zu regieren. Was auch immer der Grund sein mag: eine Erhöhung des Mindestlohns ist keine gute Idee. Der Mindestlohn im öffentlichen Sektor und die Lohnerhöhungen werden die Ungleichheit erhöhen und nicht verringern. Mit der Abkehr von der staatlich gelenkten Entwicklungsstrategie Ägyptens im Jahr 1991 wurde die Einstellung neuer Mitarbeiter im öffentlichen Sektor eingefroren. In der Folge schrumpfte die Beschäftigung im öffentlichen Sektor von 1998 bis 2012 um 16 Prozent. Doch der formelle Privatsektor konnte nur vier Prozent der eingesparten Arbeitsplätze ersetzen. So ist die Mehrheit der Mittelklassearbeiter, die aus dem öffentlichen Sektor ausschied, in den informellen Sektor gewechselt. Darüber hinaus mussten Neuankömmlinge auf dem Arbeitsmarkt meist die am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätze dieses Sektors annehmen. Da er nicht reguliert ist, hält sich der informelle Sektor nicht an den Mindestlohn. Tatsächlich sind die Löhne im informellen Sektor durch den Wettbewerbsdruck dramatisch gesunken – eine Folge des Zustroms von Arbeitskräften, der nicht mehr vom öffentlichen Sektor absorbiert wird. Dadurch sind an den Enden der Lohnskala riesige Lücken entstanden. Diese großen Unterschiede zwischen den ärmsten und reichsten Arbeitnehmern führen zu großer Ungleichheit bei den Löhnen. Die Erhöhung des Mindestlohns im öffentlichen Sektor und damit verbundene Lohnerhöhungen werden den Trend zu mehr Ungleichheit verschärfen. Aber die Mehrheit der ägyptischen Arbeitskräfte arbeitet außerhalb des formellen Sektors; 75 Prozent dieser Arbeitskräfte wiederum verdienen weniger als den Mindestlohn. Eine weitere Erhöhung des offiziellen Mindestlohns erhöht also nur die Löhne derjenigen, die bereits zur besser bezahlten Hälfte der Bevölkerung gehören; sie erhöht damit die Ungleichheit. Auf der Grundlage dieser Analyse gibt es eine Reihe von Empfehlungen. Erstens könnte die Regierung dem Beispiel Großbritanniens folgen und die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes einem Lohnstopp unterwerfen oder ihre Lohnerhöhungen auf ein Prozent pro Jahr begrenzen. Trotz ihrer relativ höheren Löhne sind auch die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes durch die Sparmaßnahmen schwer belastet worden. Diese Lösung beinhaltet daher ein hohes Risiko, soziale Unruhen zu erzeugen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, den informellen Sektor zu formalisieren, um ihn in die gesetzliche Mindestlohnregelung einzubeziehen. Unternehmen werden diesen Schritt nur dann gehen, wenn der Nutzen die Kosten überwiegt. Das wird nur der Fall sein, wenn mit der Formalisierung und höherer Löhne eine Qualifizierung der Arbeitskräfte einhergeht. Dies erfordert eine stärkere Bildungsförderung. Investitionen in Massenbildung und nicht in einen beliebigen Mindestlohn für die Arbeiteraristokratie sind geeignet, Ungleichheit zu verringern. Es gibt eine dritte Option, die im aktuellen ägyptischen Kontext besser funktionieren würde. Die Regierung Sisi könnte sich für den „effektiven Mindestlohn des informellen Sektors“ einsetzen, indem sie selbstgesteuerte öffentliche Bauprogramme durchführt, ähnlich denen, die durch den National Rural Employment Guarantee Act (NREGA) in Indien unterstützt werden, der jedem ländlichen Haushalt mindestens 100 Tage Arbeit mit einem garantierten Mindestlohn für Männer und Frauen garantiert. Wird innerhalb von 15 Tagen nach Antragstellung keine Arbeit angeboten, so haben die Antragsteller Anspruch auf Arbeitslosengeld. Die Beschäftigung im Rahmen des Systems ist somit ein Rechtsanspruch. Dieses Programm hat die Existenzsicherung in ländlichen Gebieten verbessert, ländliche Infrastruktur geschaffen (z.B. Straßen, Kanäle, Teiche und Brunnen), die Umwelt geschützt, die Land-Stadt-Migration (durch die Schaffung ländlicher Arbeitsplätze) verringert, die Frauen gestärkt und das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen in ländlichen Regionen abgebaut. Aber vor allem musste der informelle Sektor seit der Einführung des Systems mit diesem Programm für gering qualifizierte Arbeitskräfte konkurrieren, was den ungeregelten informellen Sektor zwang, seine eigenen „effektiven“ Löhne zu erhöhen. Langfristig können Programme wie NREGA einen Teil der Lohnungleichheit verringern und die Unsicherheit und Instabilität informeller Arbeitsplätze teilweise beseitigen. Sie können auch die informelle Arbeitskraft bei der Humankapitalbildung unterstützen, was möglicherweise Lohnsteigerungen bewirken und die derzeitige Niedriglohn- oder Informalitätsfalle der Geringqualifizierten durchbrechen könnte.

