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Stiftung Wissenschaft und Politik
Updated: 3 hours 19 min ago

Politische Krise ohne Ende? Konsequenzen für die EU-Georgien-Beziehungen

Fri, 01/10/2021 - 14:53

Noch im Frühjahr hofften viele, dass mit den Kommunalwahlen am 2. Oktober Georgiens Politik endlich konstruktiveres Fahrwasser erreichen würde. Nach den umstrittenen Parlamentswahlen vom Herbst 2020 und dem darauffolgenden Boykott durch die Oppositionsparteien sollte ein durch EU-Ratspräsident Charles Michel vermitteltes Abkommen den Weg aus der monatelangen politischen Krise weisen. Doch vieles deutet darauf hin, dass die Spannungen zwischen Regierung und Opposition auch nach der Wahl bestehen bleiben.

Die auch als »Charles-Michel-Abkommen« bekannte Vereinbarung vom 19. April 2021 sieht richtungsweisende Reformen vor, unter anderem in den zentralen Bereichen Wahlgesetzgebung und Justiz. Eine weitere Klausel bezieht sich konkret auf die Kommunalwahlen: Die Regierungspartei »Georgischer Traum« konzediert darin mit Blick auf die innenpolitische Stabilität vorgezogene Parlamentswahlen, sollte sie weniger als 43 Prozent aller Stimmen erzielen. Ein Ende der politischen Krise, wie Charles Michel sie bei der Unterzeichnung ausrief, bedeutete das Abkommen indes nicht, war es doch von Beginn an mit Unwägbarkeiten behaftet.

Brüssel zeigt sich irritiert

Die größte Oppositionspartei »Vereinte Nationale Bewegung« (VNB) verweigerte ihre Unterschrift und verlängerte ihren Parlamentsboykott um gut einen weiteren Monat. Die Regierungspartei geriet kurze Zeit später in die Kritik, weil ihre Fortführung der als politisiert wahrgenommenen Bestellung der Richterinnen und Richter für den Obersten Gerichtshof Georgiens aus EU-Sicht das Abkommen konterkarierte. Am 28. Juli dann trat die Regierungspartei vom Abkommen zurück, verwies unter anderem auf die fehlende Unterzeichnung durch die VNB. Diese unterzeichnete plakativ am 2. September die Vereinbarung nachträglich, ohne sich bis dahin besonders konstruktiv gezeigt zu haben. Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass die politische Krise neben der innenpolitischen auch zunehmend eine außenpolitische Dimension bekommt, indem sie auf die EU-Georgien-Beziehungen abfärbt.

Zuletzt warfen insbesondere zwei Ereignisse Schatten auf das Verhältnis: Ende August erklärte die georgische Regierung ihren Verzicht auf die EU-Makrofinanzhilfe mit der Begründung, das Land habe durch starkes Wirtschaftswachstum ausreichende Ressourcen und wolle die Auslandsverschuldung senken. Brüssel hingegen gab zu verstehen, dass Georgien die Bedingungen für die Auszahlung, nämlich Reformen zur Verbesserung der Unabhängigkeit und Transparenz der Justiz, nicht erfüllt habe. Daneben sorgte eine mögliche Überwachung von EU-Diplomatinnen und -Diplomaten durch den georgischen Geheimdienst für Aufsehen, wie sie vermeintlich aus diesem geleakte Dokumente nahelegen. In den vergangenen Wochen haben sich Beobachterinnen und Beobachter mit Blick auf das Verhältnis zwischen Brüssel und Tiflis daher immer öfter gefragt: Quo vadis?

Die Rhetorik der Regierungspartei deutet darauf hin, dass man das Bild eines folgsamen Schülers vis-à-vis einer belehrenden EU korrigieren und einen selbstbewussteren, national eigenständigen Kurs einschlagen möchte. Die Entwicklungen in den kommenden Monaten dürften zeigen, inwieweit diese machtpolitischem Kalkül geschuldet ist oder ob sie einer außenpolitisch substantielleren Kursänderung den Weg bereitet.

In Brüssel jedenfalls haben die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate durchaus irritiert. Dabei greift die Sondierung eines »Wie weiter?« über das unmittelbare EU-Georgien-Verhältnis hinaus. Angesichts der Verschiebung regionaler Kräfteverhältnisse im Kontext des 44-Tage-Kriegs in und um Bergkarabach stellt sich auch die Frage nach der Rolle der Europäischen Union im Südkaukasus. Das EU-Engagement in Georgien im Verlauf dieses Jahres lässt sich als Versuch Brüssels werten, dort stärkere Präsenz zu zeigen. Dass nun offenbar die »Soft Power« der EU sowie ihre finanziellen Anreize beim bislang am zuverlässigsten pro-europäisch ausgerichteten Staat in der Region an Grenzen stößt, sollte der EU zu denken geben.

