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Stiftung Wissenschaft und Politik
Updated: 3 hours 19 min ago

Neuer UN GGE Report zu Cyber-Fragen: Vorwärts mit kleinen Schritten

Thu, 24/06/2021 - 14:24

Cyber-Angriffe auf kritische Infrastrukturen, Desinformationskampagnen und Cyber-Kriminalität sind zentrale Herausforderungen für Staaten geworden. Der aktuelle Hackerangriff auf eine US-Pipeline macht das Problem deutlich: Nach Angaben des FBI verschlüsselten vermutlich russische Kriminelle die PCs des Betreibers und verlangten mehrere Millionen US-Dollar Lösegeld – das störte die Ölversorgung in den USA erheblich. Der Vorfall zeigt die Relevanz des Themas für die internationale Staatengemeinschaft. Ein vor Kurzem veröffentlichter Bericht von einer UN-Expertengruppe versucht unter anderem, diese Probleme mit diplomatischen Mitteln zu lösen.

Kurze Geschichte der Verregelung des Cyberspace

Der Cyberspace wurde lange als unregulierte Anarchie beschrieben. Die internationalen Bemühungen der Verregelung des Internets begannen 2004 mit der United Nations Group of Governmental Experts für Cyber Fragen (UN GGE). Seitdem erarbeitet die Gruppe wichtige Meilensteine: Man einigte sich, dass das Völkerrecht und die UN-Charta auch im Cyberspace gelte und entwickelte 13 unverbindliche Cyber-Normen für angemessenes Staatenverhalten. Dazu gehört etwa, dass Staaten keine kritischen Infrastrukturen angreifen sollen. 2017 scheiterte die vierte Runde des UN-GGE-Prozesses an der Frage, ob das Recht auf Selbstverteidigung nach einem Cyber-Angriff greife oder nicht. Westliche Staaten argumentierten dafür – Russland, China und andere dagegen. Letztere setzten sich in der Folge für die Schaffung einer parallelen Arbeitsgruppe ein, der Open Ended Working Group (OEWG). Fortan stand die Befürchtung im Raum, die OEWG könne die UN GGE inhaltlich torpedieren.

Konkretisierung von Cyber-Normen

Doch kürzlich legte die UN GGE einen neuen Konsensbericht vor – was zunächst als Erfolg zu verbuchen ist: die Kluft zwischen westlichen und anderen Staaten scheint zunächst überwunden. Der UN-GGE-Bericht konsolidiert die in der Vergangenheit bereits ausgehandelten Cyber-Normen und versucht, sie besser für die Praxis zu operationalisieren, etwa bei der Norm der Sorgfaltsverantwortung: Staaten sollen nicht wissentlich zulassen, dass von ihrem Territorium bösartige Cyber-Angriffe ausgehen. Gleichzeitig impliziert der Ursprung krimineller Aktivitäten von einem Territorium laut GGE keine automatische Mitverantwortung des entsprechenden Landes. Staaten müssen auch nicht sämtliche Internetdatenströme nach krimineller Aktivität überwachen, sondern sollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten agieren. Wenn Dritte sie informieren, dass ihr Territorium missbraucht wird, sollten sie allerdings aktiv werden. Verfügen sie aber nicht über ausreichende Detektionsmöglichleiten, dürfen sie externe Hilfe von anderen Staaten anfragen. Des Weiteren soll es zwischenstaatliche Anlaufstellen für effektive Krisenkommunikation und einheitliche Vorlagen für Hilfeersuche geben. Ob Staaten dies aber in der Praxis in Anspruch nehmen, ist zweifelhaft, da einige von ihnen Cyber-Kriminalität als Deckmantel für eigene Angriffe nutzen und davon profitieren.

Der Report spezifiziert ferner die Norm, dass Staaten nicht absichtlich die Integrität von IT-Versorgungsketten untergraben sollen, beispielsweise durch Hintertüren oder versteckte Überwachungsfunktionen. Das ist ein sinnvoller Vorschlag, da solche Cyber-Angriffe das Vertrauen in das wirkungsvollste Mittel der IT-Sicherheit unterlaufen: Software-Updates, um Sicherheitslücken zu schließen. Auch an Deutschland ist das ein Signal: Das kürzlich beschlossene Bundespolizeigesetz sieht vor, Betreiber von IT-Versorgungsketten zu verpflichten, Überwachungstrojaner etwa per Software-Update auf Geräte von Bürgerinnen und Bürgern zu installieren. Zudem sollen Staaten verantwortungsvolle Meldeprozesse für IT-Sicherheitslücken etablieren (»Responsible Disclosure«) und eine sinnvolle Governance für Schwachstellen entwickeln. Auch hier ist Deutschland nach wie vor einen entsprechenden Prozess schuldig. Dies ist Teil eines größeren Problems: Die bisher ausgehandelten, nicht bindenden Cyber-Normen kollidieren auch in westlichen Demokratien zunehmend mit der Realität: Angriffe auf kritische Infrastrukturen, Hintertüren in Software, Spionage und Überwachung sind mittlerweile de-facto-Normen geworden. Damit ist die Weiterentwicklung von Cyber-Normen zwar begrüßenswert. Solange diese aber nicht rechtlich bindend sind, bleiben sie ein stumpfes Schwert; hier sollte wenigstens ein Monitoring-Instrument entwickelt werden, das deren Einhaltung auf nationaler Ebene überprüft.