Die Unterstützung Nordafrikas durch die europäischen Länder ist inkohärent

Mon, 04/08/2019 - 09:00
Bonn, 08.04.2019. In den acht Jahren seit dem „Arabischen Frühling“ im Jahr 2011 haben die europäischen Regierungen die Entwicklung und Stabilität in Nordafrika durch mehr Entwicklungshilfe und mehr Waffenverkäufe unterstützt. Dieser inkohärente Ansatz könnte weitere Konflikte schüren. Zwar haben die europäischen Länder immer wieder erklärt, dass sie in Nordafrika sowohl Entwicklung als auch Stabilität fördern wollen. Doch die Mischung aus materieller Unterstützung autoritärer Regierungen – auch durch massive Zuwächse bei Waffenverkäufen – und höheren öffentlichen Entwicklungsgeldern (ODA) ist inkohärent und gefährlich. Wirtschaftliche und soziale Entwicklung hängen von Stabilität ab – umgekehrt gilt dies jedoch auch. Entwicklung kann den Menschen Beschäftigung, Ressourcen und ein sinnvolles Leben ermöglichen - Hilfsgelder werden daher auch damit gerechtfertigt, dass Entwicklung den Menschen Bleibeperspektiven schaffe und sie nicht nach Europa migrieren. Seit den arabischen Aufständen stieg die ODA der vier größten EU-Geber – Frankreich, Deutschland, das Vereinigte Königreich und die europäischen Institutionen – für Algerien, Libyen, Marokko und Tunesien von rund 2 Mrd. US-Dollar im Jahr 2008 auf mehr als 3,2 Mrd. US-Dollar 2017. Andere Ansätze der Entwicklungsförderung ergänzten dies, darunter EU-Bemühungen die Handelsbeziehungen zu Marokko und Tunesien zu vertiefen. Doch zunehmende Waffenverkäufe Europas an Maghreb-Länder können ebendiese Bemühungen untergraben. EU-Länder sind wichtige Waffenexporteure nach Algerien, Libyen, Marokko und Tunesien; zwischen 2008 und 2017 beschafften letztere dort rund 25 Prozent ihrer Waffen. Laut einem aktuellen Bericht des schwedischen Forschungsinstituts SIPRI kaufen diese vier Länder 75 Prozent aller nach Afrika exportierten Waffen, ein Anstieg von 20 Prozent zwischen 2009-2013 und 2014-2018. Diese Waffenexporte sind von Natur aus destabilisierend. Ein genauerer Blick auf drei Maghreb-Länder zeigt exemplarisch ein negatives Beispiel, ein Land am Scheideweg, und eine mögliche Erfolgsgeschichte. In Libyen haben die Vereinigten Staaten, Russland, Italien und Frankreich in den letzten Jahren des Gaddafi-Regimes ihre Waffenverkäufe deutlich gesteigert. Als Gaddafi nach einer militärischen Intervention durch einige dieser Lieferanten stürzte, blieben in Libyen riesige Waffenbestände und kampferprobte Milizen zurück. 2012 gelangten viele Waffen und Kämpfer von dort in die Sahel-Länder und verschärften den Konflikt im benachbarten Mali. Dennoch lieferten europäische Länder weiterhin Waffen an Libyen und seit 2014 nicht nur an die international anerkannte westliche Regierung, sondern auch an ihren östlichen Rivalen. Diese Waffen wurden vom ostlibyschen General Haftar bei seiner Übernahme der Kontrolle über den Süden des Landes eingesetzt. Das libysche Beispiel zeigt, dass man beim Verkauf von Waffen an ein Land nicht kontrollieren kann, wo sie landen werden. Algerien ist der größte Waffenimporteur in Afrika und hatte 2014-18 einen Anteil von 56 Prozent an den afrikanischen Importen von Großwaffen. Russland ist bei weitem der größte Lieferant, aber auch Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Schweden und das Vereinigte Königreich haben seit der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2011 Waffen dorthin verkauft. Algerien ist mit Abstand der größte Kunde der deutschen Rüstungsindustrie. Die aktuelle Krise in dem Land hat zum Rücktritt von Präsident Bouteflika geführt. Die Situation könnte aber immer noch eskalieren, wenn die Proteste erneut niedergeschlagen werden. Zudem bieten der weitgehend unkontrollierte Süden Algeriens und die reichlichen Öl- und Gasvorkommen Schmugglern und lokalen Kriegsherren vielfältige Anreize. Die Aussicht auf Destabilisierung eines weiteren mit Waffen überfluteten Maghreb-Landes stellt eine ernste und akute Gefahr dar, auch für seine Nachbarn. Tunesien hat ebenfalls mehr Waffen gekauft, wenn auch nicht im gleichen Maße wie Algerien oder Libyen in der Gaddafi-Ära. Vielmehr hat es große Summen zur Unterstützung seines demokratischen Reformprozesses erhalten, insbesondere von Deutschland (2017 rund 750 Mio. US-Dollar) und den EU-Institutionen (2017 rund 1.350 Mio. US-Dollar). Obwohl die Demokratisierung in Tunesien ins Stocken gerät, gibt das Land doch Hinweise darauf, dass ein anderer Ansatz