Die EU muss ihre Rolle finden

Für den Fall, dass Georgien Vereinbarungen, wie eben Reformen zur Stärkung des Rechtsstaats, nicht umsetzt, behält sich die EU die Anwendung des sogenannten »less for less«-Prinzips vor: wer weniger umsetzt, erhält auch weniger Unterstützung. Das Beispiel Makrofinanzhilfe hat aber gezeigt, dass seine präemptive Wirkung begrenzt ist. Ein Risiko des Prinzips ist zudem, dass es ein Entfremden der Partner katalysiert, statt abwendet. Anstelle von »less for less« – welches das sonst waltende Prinzip »more for more« spiegelt – könnte daher ein »better targeted«-Ansatz sinnvoller sein.

Die EU-Unterstützung würde dabei etwa noch stärker auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zugeschnitten. Sozioökonomische Problemlagen werden in Umfragen regelmäßig als prioritäre Herausforderungen genannt; die Covid-Pandemie dürfte die Haushalte weiter belasten. Die EU könnte daher versuchen, ungenutzte Potentiale des Abkommens über die vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA) für die lokale Entwicklung zu nutzen, etwa für die Modernisierung der Landwirtschaft. Daneben könnte sie mit direkter Unterstützung der Zivilgesellschaft, die örtliche Strukturen und Kapazitäten besser berücksichtigt, Teilhabe an gesellschaftlichen, sozioökonomischen und politischen Entwicklungsprozessen fördern. Auf politischer Ebene könnte eine Task Force nach dem Beispiel der »Support Group for Ukraine« Reformen engmaschig begleiten und Unterstützungsleistungen innerhalb der EU sowie mit anderen externen Akteuren koordinieren. Wie erfolgreich ein solches Instrument wäre, hängt letztlich jedoch vom politischen Willen der Regierung in Tiflis ab. Im Moment scheint es so, als hätten machtpolitische Interessen dort mehr Gewicht.

Die derzeitigen Verstimmungen zwischen Tiflis und Brüssel bedeuten nicht, dass sich die EU weniger, sondern dass sie sich mehr mit einer eigenen strategischen Vision für ihre Rolle in Georgien und im Südkaukasus auseinandersetzen sollte. Der für Dezember geplante Gipfel der Östlichen Partnerschaft etwa würde sich für die Formulierung einer solchen Vision anbieten.

Türkei und Russland

Thu, 30/09/2021 - 02:05

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland stellen viele im Wes­ten vor Rätsel. Wie tragfähig ist das Verhältnis, welche Rolle spielt der Westen darin, worauf stützt es sich, und was kann der Westen daraus lernen? Von zentraler Bedeutung ist der bilaterale Rahmen. Die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau fußen auf der gegenseitigen Anerkennung der Sicherheitsinteressen des jeweils anderen. Die sich daraus ergebende Schlüsseldynamik ist nicht nur in der aktuellen türkisch-russischen Part­nerschaft in Syrien zu beobachten, sondern prägte bereits die Zusammenarbeit in den 1990er Jahren. Das gegenseitige Eingehen auf Sicherheitsbedenken des anderen Partners wird durch die Aussicht auf gemeinsame Projekte erleichtert, deren Um­setzung mehr Vorteile verspricht als ein Verharren im Konflikt. Vertrauen spielt dabei ebenso eine untergeordnete Rolle wie die Qualität der persönlichen Beziehungen zwischen dem türkischen und dem russischen Präsidenten. Vielmehr kommt es auf die Interdependenzen an, die Russland und die Türkei miteinander verbinden. Das Potenzial für Konfrontation oder Kooperation zwischen Ankara und Moskau in regionalen Konflikten bemisst sich nach den gegenwärtigen Prioritäten, nicht nach Rivalitäten der Vergangenheit. Ausschlaggebend für Form und Ausmaß der Zusammenarbeit ist nicht die Frage, auf welcher Seite des Konfliktes sie stehen, sondern die nach ihren jeweiligen Beweggründen.