Weiterentwicklung des Völkerrechts

Bei der Weiterentwicklung des bindenden Völkerrechts macht der UN GGE Report nur kleinere Schritte. Erneuert wird das Bekenntnis, dass das Völkerrecht in Gänze im Cyberspace gilt. Darüber hinaus wurde versucht, das Kriegsvölkerrecht bei Cyber-Operationen innerhalb bewaffneter Konflikte genauer zu fassen. Cyber-Angriffe müssen danach den Prinzipien der Menschlichkeit, Notwendigkeit, Proportionalität und Unterscheidbarkeit bei Zielen genügen. Detailfragen bleiben aber bestehen, etwa ob, wann und welche zivilen IT-Infrastrukturen oder gar Daten legitime militärische Ziele sein dürfen.

Ungeklärt bleibt auch die Frage, ob Cyber-Operationen in fremden Netzen in Friedenszeiten eine Souveränitätsverletzung darstellen. Dies ist insbesondere relevant, da die USA mit ihrer »Persistent Engagement«-Cyber-Strategie auf solche Mittel setzen. UN-Mitgliedstaaten sollen laut GGE-Bericht dazu ihre Rechtsauffassungen veröffentlichen. Das wäre eine wichtige Vorbedingung, um in kommenden Verhandlungsrunden die offenen rechtlichen Fragen zu adressieren. Im nächsten Schritt sollte die UN GGE erneuert werden.  Dass UN-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, hierzu zunehmend ihre Interpretation des Rechts vorlegen, ist begrüßenswert.

Embracing Biden’s Democracy Agenda? Start with Turkey

Tue, 22/06/2021 - 14:11

European Union leaders are getting ready to discuss Turkey once again. The timing of the 24–25 June European Council is auspicious, after a week of G7, NATO and EU-US summits. Following four years of discontent between Brussels and Washington, this has been an exercise in reassurance, looking to reinvent multilateralism for the twenty-first century. The allies discussed rules for various policy areas, including economy, trade, climate, security and defence, while seeking a common stance against autocracies, particularly Russia and China. If Joe Biden and his European allies are serious about standing up to undemocratic regimes, the place to start is Turkey – which the European Council should do right away.

Turkey’s relations with its Western allies have been deteriorating for years. European decision-makers blame this on Ankara’s democratic backsliding and its unilateral foreign policy – which increasingly often runs counter to European interests. Developments in Syria, Libya, the Eastern Mediterranean and Nagorno-Karabakh, however, have shifted almost the entire focus to foreign policy. The EU’s desire to reduce tensions in its neighbourhood has eclipsed questions of democracy and rule of law. That is what is behind its proposal for a »positive agenda« with Turkey that is »progressive, proportionate and reversible«. It is thus conditional on Turkey’s external actions – good neighbourly relations in line with international law – but not clearly linked to the state of democracy. While the European Parliament flagged this in its recent report, a firm stance by the European Council is missing.

Commitment to democracy, everywhere

Turkey raised concerns in the EU when President Recep Tayyip Erdogan has withdrawn the country from the Council of Europe’s Istanbul Convention on preventing violence against women. This was clearly the continuation of a long-term trend limiting basic rights and freedoms. The new presidential system has eliminated most of the checks and balances. Civil society is under immense pressure. Democratically elected representatives have been removed and prosecuted. Last but not least the state prosecutor has applied to the constitutional court to ban the opposition Peoples’ Democratic Party (HDP). According to Freedom House, Turkey is »not free«, just like Russia and China.

This situation threatens the credibility of the transatlantic allies’ commitment to democracy, rule of law, and basic rights and freedoms. According to the summit communiqué, the G7 is committed to upholding a rules-based international system and defending values. That is also the promise of the NATO and transatlantic allies. Selective application would undermine that commitment. The rules apply to a rising China challenging Western economies – but not if you can get a bargain with Turkey in the Eastern Mediterranean. Those who prioritise geopolitics over principles might argue that Turkey gets less criticism as a NATO ally and strategically important accession candidate on the EU’s doorstep. Yet even if the European Union dropped the entire democratic conditionality framework, it would still risk being affected negatively by democratic backsliding and erosion of rule of law. Recent examples include unlawful detention of EU and US citizens and arbitrary decisions to move refugees to its borders with Greece back in 2020. Not to speak of the future risks to European investments.

European leaders may think that criticizing domestic repression in Turkey would put positive foreign policy developments at risk. There are no guarantees, however, that advances in the Eastern Mediterranean or relations with Greece, Cyprus or other member states will not be suddenly reversed, for example to rally nationalists behind the current government. The EU leaders must know that there can be no guarantees for the EU as long as instability prevails in Turkey – an instability exacerbated by deficits in democracy and rule of law. If the EU leaders choose to settle for a fragile status quo rather than promoting core values, they may still end up at odds with Turkey – while undermining the values they keep vowing to defend.

Serious about democracy? Time to speak-up

European leaders will try to buy time again, as they did at the European Council meetings in October and December 2020 and March 2021. But there is a window of opportunity. Ankara is on a charm offensive with its Western allies, needing an economic boost and trying to avoid European and US sanctions. While the government is determined to stay in charge, power struggles are emerging within the state apparatus. This is definitely the right time to set the tone – a tone that cares about democracy.