besser funktionieren könnte. Durch finanzielle Unterstützung für die demokratische Transition werden institutionelle Grundlagen für einen friedlichen Interessenausgleich gefördert. Zusätzlich hat das derzeit mit der EU ausgehandelte „tiefgreifende und umfassende Freihandelsabkommen“ das Potenzial, den Alltag der Tunesier erheblich zu verändern, etwa durch verstärkte Agrarexporte und Visa. Die Europäer müssen die Maghreb-Länder weiterhin mit ODA und anderen Formen der Entwicklungszusammenarbeit unterstützen, sowohl beim Infrastruktur-Ausbau als auch bei dem schwierigen Prozess, die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft neu zu gestalten. Aber Hilfe kann nur dann zu Entwicklung und langfristiger Stabilität beitragen, wenn Waffenverkäufe, wo sie überhaupt notwendig sind, zumindest den eigenen „gemeinsamen Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und -ausrüstung“ der EU-Mitgliedstaaten von 2008 entsprechen. Diese verlangen die Berücksichtigung der Menschenrechtssituation und anderer Kriterien im Land des Käufers. Es macht wenig Sinn, Millionen in Entwicklungshilfe zu investieren und gleichzeitig das Waffengeschäft praktisch ohne Bedingungen ausweiten.

Ist eine radikale Technologieskepsis noch zeitgemäß?

Mon, 04/01/2019 - 11:24
Bonn, 01.04.2019. Vor vierzig Jahren wurde das Buch „Das Prinzip Verantwortung“ des jüdischen Philosophen Hans Jonas erstmals veröffentlicht. Auch wenn der Autor heutzutage nicht mehr jedem geläufig ist, so hat Jonas die umwelt-, energie- und technologiepolitische Debatte in Deutschland und darüber hinaus doch wesentlich geprägt. Zentrale These seines Werkes ist der von ihm erstmals explizit formulierte „ökologische Imperativ“. In Anlehnung an Immanuel Kant lautet dieser: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Seit den siebziger Jahren wurde die wachsende Bedrohung der menschlichen Existenz – zum Beispiel durch globale Umweltveränderungen – zunehmend deutlich. Hans Jonas großer Verdienst ist es, die damit einhergehenden Sorgen in einen verantwortungsethischen Rahmen gestellt zu haben. Angesichts erodierender planetarer Grenzen ist jedoch fraglich, ob seine Aussagen zu einer verantwortungsvollen Technologiewahl heute noch unbeschränkte Gültigkeit haben. Hans Jonas sieht technologischen Fortschritt – vor allem wenn er grundsätzliche Neuerungen hervorbringt – vorrangig als Gefahr und plädiert bei der Entscheidung für den Einsatz einer Technologie dafür, immer von dem schlimmsten annehmbaren Szenario auszugehen. Vierzig Jahre später müssen wir jedoch nüchtern feststellen, dass die Grenzen der Belastbarkeit von Ökosystemen nicht in erster Linie durch singuläre Ereignisse bei neuen Technologien überschritten werden. Seit dem Erscheinen von „Das Prinzip Verantwortung“ ist die Weltbevölkerung um mehr als 3 Milliarden Menschen angewachsen. Der Anteil der in absoluter Armut lebenden Menschen ist weltweit von 40 auf zehn Prozent gesunken. Es werden also die materiellen Bedürfnisse der Menschen zunehmend befriedigt – was wünschenswert ist. Dies führt aber gerade bei traditionellen Techniken, wie beispielsweise dem Brandrodungsfeldbau, zur Expansion der landwirtschaftlichen Nutzfläche auf Kosten von Wäldern und der Biodiversität. Auch den Klimawandel kann man nur dann als Folge eines technologischen Wandels interpretieren, wenn wir die weit über hundert Jahre alte Verbrennung von fossilen Energieträgern im industriellen Maßstab als neue Technologie verstehen. Zu fragen ist daher, ob der ökologische Imperativ nicht auch mit dem Einsatz eher unbeliebter Technologien einhergehen kann – zumindest wenn diese eine wissenschaftlich und ethisch begründete Technikfolgenabschätzung durchlaufen haben. Dies zum Beispiel dann, wenn durch eine produktivere Landwirtschaft Ernährungssicherung trotz Klimawandels auf gleichbleibender Fläche gewährleistet werden kann oder wenn es Brückentechnologien ermöglichen, breit einsetzbare nachhaltige Lösungen zu entwickeln, wie bei der Energieversorgung. Zwei Beispiele verdeutlichen, wie schwierig es ist, bei der Technologiewahl sowohl die wissenschaftliche Evidenz zu ihren positiven und negativen Wirkungen zu berücksichtigen als auch diese Wirkungen angemessen ethisch zu reflektieren. So ist Deutschland vor wenigen Jahren aus der experimentellen Erprobung von Kohlenstoffabscheidung und -lagerung (Carbon Capture and Storage, CCS) ausgestiegen, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Der Hauptgrund war keine fundierte Kosten-Nutzen-Risiko-Abwägung, sondern eine diffuse Angst vor dieser Großtechnologie. Befürchtet wird beispielsweise, dass eingelagertes CO2 unkontrolliert wieder an die Oberfläche gelangt. Dies ist aber bei experimentellen CCS-Anlagen noch nie passiert. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist unbestritten das Gebot der Stunde. Jedoch: selbst wenn es möglich wäre, die gesamte Stromerzeugung auf erneuerbare Energien umzustellen, können Emissionen aus industriellen Prozessen nur durch CCS vermieden werden. Wichtiger noch: Ohne eine signifikante CCS-Forschung fällt Deutschland als Partner für Entwicklungsländer aus, die in hohem Maße auf fossile Energieträger bauen müssen und bei denen ein rascher Umstieg auf erneuerbare Energien aus ökonomischen und sozialen Gründen kaum zu erwarten ist. Dies betrifft Länder wie Südafrika und Indien, deren Klimagasemissionen einen zunehmenden globalen Anteil haben. Südafrika verfolgt seit Jahren eine eigene CCS-Strategie. Dabei wäre das Land an einer Zusammenarbeit mit dem traditionell forschungsstarken Deutschland sicher interessiert. Neue gentechnische Methoden (Gene Editing, CRISPR-CAS9) werden in Deutschland ähnlich abgelehnt wie klassische Gentechnik. Einige Biotechnologieexperten meinen jedoch, dass Gene Editing risikoarm ist und vor allem traditionelle Pflanzenzüchtung beschleunigen kann, dabei zielgerichteter und ressourcensparender ist. Zudem habe die Technologie das Potenzial, die CO2-Absorption durch Bäume ebenso zu erhöhen wie die Resistenz von Nutzpflanzen gegen die Folgen des Klimawandels: Beides ist aus klima- und entwicklungspolitischen Gründen wünschenswert. Der ökologische Imperativ ist aus heutiger Sicht durchaus auch mit einer offenen Haltung gegenüber neuen Technologien zu verbinden. Zumindest sollten weitreichende gesetzliche und regulatorische Entscheidungen, die ihre Nutzung unterbinden, mehr als bisher auf einer wissenschaftlich und ethisch begründeten Bewertung von Nutzen und Risiken beruhen. Da Technologien zunehmend auf globale Herausforderungen reagieren, sollte Technikfolgenabschätzung auch auf multilateraler Ebene erfolgen. Solche Ansätze zu entwickeln ist ein Gebot der Stunde. Das DIE veranstaltet zu diesem Thema eine Vortragsreihe: Forty years after the „Imperative of Responsibility“ – Ethics of technology in times of eroding planetary boundaries

Die Bedeutung der SDGs für Afrikas Klimapolitik

Mon, 03/25/2019 - 09:00
Bonn, 25.03.2019. Mit der Verabschiedung des Pariser Klimaabkommens und der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) rückt seit 2015 gegenüber der Aushandlung klimapolitischer Ziele zunehmend deren Umsetzung in den Blickpunkt. Als Teil ihrer klimapolitischen Verpflichtungen legten afrikanische Länder ihre Nationally Determined Contributions (NDCs) im Einklang mit den SDGs vor, wobei insbesondere das „Klimaziel“ SDG 13 ein Bindeglied darstellt. Generell markierten die NDCs einen Perspektivwechsel im internationalen Klimaschutz, in dem sie „bottom up“ die nationalen Prioritäten und Fähigkeiten der Länder berücksichtigten. Dadurch ermöglichten sie auch den am stärksten verwundbaren Ländern, sich entgegen der fest etablierten Nord-Süd-Logik der Klimaverhandlungen auf Maßnahmen gegen den Klimawandel zu verpflichten. Die NDCs bereiteten somit den Boden für eine wirklich globale Klimapolitik. Eng verknüpft mit den SDGs bedeutet dies für die Klimapolitik afrikanischer Länder vor allem dreierlei: Erstens knüpften zahlreiche afrikanische Länder die Umsetzung ihrer NDCs an die Bedingung internationaler Unterstützung, etwa durch den Aufbau entsprechender Kapazitäten, Technologietransfer und Klimafinanzierung. Diese Forderungen waren nicht neu, konnten aber mithilfe der NDCs präzisiert werden. Im Abgleich mit SDGs kann Unterstützung gezielter erfolgen. Zudem tragen die Forderungen zu ambitionierteren NDCs bei und stärken die Verknüpfung mit den SDGs. Zweitens bezieht die veränderte klimapolitische Landschaft substaatliche und nicht-staatliche Akteure mit ein, was zusätzliche Wege zu einem stärkeren Klimaschutz eröffnet. Durch die Identifizierung solcher Akteure und der Bereiche, in denen sie sich engagieren können, wurden NDCs zu einem Instrument, um auch primär SDG-orientierte Akteure klimapolitisch einzubeziehen. Dies gilt insbesondere für SDG 17 zu Partnerschaften . Auch neue, über die im Rahmen der engeren Klimapolitik entwickelten