Deutsche Außenpolitik im Wandel

Thu, 30/09/2021 - 02:00

Die Bundesregierung wie auch der Bundestag stehen in der kommenden Legislaturperiode vor der Notwendigkeit, die Reichweite deutscher Verantwortung in der Weltpolitik neu zu bestimmen. Ohne eine Bestandsaufnahme, wie sich die internationale Arena verändert hat und welcher Wandel darüber hinaus geboten ist, können die Handlungspotentiale deutscher Außenpolitik nicht sachgerecht beurteilt werden. Internationale Machtverschiebungen, Positionsverluste des Westens, wachsender Autoritarismus, Schwächung multilateraler Institutionen und drängende globale Probleme wie der Klimawandel – all diese Herausforderungen erfordern eine Neuaufstellung deutscher Außenpolitik. Dabei gilt es die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit, aber auch die gegebenen Handlungsspielräume richtig einzuschätzen. Ziele wie Prioritäten sollten sich daran orientieren. Deutsche Außenpolitik steht in einem sich verschärfenden Wettbewerb um internationalen Einfluss und die Deutungshoheit über Normen und Werte. In den einzelnen Feldern auswärtigen Handelns ist dieser Wettbewerb unterschiedlich ausgeprägt. Daher kann deutsche Präsenz in der internationalen Politik nur wirkungsmächtig sein, wenn die Ressourcen der involvierten Ressorts zusammengeführt werden. Im außenpolitischen Entscheidungsprozess müssen Freiräume für voraus­schauende und mittelfristige Ansätze geschaffen werden. Auf diese Weise kann es gelingen, die Neigung zu Ad-hoc-Entscheidungen auszugleichen und ein vorwiegend reaktives Verhaltensmuster zu vermeiden. Deutschlands Außenbeziehungen müssen an belastbaren Partnerschaften und neuen Formen der Verantwortungsteilung in den verschiedenen Politikfeldern ausgerichtet sein. Wie dabei auftretende Zielkonflikte zu regeln sind, kann nur in einer offenen und transparenten Diskussion aus­gehandelt werden.

Resilienzförderung als Lösung für langandauernde Fluchtsituationen?

Wed, 29/09/2021 - 02:00

Die Zahl der Flüchtlinge weltweit steigt seit Jahren an, eine Umkehr dieses Trends ist auch in Zukunft nicht absehbar. Noch immer werden die meisten Flüchtlinge von Nachbarstaaten aufgenommen. Dabei nehmen langandauernde Fluchtsituationen zu, die sowohl Flüchtlinge als auch aufnehmende Länder vor große Herausforderungen stellen. Die internationale Gemeinschaft versucht seit Jahrzehnten, Lösungen für sol­che Fälle zu finden – bislang mit begrenztem Erfolg. Seit einigen Jahre gilt die Förde­rung von Resilienz, also von Widerstandsfähigkeit, als richtungsweisender Ansatz; unter anderem wird er in Jordanien und Libanon verfolgt. Wie ist dieser Ansatz zu bewerten? Kann er auch für andere langandauernde Fluchtsituationen als Modell dienen, beispielsweise in den Nachbarländern Afghanistans?

Ankara is preparing to ratify the Paris Agreement: Is that enough?

Tue, 28/09/2021 - 13:50

Turkey went through a terrible summer from an ecological point of view: The country has been experiencing unprecedented wildfires caused by heat waves and droughts that have devastated forests in the southwestern part of Anatolia, while floods have been hitting the north and east. The disasters obviously also have unprecedented economic and social consequences, all of which are raising concerns about Turkey’s vulnerability to environmental crises and climate change and Ankara’s ability to cope with them.

Already in 2011, the Turkish authorities, in the National Adaptation Strategy and Action Plan, realized that Turkey’s location in the Mediterranean basin made it more susceptible to arid conditions and heat waves resulting from climate change, citing the 4th IPPC report of the United Nations Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). In its 6th report, published in August, the IPPC concludes that climate change is already creating many extreme weather and climate events in all regions of the world and that they are intensifying in an unprecedented way.

Despite these bitter observations, Ankara has long refrained from ratifying the Paris Agreement. The legally binding international treaty was signed with the central objective of limiting global warming to well below 2°C and continuing efforts to limit it to 1.5°C. But recently, President Erdoğan declared the country’s intention to ratify the Paris Agreement before the UN Climate Change Conference of the Parties (COP26), which is to open in Glasgow on 31 October.

The mindset of the Turkish government can help to explain its inadequate efforts to address the climate crisis, but to understand this resistance on the part of Ankara, one should look at Turkey’s problematic position in the global climate change regime.