Action on Turkey is also needed to show the broader world that the G7, European Union and NATO mean what they said at last week’s summits. Democracy will be an important component of external action. If the EU cannot apply this principle to such a close neighbour, ally and EU accession candidate what does that say about the democracy agenda?

This text was also published at fairobserver.com.

Der Kampf um den Nordpol

Tue, 22/06/2021 - 02:00

Auf dem 12. Ministertreffen am 20. Mai 2021 in Reykjavik übernahm Russland den Vorsitz des Arktischen Rates, den bis dahin Island innehatte. Am Tag zuvor hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow eine erste Zusammenkunft mit US-Außen­minister Antony Blinken als konstruktiv bezeichnet. Allerdings hatte Lawrow den Westen im Vorfeld pauschal vor »Besitzansprüchen in der Arktis« gewarnt; für jeden sei »seit langem vollkommen klar, dass dies unser Territorium ist«. Aber was ist damit gemeint: der Nordpolarraum entsprechend dem neuen Antrag, den Russland im März 2021 an die Festlandsockelgrenzkommission gerichtet hat? Oder spielte Lawrow auf den andauernden Dissens um die Nördliche Seeroute an? Moskau will offenbar durch aggressive Rhetorik und gleichzeitige Dialogbereitschaft eine für sich vorteilhafte Lage in der Arktis schaffen.

Russland vor der Wahl zur Staatsduma

Mon, 21/06/2021 - 02:00

Die russische Gesellschaft erlebt vor der Wahl zur Staatsduma am 19. September 2021 eine drastische Ausweitung staatlicher Repression. Die staatlichen Maßnahmen sind dabei ihrerseits einschneidender und richten sich gegen mehr Menschen als bei frü­heren Repressionswellen. Sie greifen auf Bereiche über, die bislang wenig betroffen waren, und dringen zusehends in die Privatsphäre der Menschen ein. Jahrelang hatte sich der russische Staat im Wesentlichen darauf beschränkt, die politische Macht in der sogenannten Machtvertikale zu konzentrieren und den Informationsraum mittels Propaganda und Ausschaltung unabhängiger Medien zu kontrollieren. Diese Maßnahmen scheinen aus Sicht der politischen Führung nicht mehr auszureichen, um die eigene Herrschaft zu stabilisieren. Sie greift deshalb zunehmend zu Repressionen. Dies führt zu einer weiteren Verhärtung der russischen Autokratie. Auch deutsche Nichtregierungsakteure sind mittlerweile in größerem Maße von russischen staat­lichen Repressionen betroffen. Eine Verlangsamung oder gar Umkehrung dieses Trends ist auf abseh­bare Zeit nicht zu erwarten.

The Motion before Turkey’s Constitutional Court to Ban the Pro-Kurdish HDP

Thu, 17/06/2021 - 02:00

On 2 March 2021, the Turkish Prosecutor General’s office opened investigations into the Peoples’ Democratic Party (HDP). On 17 March it filed its application with the Constitutional Court to have the party banned. The Prosecutor General further sought to prohibit 687 HDP officials from engaging in political activities for five years. This would have amounted to excluding almost all HDP politicians from politics, and thus closing political channels for discussing and solving the Kurdish question for years. On 31 March the Constitutional Court rejected the application due to procedural flaws. However, on 6 June, the Prosecutor General’s office announced that it had filed a further motion to ban the party. This move to prohibit civilian and non-violent Kurdish politics risks augmenting the illegal Kurdistan Workers’ Party (PKK) and per­petuating the Kurdish conflict. It reveals the entanglement of politics and the judi­ciary in Turkey, and highlights structural deficits in the Turkish Constitution.

Ende der Eiszeit zwischen Ägypten und der Türkei

Thu, 17/06/2021 - 02:00

Der Besuch einer hochrangigen türkischen Delegation in Kairo Anfang Mai 2021 mar­kiert einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Türkei und Ägypten. Das Verhältnis der Führungen dieser beiden bevölkerungsreichsten Mittelmeeranrainer war seit dem Militärputsch in Ägypten 2013 extrem feindselig gewesen. Die jetzige Annäherung, die in der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen münden könnte, kommt insofern überraschend. Und ihr sind Grenzen gesetzt. Einer engeren Partnerschaft der Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und Abdel-Fatah al-Sisi stehen vor allem Unterschiede in den ideologischen Fundamenten ihrer Herrschaft entgegen. Der außenpolitische Kurswechsel soll den Handlungsspielraum beider Präsidenten ver­größern. Denn ihre Regime stehen aufgrund regionaler, internationaler, aber auch interner Entwicklungen unter Druck. Deutschland und die EU sollten die Annäherung unterstützen, weil sie zur Deeskalation in der Region beitragen kann. Die gegen­wärtige außenpolitische und wirtschaftliche Schwäche der Regime könnte auch eine Chance bieten, politisches Umdenken in anderen Bereichen einzufordern.