Finanzierungsmechanismen hinausreichende Quellen der Klimafinanzierung wurden so deutlich. Die Afrikanische Entwicklungsbank und andere multilaterale Banken haben ihr Augenmerk zunehmend darauf gelegt, Klimafinanzierung und sauberen Energietechnologien zum Durchbruch zu verhelfen, zum Beispiel über den Fonds für nachhaltige Energie für Afrika. Die Verknüpfung der NDC-Umsetzung mit SDG 7 (bezahlbare und saubere Energie) könnte somit dazu beitragen, den Zugang zu Energie auf dem gesamten Kontinent zu verbessern, was für viele afrikanische Länder hohe Priorität hat. Die Verknüpfung von NDCs und SDGs rückte auch Bereiche in den Vordergrund, die bei der bisherigen klimapolitischen Umsetzung oft übersehen wurden. Beispielsweise macht die rasante Urbanisierung in Afrika Städte zu wichtigen Akteuren im Kampf gegen den Klimawandel. SDG 11 zu nachhaltigen Städten und Gemeinden rückt dies in den Fokus. Der Beitritt zu den zahlreich entstehenden transnationalen Klimanetzwerken würde es afrikanischen Städten ermöglichen, mit anderen Städten zusammenzuarbeiten, Wissen und Erfahrungen auszutauschen und so ihre Fähigkeiten im Kampf gegen den Klimawandel auszubauen. Dies würde nationale Klimaschutzmaßnahmen sinnvoll ergänzen. Drittens ist es wichtig, die Beziehungen zwischen afrikanischen Ländern und Europäischer Union (EU) zu stärken, insbesondere wenn es darum geht, vermittels der NDCs die Umsetzung der SDGs zu unterstützen. Die EU war und ist ein wichtiger Partner bei der Förderung der Klimapolitik in Afrika. Klimawandel und Energie wurden im Rahmen des AU-EU High Level Policy Dialogue on Science, Technology and Innovation als zweite Priorität identifiziert. Die starke Verknüpfung des Klimawandels mit dem Zugang zu nachhaltiger Energie unterstreicht die Wichtigkeit, die Umsetzung der SDGs im breiteren Kontext der NDCs anzugehen. Der gezielte Ausbau bestehender Partnerschaften, beispielsweise des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanzierten und von der AU-Kommission umgesetzten Comprehensive Africa Agriculture Development Programme (CAADP), würde es zudem ermöglichen, sich auch in der Landwirtschaft auf die von den afrikanischen Ländern benannten NDC-Schwerpunkte zu konzentrieren. Auch die bilaterale Zusammenarbeit zwischen Forschungseinrichtungen in der EU und Afrika stärken gegenseitiges Lernen und innovative Kooperationen. Das DIE und das African Centre for Technology Studies (ACTS) arbeiteten bei der Entwicklung des NDC-Explorer eng zusammen. Zudem war ACTS 2016/17 Gastgeber des DIE-Postgraduierten-Programm, um die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und SDGs in kenianischen Städten zu untersuchen. Solche Kooperationen verbessern das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen afrikanischen Ländern und der EU. Afrikanische Länder sollten bei der Umsetzung ihrer NDCs generell darauf zielen, Synergien mit den SDGs zu schaffen. Der Abgleich der Ziele unterstützt ihr lange erklärtes Ziel, Klimaschutzmaßnahmen im Rahmen einer umfassenderen Agenda für nachhaltige Entwicklung zu verwirklichen. Kennedy Mbeva and Joanes Atela, African Centre for Technology Studies (ACTS)

Rwanda makes its own rules

Tue, 03/19/2019 - 10:00
Bonn, 19 March 2019. It is difficult to find countries in sub-Saharan Africa where forms of South–South Cooperation (SSC) are not visible. Rwanda is no exception, with the presence of China, in particular, in various parts of the country. China’s funding and construction of a new building for Rwanda’s Prime Minister’s Office and four ministries is an example of its aid approach (‘ready-to-use’ infrastructure support); and visits by President Xi Jinping and India’s prime minister, Narendra Modi, to Kigali in 2018 have reinforced Rwanda’s position as a ‘small big country’. SSC has been an important trend for Rwanda in the last 10 to 15 years, as it has for other African countries, and for developing regions beyond the African continent. What marks out Rwanda as different is its requirement that SSC providers be guided by Kigali’s own aid policy: the Rwandan government demands more transparency, alignment with government priorities and donor coordination not just from traditional donors, but from SSC providers too. Kigali is designing a new way to conduct South–South Cooperation, an approach based on Rwanda’s concept of itself as a ‘developmental’ state. A central feature of this is Rwanda’s locally inspired system of concepts for enhancing