Lack of domestic commitment

Climate change has never been a priority for the ruling Justice and Development Party (AKP). Its growth-oriented economic and energy policies of the past 20 years have followed a development model that prioritizes economic gains while ignoring their environmental consequences. Already realized projects such as the Istanbul Airport or planned projects such as the Istanbul Canal are only a few examples of this vision. Another is the priority given to the use of coal. It is still the third-largest source of primary energy in Turkey after oil and natural gas, and coal-related emissions have increased by almost 32 percent over the last decade. Total greenhouse gas emissions increased by 137 percent between 1990 and 2018, and the government does not currently have a target year for peaking emissions or for reducing emissions in absolute terms. Moreover, Turkey contends, like many other less-developed countries, that it only has a negligible responsibility for greenhouse gas emissions – and hence should do less than fully industrialized countries, which have a huge historical responsibility for anthropogenic climate change.

Turkey’s special circumstances

In 1992, when the United Nations Framework Convention on Climate change (UNFCCC) was adopted, as a member of the OECD – and without any objection from Turkish officials at that time – Turkey was listed in both Annex I and Annex II of the UNFCCC. These countries, which are generally richer and more developed, are expected to take the lead in combating climate change. But most importantly, Annex II countries should also provide financial support to “developing” countries that are in the “non-Annex I” group and have fewer obligations. Turkey was therefore theoretically obliged to reduce its emissions and help “developing countries” such as Brazil, South Korea, and China. As a result of Turkey’s diplomatic efforts, the country was finally removed from Annex II in 2001, but it is still listed in Annex I, which means that Turkey is not obliged to contribute to climate finance, but it cannot benefit from financial support either.

As a consequence, during the Conference of the Parties in Paris in 2015, Ankara said it would not sign the agreement if its demand was not taken into account. Chancellor Merkel and President Hollande had to intervene to convince President Erdoğan to sign the agreement. But before ratifying the Paris Agreement, Ankara wanted to be removed from the list of developed countries of the UNFCCC and receive financial assistance for climate change mitigation. Obviously, Turkey’s behavior carries a cost in the form of ecological costs to Turkey and the surrounding region as well as negative impacts on the Turkish economy and global efforts against climate change.

Getting Turkey on board

The effects of climate change will require significant changes in geo-economic policies at the European and global levels. The EU is already progressively integrating climate factors into its external economic relations, which will change the way it trades with its partner. The EU’s planned carbon border tax, called the Border Carbon Adjustment Mechanism, would be a significant tool in this strategy and affect Turkey’s trade relations with the EU if Turkey fails to decarbonize its economy. Turkey conducts half of its trade with the EU. The decarbonization would therefore also be an economic and strategic requirement for Turkey in terms of its trade and other relations with the EU.

The ratification of the Paris Agreement will be the first positive step toward joining the international coalition to fight climate change, and it should also been seen as part of Turkey’s charm offensive toward the West. This effort will not be complete if Ankara does not make concrete mitigation commitments by submitting a new and more ambitious version of its Nationally Determined Contributions.

It seems that Ankara can be motivated to take such moves and be actively involved in the fight against climate change through financial assistance. The EU can play an important role here. It should effectively use its financial and diplomatic powers to secure these outcomes. After all, bringing Turkey on board in the global fight against climate change is also in the interest of the EU, which has the leadership role in achieving the objectives of the Paris Agreement. This would not only contribute toward global mitigation efforts, but also increase Turkey’s resilience and preparedness for the ecological crises that will only worsen with climate change.

This text was also published by fairobserver.com.

Globale Gesundheitspolitik in der Corona-Pandemie: »Es war ein Beispiel der Nichtzusammenarbeit«

Mon, 27/09/2021 - 14:51

Anfang September haben sich die Gesundheitsminister der G20 darauf verständigt, die globale Impfstoffverteilung zu verbessern. Warum ist die weltweite Verteilung so langsam?

Ilona Kickbusch: Weil sich zumindest die reichen Staaten erst um die eigene Bevölkerung gekümmert haben. Jetzt, wo sie höhere Impfraten haben, sind sie auch bereit, Impfstoffe zu teilen. Anfangs hat der sogenannte Covax-Mechanismus, um Impfstoffe weltweit zu verteilen, nicht so gut funktioniert. Mittlerweile läuft es besser. Die reicheren Länder haben gemerkt, dass es nicht nur darum geht, Geld zu geben, sondern auch Impfstoffe zu teilen. Wenn die Impfstoffproduzenten schon alles vorverkauft haben, nützt auch das Geld nichts.