Nicaragua in der autoritären Sackgasse

Wed, 16/06/2021 - 15:06

In nur 14 Tagen hat das nicaraguanische Regime dreizehn führende Politiker und Politikerinnen des Landes ihrer Freiheitsrechte durch Gerichtsbeschlüsse beraubt, darunter mit Cristiana Chamorro, Arturo Cruz, Félix Maradiaga und Juan Sebastián Chamorro vier Präsidentschaftskandidaten sowie neun führende Mitglieder der Opposition; sie sitzen im Hausarrest oder im Gefängnis. Dies kann als Vorbereitung auf die für den 7. November 2021 geplanten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gewertet werden, bei denen Daniel Ortega erneut gemeinsam mit seiner Ehefrau Rosario Murillo zur Wiederwahl antreten wird. Von freien Wahlen kann keine Rede mehr sein: Ortega und sein Clan verfolgen nicht nur politische Kontrahenten, Vertreter aus Wirtschaft und Presse bzw. Journalisten, sie kontrollieren auch den Obersten Wahlrat, den Obersten Gerichtshof sowie die wichtigsten elektronischen Medien und verweigern jegliche Wahlbeobachtung.

Eine lange Geschichte des Protests und der Repression

Ortega, der seit 2007 wieder an der Macht ist, versucht mit allem Nachdruck, seine Herrschaft zu sichern. Seit den landesweiten Protesten des Jahres 2018, als im Frühjahr Tausende durch die Straβen der Hauptstadt und anderer Provinzstädte zogen, um gegen eine umstrittene Reform der Sozialversicherung zu demonstrieren, haben sich die Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und loyalen Gefolgsleuten Ortegas verschärft. Sicherheitskräfte und regierungsnahe Schlägertrupps prallten bei weiteren Konfrontationen mit Demonstranten aufeinander. Insgesamt kam es nach den Ermittlungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission zu 325 Todesfällen, mehr als 2000 Verletzte waren zu beklagen. Über 52.000 Nicaraguaner fanden Zuflucht im Nachbarland Costa Rica, das Ortega-Regime igelte sich ein. Die Menschenrechtskommission wurde des Landes verwiesen, seitdem wird die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen behindert oder verboten. Schließlich zerbrach die oppositionelle Bürgerallianz (Alianza Cívica), die sich mit Parteien, Unternehmerverbänden und sozialen Bewegungen in dem breiten Bündnis UNAB (Unidad Nacional Azul y Blanco) zusammengeschlossen hatte, an inneren Spannungen und verlor ihre Handlungsfähigkeit.

Grundlage für die Verfolgung von Oppositionskräften und Andersdenkenden ist das Gesetz 1055 »zur Verteidigung der Rechte des Volkes auf Unabhängigkeit, Souveränität und Selbstbestimmung für den Frieden« aus dem Jahr 2020. Es enthält ein breites Raster an Delikten unter dem Oberbegriff »Terrorismus« bzw. Finanzierungen aus dem Ausland und führt nunmehr, auch unter Berufung auf Begleitgesetze, zu zahlreichen Ausschlüssen von öffentlichen Ämtern, Anklagen, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Hausarresten, die letztlich jegliche Opposition zum Schweigen bringen sollen.

Vorbild Venezuela

Mit diesem Vorgehen folgt Ortega dem »venezolanischen Handbuch« der autoritären Machterhaltung von Präsident Nicolás Maduro, koste es, was es wolle. Mit gegenseitiger Unterstützung, insbesondere im wirtschaftlichen Bereich und in ideologischer Hinsicht, betreiben beide Regime die Demontage von Demokratie und Menschenrechten. Maduro stützt sich dabei auf den Nimbus des »Übervaters« Hugo Chávez, in Nicaragua verkörpert dies Daniel Ortega als ehemaliger Guerilla-Kämpfer und Revolutionär, der im Jahr 1979 den Sturz der Somoza-Diktatur herbeiführte, in Person. Der inzwischen 75-jährige Präsident, der nach einer Wahlniederlage im Jahr 1990 das Amt des Staatspräsidenten abgeben musste, klammert sich seit seiner Wiederwahl im Jahr 2006 an die Macht, die er bei verschiedenen Wahlen immer wieder verteidigen konnte. Dabei hilft ihm – wie im venezolanischen Fall – eine Mischung aus Klientelpolitik für die eigene Gefolgschaft in der sandinistischen Partei FSLN kombiniert mit Verboten oppositioneller Parteien, Änderungen des Wahlrechts und der Fragmentierung der Opposition; auch die Gleichschaltung der Gewalten und der Aufbau eines Sicherheits- und Überwachungsapparates zur Kontrolle der Gesellschaft gehören zu seinem Instrumentarium. Alle nationalen Verständigungs- und Dialogversuche sind ohne Ergebnis abgebrochen worden, selbst die Bischöfe des Landes bezeichnet Ortega inzwischen als »Putschisten«, so dass auch von ihnen nach dem gescheiterten nationalen Dialog 2018/2019 keine erneuten Vermittlungsanstrengungen erwartet werden können.