the development of the country. Home Grown Solutions (HGS) is the umbrella term, which is even trademarked to frame a number of Rwandan concepts, such as Imihigo (performance contracts at all levels of the country) and Umuganda (community work by the whole population), with strong links to the country’s cultural heritage. These Home Grown Solutions are expected to contribute significantly to Rwanda’s ambition to transition from a least developed country (LDC) to an upper-middle income country (UMIC) by 2035, and a high-income country (HIC) by 2050. Learning from Rwanda? Many of the Home Grown Solution concepts are famous elsewhere in Africa and beyond for pushing the development agenda of a country with very limited financial resources and several additional constraints, such as a high population density and a landlocked economy with a small domestic market. In 2018 alone, around 300 delegations from other countries came to Rwanda to have a closer look at Home Grown Solutions. For the country’s public institutions, with their lean structures and capacities, this created quite a workload, as government employees devoted time to explaining their experiences and methods to the visitors. Even more significantly, Rwanda started to support other African countries by sending staff to provide expertise. On the request of the government of Benin, Rwanda has assigned an expert to spend 18 months advising the presidency in Cotonou on how to reform the link between the public and private sectors.
Rwanda has used its own experiences as a starting point for professionalising and upscaling what it is already doing. In September 2018, the government founded the Rwanda Cooperation Initiative (RCI). RCI is a private company and is now in charge of taking care of incoming delegations as well as providing short- and long-term advisory services to other countries. These activities are explicitly seen as Rwanda’s own South–South Cooperation approach. RCI started as a small entity with eight professionals but an upscaling to 20 staff members is already underway. Services provided by RCI need to be paid for: this might be by a foreign government interested in Rwanda’s knowledge, or a study tour initiated and paid for by a donor, or by the Rwandan government itself. In addition, RCI might also be able to offer its expertise as an agency in a future triangular cooperation constellation. Rwanda’s SSC move could turn out to be an important investment; the country’s reputation and influence on the African continent and beyond is linked to its proactive role in recent years. This is clearly visible, not least in President Paul Kagame’s role as chair of the African Union (until February 2019) and in the role of Louise Mushikiwabo, the former Rwandan minister for foreign affairs, as the new leader of the Francophonie. Thus, SSC can contribute to the country’s soft power ability. At the same time, RCI might even be a wise commercial investment. If the demand to learn from Rwanda’s Home Grown Solutions continues to grow, SSC could become an important and profitable pillar of Rwanda’s quest to be a service hub. Thus, Rwanda’s approach might serve as an inspiration for new debates on SSC. The upcoming Second High-Level United Nations Conference on South–South Cooperation (BAPA+40) in Buenos Aires (20–22 March 2019) should be a great opportunity for such a discussion.

This article was published online first on Le Monde diplomatique – English Edition.

Privatisierungsrisiko zu Lasten der Menschen

Mon, 03/18/2019 - 10:12
Bonn, 18.03.2019. Der Weltwassertag 2019 konzentriert sich auf die rund 2,1 Milliarden Menschen auf der Welt, die noch immer keinen Zugang zu sicherem Wasser haben. 80% der Länder im globalen Süden verfügen über unzureichende öffentliche Finanzmittel, um die nationalen Wasser-, Sanitärversorgungs- und Hygieneziele (WASH) zu erreichen und die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) für WASH ist rückläufig. Daher besteht eine große Finanzlücke, um das Nachhaltigkeitsziel (SDG) 6: „Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten“ zu erreichen. Obwohl öffentliche Finanzmittel und ODA weiterhin eine Schlüsselposition bei der Finanzierung einnehmen, ist das Interesse an der Mobilisierung des Privatsektors, um die Lücke finanziell zu schließen, größer. Hierbei müssen Regierungen und Geberländer jedoch sicherstellen, dass die Umsetzung des SDG nicht der Privatisierung kommunaler