Nur USA und EU können den nötigen Druck aufbauen

Wie im venezolanischen Fall versuchte Ortega auch, die internationale Gemeinschaft mit dem fadenscheinigen Eingehen auf ihre Forderungen auszuspielen; die USA und die EU hatten vor allem mit individuellen Sanktionen gegen den Ortega-Clan reagiert. Aus der zentralamerikanischen Nachbarschaft hat der Präsident wenig Druck zu befürchten: El Salvador, Guatemala und Honduras sind alles Staaten, die selbst einen fragwürdigen Umgang mit Demokratie und Rechtsstaat praktizieren. Mexiko als großer Nachbarstaat hat sich aus der Region zurückgezogen und vertritt eine Politik der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Nur Costa Rica fordert immer wieder die Rückkehr zur Demokratie ein, kann aber bislang nur sehr beschränkt auf internationale Unterstützung rechnen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat diese Woche erneut zu einer Rückkehr zu demokratischen Regeln und transparenten Wahlen aufgerufen sowie die Freilassung der »politischen Gefangenen« gefordert. Maximal könnte die Mitgliedschaft Nicaraguas suspendiert werden, wofür 24 Stimmen –nicht zuletzt auch von den links orientierten Regierungen der Region – zusammenkommen müssen; ob das gelingen würde, ist unsicher. Doch auch damit wäre wenig verändert, allein USA und EU könnten mehr Druck aufbauen und einen Wandel im Land bewirken. Doch die USA sind gerade bemüht, den Migrationsdruck aus Zentralamerika auf ihre Grenzen zu reduzieren und möchten keinen zusätzlichen Anlass schaffen, der diese Anstrengungen konterkarieren könnte. Notwendig ist daher eine Initiative des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und der EU-Mitgliedstaaten auf höchster politischer Ebene, wie sie in den 1980er Jahren mit einer Diplomatie der Außenminister betrieben wurde, um die Bürgerkriege in der Region zu beenden. Heute muss es darum gehen, das Abgleiten Nicaraguas in offenen Autoritarismus und weiteren Schaden für die Region abzuwenden.

Measuring the Maghreb

Tue, 15/06/2021 - 15:00

International rankings and indexes, such as the World Press Freedom Index pub­lished in mid-April 2021, are increasingly influential in the Maghreb. The region’s governments promote improvements in their own performance, protest where they score poorly, and celebrate outranking their rivals. Rankings also allow opposition groups and activists to spotlight grievances in their own country. External coopera­tion partners, above all the European Union (EU) and its member states, use them as a basis for decision making and policies towards Algeria, Morocco and Tunisia. While rankings and indexes insinuate objectivity and comparability, their sources, validity and utilisation are frequently problematic. Only if they are embedded in qualitative research on the Maghreb and their downsides reflected can they make a meaningful contribution to identifying reform needs and addressing deficits.

Gipfeltreffen der G7+ in Cornwall – nur Teil der Lösung

Fri, 11/06/2021 - 13:07

Die Herausforderungen, vor denen die westlichen Demokratien heute stehen, sind enorm: Die Pandemie, ihre Folgen und ähnliche Bedrohungen in der Zukunft; der Klimawandel; wachsende gesellschaftliche Ungleichheit und rasanter technologischer Wandel – das sind die wichtigsten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Themen. Geopolitisch sind es der Aufstieg Chinas zur Weltmacht und sein Anspruch, die Weltordnung in seinem Sinne umzubauen, sowie die inneren Krisen der westlichen Demokratien und der Druck auf sie von außen. Der Gastgeber des G7-Gipfeltreffens in Cornwall am kommenden Wochenende, Boris Johnson, antwortet darauf mit einer Erweiterung des Teilnehmerkreises um die Staats- bzw. Regierungschefs von Indien, Südkorea, Australien sowie Südafrika. Er bezog sich dabei explizit auf das gemeinsame Bekenntnis dieser Länder zur Demokratie.

Historisch entstand die G7 1975 als »erweiterter Westen« vor dem Hintergrund weltwirtschaftlicher (Auflösung des Währungssystems fester Wechselkurse, Ölkrise) und weltpolitischer (sowjetische Aufrüstung und deren Expansionspolitik in der Dritten Welt) Verwerfungen. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, kooptierten die USA und ihre traditionellen europäischen Verbündeten Großbritannien und Frankreich die beiden ehemaligen Kriegsgegner und neuen Weltwirtschaftsmächte, die Bundesrepublik Deutschland und Japan. Italien und Kanada stießen hinzu; so entstand die G7, die 1975 noch über 60 Prozent der Weltwirtschaft repräsentierte, als eine Art Direktorium der westlichen Demokratien. Nach dem Endes des Kalten Krieges wurde Russland 1996 in die G7 aufgenommen und diese somit zur G8; die russische Besetzung und Annexion der Krim 2014 führte dazu, dass Russlands Mitgliedschaft suspendiert wurde. Die G8 wurde wieder zur G7, der ausschließlich westliche Demokratien angehören.

China ist Gegenspieler und Partner

Die Probleme, vor denen der Westen heute steht, sind noch wesentlich schwerwiegender und schwieriger zu bewältigen als die der 1970er Jahre. Hinzu kommt, dass die Volkswirtschaften der G7-Staaten heute nur noch rund 45 Prozent der Weltwirtschaft repräsentieren und dass ihr wichtigster Herausforderer, China, im Gegensatz zur Sowjetunion, tief in diese Weltwirtschaft integriert und deshalb zugleich Gegenspieler und Partner ist. Eine schlichte Erweiterung der G7 zu einer G11 oder »D11« der Demokratien kann daher nicht die Lösung sein.

Nicht einmal in den USA selbst, geschweige denn bei den Verbündeten, gibt es ernsthaft die Bereitschaft, die wirtschaftlichen Bindungen und Verbindungen mit China aufzulösen; allenfalls geht es darum, Verwundbarkeiten in bestimmten sensiblen Bereichen – wie zum Beispiel dem G5-Netz – einzudämmen. Zudem wird China gebraucht, etwa um den Klimawandel abzubremsen. Um entsprechende Lösungen vorzubereiten und gewissermaßen als Katalysator für verbindliche Vereinbarungen in Verträgen und internationalen Organisationen voranzutreiben – und dies ist die eigentliche Funktion der G7 – , muss China also einbezogen werden. Das könnte, wie bereits im Vorfeld des Pariser Abkommens, im Rahmen bilateraler Gespräche zwischen den USA und China, vielleicht auch gemeinsam mit der EU, erfolgen oder im Kontext der G20, wo China vertreten ist. Dagegen wäre eine G7+, also eine analog zum Cornwall-Gipfeltreffen informell erweiterte G7, ein durchaus angemessener Rahmen, um Chinas Einflussnahme auf internationale Organisationen wie etwa den VN-Menschenrechtsrat in Genf entgegenzutreten. Chinas Bestrebungen, die regionale Ordnung in Ostasien umzustoßen und dort die USA als Vormacht abzulösen, hat zudem die diplomatische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der Quad intensiviert, in der die USA mit Japan, Australien und Indien zusammenwirken. Diese Kooperation könnte perspektivisch auch auf Südkorea und einige ASEAN-Staaten wie Vietnam und die Philippinen ausgeweitet werden. Auch eine Mitwirkung europäischer Staaten wäre vorstellbar: Immerhin beschäftigt sich inzwischen auch die Nato mit China.

Engeres Zusammenwirken westlicher Demokratien – doch in welchem Forum?

Schließlich gibt es noch den Vorschlag des US-Präsidenten, noch in diesem Jahr ein Gipfeltreffen der Demokratien einzuberufen. Diesen Vorstoß unternahm Biden zuletzt auf der virtuellen Münchner Sicherheitskonferenz im Februar, jetzt wird er diesen Vorschlag in Cornwall einbringen. Er ist ebenso angemessen wie heikel. Angemessen, weil sich die westlichen Demokratien derzeit von inneren und äußeren Gegnern belagert sehen und deshalb allen Grund hätten, sich gegenseitig zu unterstützen und zu bestärken. Heikel ist diese Idee, weil sich das Format wenig zur kritischen Selbstreflexion über die Krisen der Demokratien (jeweils im Plural!) eignet und der Gipfel nur allzu leicht zu einer bequemen, aber unkonstruktiven und konfliktverschärfenden Frontstellung gegen China geraten könnte.

Dennoch verdient die Idee eines engeren Zusammenwirkens der westlichen Demokratien Unterstützung. Die G7+, wie sie am Wochenende in Cornwall tagen wird, ist dafür allerdings wenig geeignet – die Tagesordnung ist ohnehin übervoll und ihre Katalysator-Funktion wird anderweitig benötigt, etwa bei der Klima- oder Steuerpolitik. Es braucht für diese Idee ein Format, das dem idealtypischen, partizipatorischen Anspruch der liberalen Demokratien gerecht wird und zugleich auch eine der lebendigsten und erfolgreichsten Demokratien einbezieht: Taiwan. Eine gewaltsame Annexion Taiwans durch die Volksrepublik gegen den Widerstand der Bevölkerung wäre nicht nur das Ende der gegenwärtigen regionalen Ordnung in Ostasien, sondern auch eine schwere Niederlage für die Idee der westlichen Demokratie. Dennoch wäre eine offizielle Einladung an Taiwan zu einem wie immer gearteten Gipfeltreffen eine Provokation Chinas. Diese Überlegungen sprechen dafür, die Zusammenarbeit der Demokratien eher ihren Zivilgesellschaften als den Regierungen zu überantworten.

Der Antrag auf das Verbot der prokurdischen HDP beim türkischen Verfassungsgericht

Thu, 10/06/2021 - 16:23

Am 2. März 2021 hat die türkische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) eingeleitet, am 17. März die Klageschrift auf deren Verbot beim Verfassungsgericht eingereicht. Der Generalstaatsanwalt hat ferner beantragt, 687 Funktionären der Partei zu verbieten, sich in den nächsten fünf Jahren poli­tisch zu betätigen. Das würde auf den Ausschluss fast aller HDP-Politiker von der Politik hinauslaufen und so die politischen Kanäle für die Diskussion und Lösung der Kurden­frage auf Jahre verschließen. Zwar hat das Verfassungsgericht am 31. März die Klageschrift wegen verfahrensrechtlicher Mängel zurückgewiesen. Doch am 6. Juni teilte die Generalstaatsanwaltschaft mit, dass sie einen weiteren Vorstoß zum Verbot der Partei unternommen hat. Damit besteht die Gefahr, dass die Verhinderung ziviler und gewaltfreier kurdischer Politik Wasser auf die Mühlen der illegalen Arbeiter­partei Kurdistans (PKK) ist und sich der Kurdenkonflikt erneut per­petuiert. Der Vor­gang wirft ein Schlaglicht auf die Verschränkung von Politik und Justiz in der Türkei und macht strukturelle Mängel der türkischen Verfassungsordnung deutlich.

First Summit of the Anti‑China Coalition

Thu, 10/06/2021 - 15:00

The 2021 G7 Summit of the heads of state and government of the seven leading indus­trial nations (Germany, France, Italy, Japan, Canada, United States, United Kingdom) will be held in Cornwall, UK, from 11 to 13 June. As host, British Prime Minister Boris Johnson has placed future relations with China at the top of the agenda. That priori­tisation is reflected in the guest list: Australia, India, South Korea and South Africa. The Cornwall G7 has been set up to develop a broad alliance against an increasingly aggressive China. The German government tends to play up China’s economic signifi­cance and risks slipping into an outsider role, enabling a totalitarian state for eco­nomic gain.