Wasserversorgungssysteme Vorschub leistet. In vielen Ländern des globalen Südens organisieren Gemeinden die Wasser- und Sanitärversorgung selbständig, da der Staat keine entsprechenden Maßnahmen ergreift. In Lateinamerika und der Karibik allein versorgen fast 80.000 kommunale Wasser- und Sanitärversorger mehr als 70.000.000 Abnehmer. Diese Einrichtungen organisieren ihre Versorgungssysteme häufig auf der Basis von solidarischen und wechselseitigen Beziehungen. Hierbei handelt es sich nicht um eine romantisierte Vorstellung, sondern um einen tatsächlichen Zustand, der die Gemeinden befähigt, Wasser innerhalb eines bestimmten geographischen Raumes und einer soziohydrologischen Situation zu schützen, zu entnehmen, aufzubereiten und zu verteilen sowie diese Systeme über einen längeren Zeitraum aufrecht zu erhalten. Kommunale Wasserversorger betrachten Wasser außerdem als ein soziales Gut mit traditionellen, historischen und spirituellen Dimensionen, die seine Bewirtschaftung und die Versorgung bestimmen. Wassergebühren zur Unterhaltung des Systems werden auf kommunaler Ebene mit dem Ziel festgelegt, den Mitgliedern ein würdevolles Leben zu ermöglichen und orientieren sich nicht an der Maximierung von Profit. In einigen Fällen wird Wasser älteren Menschen oder Menschen in wirtschaftlichen Notsituationen kostenlos zur Verfügung gestellt. Manchmal werden Wassergebühren nicht in Form von Geld, sondern durch Sachleistungen beglichen, wie Reparatur- und Wartungsarbeiten am System (z.B. Abdichtung von Wasserquellen, Wartung von Aufbereitungsanlagen und Leitungen, administrative Arbeiten) oder gemeinnütziger Arbeit (z.B. Unterhaltung von Straßen, Organisation von Festen). Durch den Aufbau von auf gegenseitigem Vertrauen und Unterstützung basierenden Beziehungen stärken Wasserversorgungssysteme soziale Netzwerke und machen aus dem Gut Wasser eine Art sozialen Klebstoff. Sowohl die Millenniums-Entwicklungsziele als auch das Engagement für Wasser als universelles Recht sowie für SDG 6 haben diverse Reformen angeregt, die kommunale Wasserversorgungssysteme auf unerwartete Weise und ungewollt beeinflussen können. In Kolumbien zum Beispiel schüren das Streben nach verbessertem Zugang zu Wasser und die Suche nach Synergien mit dem Privatsektor Bedenken in Hinblick auf die Privatisierung der kommunalen Wasserversorgungssysteme. Die Schaffung von Anreizstrukturen für  private Wasserversorger soll zu Investitionen in die Erweiterung der Infrastruktur, die Verbesserung der Wasserqualität, zu bezahlbaren Wassergebühren und zur Versorgung aller Menschen führen. Für kommunale Wasserversorgungssysteme steigern sie jedoch den Druck, sich an den Privatsektor anzupassen, indem sie ein privatwirtschaftliches Geschäftsmodell übernehmen. Diese Übernahme geht einher mit der Durchsetzung geschäftsähnlicher Leistungsstandards und der Gefahr, dass bei Nichterfüllung der Standards die Bewirtschaftung der Wasserressourcen an Privatunternehmen, die benachbarte Versorgungssysteme betreiben, übergeben werden kann, um hierdurch Skaleneffekte bei der Investition in Wasserversorgungssysteme zu erzielen. Dieses Bewirtschaftungsmodell macht Gemeinden und deren Mitglieder vom Management eines Systems, welches sie selbst gebaut haben, zu Kunden bei Privatversorgern – eine Position, die sie den Schwankungen des Marktes und fluktuierenden Preisen aussetzt. Ungeachtet der vielen Vorteile, die ein universelles Ziel für WASH beinhaltet, zeigt das Beispiel Kolumbiens, wie wichtig Kontextsensitivität ist. Entscheidungsträger müssen sich möglicher Zielkonflikte bewusst sein und die Bedeutung der Gemeinden als Bewirtschafter natürlicher Ressourcen, und Wasser im Besonderen, anerkennen. Um SDG 6 zu erreichen und die Wasserversorgung für alle Menschen sicherzustellen, müssen weiterhin ODA-Mittel in einem Maß zur Verfügung gestellt werden, das den Druck auf öffentliche Mittel für Wasserinfrastruktur mindert. Gleichzeitig ist es wichtig, kommunale Wasser- und Sanitärversorgungseinrichtungen rechtlich anzuerkennen und zu unterstützen sowie öffentliche Gemeindepartnerschaften zu fördern, die die Gemeinden bei der Verbesserung ihrer Dienstleistungen unterstützen. Hier könnten Synergieeffekte entstehen, bei denen der öffentliche Sektor, Privatunternehmen und Gemeinschaftsorganisationen gemeinsam zur Verbesserung und Sicherung der Verfügbarkeit und zur nachhaltigen Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle beitragen.