Der erste Gipfel der Anti-China-Koalition

Thu, 10/06/2021 - 02:00

Der britische Premierminister Boris Johnson ist vom 11. bis 13. Juni Gastgeber der Staats- und Regierungschefs sechs anderer führender Industrieländer (Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, die USA). Brisanz hat dieser G7-Gipfel im eng­lischen Cornwall insofern, als Johnson die Frage der künftigen Zusammenarbeit mit China zu einem der Kernthemen gemacht hat. Die Schwerpunktsetzung zeigt sich schon an der Liste der zusätzlich eingeladenen Länder: Australien, Indien, Südkorea und Südafrika. Die Bildung einer breiten Allianz gegen das zunehmend aggressiv auf­tretende China gewinnt mit dem G7-Gipfel an Dynamik. Die deutsche Außenpolitik hat in dessen Vorfeld mehrfach auf die wirtschaftliche Bedeutung Chinas hingewiesen und gerät zusehends in die Rolle eines Außenseiters, der aus ökonomischen Inter­essen an der Zusammenarbeit mit einem totalitären Staat festhält.

Machtpolitik statt Demokratie – Peru vor der Stichwahl um das Präsidentenamt

Fri, 04/06/2021 - 00:00

Peru steht in der Stichwahl um das Präsidentenamt vor einem ungewissen Wahlgang am kommenden Wochenende. Der Anti-System-Kandidat Pedro Castillo und die Tochter des früheren Präsidenten Alberto Fujimori, Keiko Fujimori, liegen in Umfragen gleichauf. Unabhängig vom Wahlausgang werden die Verwerfungen für das Land massiv sein. Angesichts der Wahloption zwischen zwei Übeln dürften die ungültigen Stimmen zum heimlichen Wahlsieger werden. Den Schaden wird die ohnedies schwache Demokratie des Landes davontragen, auch weil beide Kandidaten sich kaum mit demokratischen Verfahrensweisen identifizieren. Ihnen geht es schlicht um Macht.

Hohe Volatilität der politischen Präferenzen

Die letzten vier Jahre waren in Peru von zahlreichen Wechseln in Regierungsämtern und im Präsidentenamt gekennzeichnet, nicht zuletzt deswegen wurden die Neuwahlen auf das Jahr 2021 vorgezogen. Im ersten Wahlgang am 11. April 2021 konnte sich der Dorflehrer aus den Anden, Pedro Castillo, mit 19 Prozent der Stimmen überraschend deutlich gegen die gesamte Elite des Landes durchsetzen; das politische Spektrum wurde durcheinander gewirbelt. Castillo war erfolgreich, weil er als einziger Kandidat den »Wandel« gegenüber der etablierten politischen Klasse repräsentiert, die bei der Wählerschaft in einem schlechten Ruf steht. Er bewirbt sich erstmals um ein politisches Wahlamt und war bislang nur als Anführer bei Lehrerstreiks in Erscheinung getreten. Sein Versprechen, die »wahren« Interessen des Volkes zu vertreten, verfing. Mit 13 Prozent schaffte es auch Keiko Fujimori – bereits zum dritten Mal – in die Stichwahl. Ihr Vater ist der ehemalige, rechtskräftig zu 25 Jahren Gefängnis verurteilte und gegenwärtig einsitzende Präsident der Jahre 1990-2000, Alberto Fujimori, der in Teilen des Landes bis heute Unterstützer hat, die seine unmittelbare Entlassung aus dem Gefängnis fordern. Die Tochter hat das zweifelhafte politische Erbe ihres Vaters angetreten, was seine Präferenz für eine Politik der harten Hand oder die umfassenden Vorwürfe der Korruption angeht. Viele schließen daher aus, sie zu wählen: Zu Beginn des Wahlprozesses waren es noch 72 Prozent der Peruaner – zuletzt allerdings nur noch 45 Prozent. Denn die aktuelle Lage des Landes kommt Fujimori zugute. Die massiven Folgen der Corona-Krise, der Wirtschaftseinbruch, die prekäre Sicherheitslage im Land und der Druck, den die zuströmenden Flüchtlinge aus Venezuela auf den (informellen) Arbeitsmarkt ausüben, sorgen für Zulauf bei ihrer Anhängerschaft, die ihr hartes Durchgreifen zutraut.

Beide Kandidaten werden im Falle ihrer Wahl große Schwierigkeiten haben, eine parlamentarische Mehrheit für sich zu gewinnen: Bei den gleichzeitig mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl abgehaltenen Parlamentswahl gelang Castillos Partei erstmals der Einzug ins Parlament – und dabei gleich als stärkste Kraft mit 37 von 130 Sitzen; Fujimoris Fuerza Popular errang 24 Sitze. Gleichzeitig aber konnten acht weitere Parteien in die Nationalversammlung einziehen, so dass dort eine hohe Fragmentierung das Regieren deutlich erschweren wird. Es ist davon auszugehen, dass sich schnell Koalitionen gegen den Präsidenten bilden werden, die eine Instabilität in der Regierungsführung, seine Abwahl oder den Rücktritt herbeiführen, wie dies bei den letzten drei Präsidenten des Landes der Fall war.