Modicare kann Indiens armer Bevölkerung helfen

Mon, 03/11/2019 - 09:00
Bonn, 11.03.2019. Indien hat Ende letzten Jahres damit begonnen, die größte Krankenversicherung der Welt aufzubauen. Insgesamt plant die Regierung bis zu 500 Millionen Haushalte zu versichern. Die Reform wird landläufig nach dem indischen Premierminister als „Modicare“ benannt. Wenn das neue Programm funktioniert, wäre dies ein wichtiger Schritt der sozialen Sicherung für viele arme Familien und könnte als Vorbild für eine armutsreduzierende Krankenversicherung in anderen Ländern gelten. Unterstützt wird Indien bei der Implementierung durch Maßnahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Zudem wird ein Forschungskonsortium unter Beteiligung des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) das Programm in den nächsten Jahren wissenschaftlich begleiten. Indien spielt bei der Inklusion armer Bevölkerungsteile in das Gesundheitssystem schon längere Zeit eine wichtige Rolle. Das Land in dem fast die meisten Menschen in absoluter Armut leben (umgerechnet weniger als 1,9 US-Dollar pro Tag zur Verfügung), hat schon seit 2008 eine steuerfinanzierte Krankenversicherung (RSBY) gezielt für arme Haushalte einge-führt. 41 Millionen arme Haushalte sind derzeit durch dieses Programm beitragsfrei versichert. Um das bestehende System auszuweiten, wurden nun formale Anmeldungsverfahren als Zugangsbarrieren abge-schafft, das Gesundheitspaket ausgeweitet, die Versicherungssumme um das 17-fache auf umgerechnet rund 6.000 Euro pro Haushalt erhöht und weitere 60 Millionen ärmere Haushalte zusätzlich in die Versicherung aufgenommen. Arme Haushalte sind besonders stark gesundheitlich gefährdet. Bei fehlender Krankenversicherung müssen sie im Falle von schweren Krankheiten große Teile ihres Einkommens für Krankenhausrechnungen aufwenden. Häufig sind sie auch gezwungen, Produktionsgüter wie Nutztiere zu verkaufen, Kredite mit überhöhten Zinsen aufzunehmen oder Kinderarbeit zuzulassen. Die Folge ist, dass sie dadurch weiter verarmen oder arm bleiben. Staatliche und private Anstrengungen auf nationaler und lokaler Ebene sind daher wichtig, um die Einbeziehung armer Bevölke-rungsgruppen in Krankenversicherungen zu gewährleisten. Um sicherzustellen, dass arme Bevölkerungsteile in Krankenversicherungen einbezogen werden und diese auch nutzen, sollten Länder wie Indien drei Faktoren berücksichtigen. Erstens sind sowohl die Identifizierung armer Bevölkerungsteile und die Definition eines angemessenen und für den Staat finanzierbaren Gesundheitspakets von zentraler Bedeutung. Zweitens hängt der Erfolg von effektiven Öffentlichkeitskampagnen, sowie vom Vorhandensein angemesse-ner rechtlicher Rahmenbedingungen ab. Beide Elemente sind erforderlich, um sicherzustellen, dass die Ärmsten ihre Rechte und die Vorteile der Krankenversicherung kennen und diese dann auch nutzen. Drittens reicht es nicht einfach aus, dass die Ärmsten beitragsfrei versichert sind. Schlechte Ausstattung der Krankenhäuser, fehlende Ärzte, lange Wartezeiten oder hohe informelle Zuzahlungen können die Bemühungen um einen besseren Zugang zu öffentlichen Gesundheitsdiensten zunichtemachen. Die Versorgungsqualität im Gesundheitssystem ist deshalb ebenso wichtig wie eine Krankenversicherung. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte unter Berücksichtigung der genannten Faktoren den Ausbau flächendeckender Krankenversicherungen weiter fördern. Eine gute Gesundheitsversorgung ist ein wichtiger Baustein zur Erreichung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung und Determinante für wirtschaftliche Entwicklung und Armutsreduzierung. Es bleibt abzuwarten ob es der indischen Regierung gelingt ihre ambitionierten Pläne umzusetzen und eine Krankenversicherung aufzubauen, die die oben genannten Faktoren berücksichtigt. Kritiker haben bereits die Unterfinanzierung der Versicherung moniert. Das Budget der Versicherung für das erste Jahr beläuft sich auf nur knapp 300 Millionen US-Dollar (0,01 Prozent des BIP). Die Entwicklung im indischen Gesundheitsbereich sollte deshalb in den nächsten Jahren genau verfolgt werden. Die neue Krankenversicherung in Indien bietet die große Chance Millionen armer Haushalte vor hohen Krankheitskosten zu schützen und herauszufinden welche Wirkungen dies entfaltet. Im Auftrag des indischen Gesundheitsministeriums und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) wird ein Forschungskonsortium, bestehend aus der Universität Heidelberg, dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE), der City Universität London und zwei indischen Partnern, die Implementierung der Krankenversicherungsreform in den nächsten Jahren wissenschaftlich begleiten. Ziel wird es sein, die Wirkungen der Krankenversicherung zu untersuchen und zu messen, inwieweit diese die Inklusion armer Bevölkerungsteile in das Gesundheitssystem verbessert. 

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