Die Polarisierung lähmt das Land

Wie polarisiert Politik und Gesellschaft in Peru sind, zeigen die Proteste gegen beide Kandidaten. Opfer von Zwangssterilisationen in der Regierungszeit ihres Vaters, Universitätsangehörige, Gewerkschafter, Sozialinitiativen, lokale Komitees und Menschenrechtsorganisationen gingen bereits vor den Stichwahlen regelmäßig gegen Keiko Fujimori auf die Straße. Aber auch Gegner von Pedro Castillo organisieren sich, um Widerstand gegen eine von ihnen als gefährliche Wendung des Landes zu einer »bolivarischen« Politik nach dem Muster Venezuelas und Boliviens zu mobilisieren. Öl ins Feuer gießen dabei Fujimori und viele Medien: Sie stilisieren den als links eingeordneten Castillo als Bedrohung des etablierten politischen Systems sowie als Förderer des Kommunismus und Terrorismus, die Peru überrollen würden, sollte er in das Präsidentenamt einziehen.

Die heimatlose Mitte

Der Fujimorismo ist nun zwangsweise zur Wahloption für die Wähler in der Mitte des politischen Spektrums geworden, die sich bislang immer von dieser politischen Familientradition abgegrenzt hatten. Nun sehen sie sich aber gezwungen, Keiko Fujimori zu unterstützen, weil sie glauben, dass sich die Demokratie besser gegen Keiko wehren kann als gegen Castillo, der eine verfassungsgebende Versammlung und die Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen verspricht. All dies sind traditionelle Bilder des Schreckens für die Mittelschicht in der Hauptstadt Lima, die damit in Castillo eine fundamentale Bedrohung sieht. Dessen Wählerschaft findet sich dagegen vor allem in der Bevölkerung der Andenregion, wo große Unzufriedenheit über die Tatsache herrscht, dass es der Politik nicht gelingt, die enormen sozialen Unterschiede zu beseitigen und die Menschen aus der Armut zu befreien. Dabei geht es vor allem um den Export von Rohstoffen wie Öl, Kupfer und Gold, dessen Erlöse die breite Bevölkerung nicht erreichen und in den Händen der Förder- und Exportfirmen verbleiben. Das Gros der Mittelschicht aber lehnt Castillos Vorschläge ab.

Unsichere Regierbarkeit

Bereits jetzt ist absehbar, dass nach einem wahrscheinlich knappen Wahlausgang die gegenseitigen Vorwürfe des Wahlbetrugs zunehmen und auch die Oberste Wahlbehörde in den Sog der Polarisierung geraten wird. Gleiches gilt für die Justiz, bei der ein Verfahren gegen Fujimori wegen Korruption anhängig ist. Aber auch dem Militär könnte wieder eine bedeutendere Rolle zukommen, wenn die Regierbarkeit des Landes aufgrund von Auseinandersetzungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen untereinander und Protesten gegen die politische Klasse sowie unsicherer Parlamentsmehrheiten infrage steht. Dass beide Kandidaten sich im Zweifelsfall nicht an demokratische Regeln und Verfahren halten, ist insoweit kein positives Signal für die Zukunft; Peru könnte damit zu einem Problemfall in der Region werden, die ohnedies von autoritären Tendenzen und ausgreifenden Dynamiken des Zerfalls politischer Organisationen geprägt ist.

State of the Union

Thu, 03/06/2021 - 02:00

Mit der Präsidentschaft Joseph Bidens sind in Deutschland und anderen EU-Staaten hohe Erwartungen an einen »Neustart« der transatlantischen Beziehungen verbunden. Die Handlungsspielräume auch dieses Präsidenten werden allerdings wesentlich mitbestimmt von langfristigen Trends in der US-amerikanischen Innen- und Außenpolitik. Sieben Trends wirken auf die Innen- und Außenpolitik der USA besonders stark ein: die politische Polarisierung; die Verschärfung der sozioökonomischen Ungleichheit; die Transformation der amerikanischen Medienlandschaft; die steigenden Kosten des Klimawandels; der Niedergang des verarbeitenden Gewerbes; die sich zuspitzende Rivalität mit China und die Zunahme der sicherheitspolitischen Anforderungen an die US-Bünd­nissysteme. Diese Entwicklungen verstärken sich ganz überwiegend gegenseitig. Es gibt kaum Einflüsse, die bewirken würden, dass ein Trend den anderen signifikant abschwächt. Das »System USA« bewegt sich daher stabil in eine Richtung – der Handlungsspielraum des amerikanischen Präsi­denten wird sich verengen. Die Revitalisierung der transatlantischen Partnerschaft unter dem Vor­zeichen einer konfrontativen Chinapolitik birgt das Risiko, die EU und die europäischen Nato-Partner der USA zu spalten, statt sie zu einen. Impulse für Veränderungen und gesellschaftliches Umdenken in den USA könnten vor allem aus dem wachsenden Problemdruck entstehen. Das gilt beispielsweise mit Blick auf die Kosten des Klimawandels und auf die Gefahren für die amerikanische Demokratie, die mit Desinformation einhergehen. Die deutsche und die europäische Amerikapolitik sollten vor diesem Hintergrund realistische Ambitionen formulieren. Chancen für mehr transatlantische Zusammenarbeit eröffnen sich unter anderem bei der Entwicklung gemeinsamer Normen, Regularien und technischer Standards für den ökonomischen Austausch, nicht zuletzt im Bereich der Digitalwirtschaft, sowie bei gemeinsamen Investitionen.

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