Maike Voss: Es gab keine gute gemeinsame Vorbereitung auf Gesundheitskrisen. Mechanismen wie Covax wurden erst in den ersten Monaten der Pandemie entwickelt. Wir haben also erst in der Krise angefangen, internationale Systeme aufzubauen. Die hätten wir vorher gebraucht.

Welche Schwachstellen der globalen Gesundheitspolitik hat die Corona-Pandemie noch aufgezeigt?

Kickbusch: Zunächst einmal haben die meisten Länder, die für alle Mitgliedsländer der WHO verpflichtenden internationalen Gesundheitsvorschriften nicht umgesetzt. Dann galt sehr schnell »My Country First«: Grenzen wurden hochgezogen, Lieferketten unterbrochen oder Verträge über Lieferungen von Masken nicht eingehalten. Es war ein Beispiel der Nichtzusammenarbeit. Gleichzeitig trat aber auch die Schwachstelle eines Entwicklungshilfemodells hervor: Globale Gesundheitspolitik lässt sich nicht mit Wohltätigkeit lösen. Es braucht ganz neue Finanzierungsformen.

Wie kann die WHO diesen Problemen künftig begegnen?

Voss: Hier ist zunächst nicht die WHO in der Pflicht. Es sind eher die Mitgliedstaaten, die ihre Versprechen einlösen müssen — vor allem was die Finanzierung der WHO angeht. Es gibt zwar einen großen Konsens darüber, dass sie besser grundfinanziert werden muss. Wir sehen aber eher wenig konkrete Schritte in diese Richtung. Die WHO braucht unter anderem eine bessere Unterstützung für ihr Health Emergencies Programme WHE. Dahinter steckt ein Team, das darauf spezialisiert ist, Pandemieausbrüche frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Zu diesem Zweck wurde Anfang September auch der »WHO Hub for Pandemic and Epidemic Intelligence« eröffnet. Dann liegen noch verschiedenste Reformvorschläge auf dem Tisch, die jetzt geprüft, diskutiert und umgesetzt werden müssen. Dabei geht es unter anderem darum, wie man noch besser mit anderen Sektoren zusammenarbeiten kann, also zum Beispiel Tier, Mensch, Gesundheit neu zusammen zu denken. Diese Interdisziplinarität gilt es zu institutionalisieren.

Kickbusch: Deutschland hatte die Erhöhung der regulären Mitgliedsbeiträge der WHO schon vor der Pandemie auf die Agenda gesetzt. Es ist natürlich so, dass jedes Land sagt, wir wollen die WHO stärken. Sobald es aber an den eigenen Geldbeutel geht, sinkt die Bereitschaft. Inzwischen müsste das reguläre Budget wahrscheinlich schon verdoppelt werden. Schaut man sich an, was uns Covid-19 schon gekostet hat, handelt es sich dabei aber vergleichsweise um Peanuts. Und was viele nicht wissen: Der größte Geldgeber der WHO sind nicht mehr die USA, sondern Deutschland.

Die Bundesregierung betont die Bedeutung von globaler Zusammenarbeit und internationalen Organisationen zur Bewältigung der Corona-Pandemie. Gleichzeitig blockiert sie bei der Welthandelsorganisation WTO die Freigabe von Impfstoffpatenten. Wie passt das zusammen?

Voss: Als größter Geber der WHO wird Deutschland international sehr geschätzt. Dass es den Vorstoß von Südafrika und Indien innerhalb der WTO, die eine zeitweise Aussetzung des Patentschutzes für Corona-Impfstoffe fordern, blockiert, halte ich für problematisch. Auf der einen Seite geht es natürlich darum, die Schlüsseltechnologie mRNA zu schützen. Hier sind die Argumente der Bundesregierung ganz nah an den Argumenten der Wirtschaft. Andererseits würde der Verzicht auf Patente die globale Pandemiebewältigung beschleunigen. Als Verfechter des globalen Multilateralismus befindet sich Deutschland hier im Widerspruch. Die nächste Bundesregierung sollte diesen auflösen.

Kickbusch: Trotz der gegensätzlichen Positionen in der Patentfrage, sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Südafrika außerordentlich gut. Deutschland unterstützt Südafrika gerade dabei, Produktionsstätten für Impfstoffe aufzubauen. Die USA haben sich für eine Lockerung des Patentschutzes ausgesprochen, weil es kein Patent ist, das sie im Land halten. Daher können sie sich auch so positionieren. Gleichzeitig lehnen sie aber ein globales Gesundheitsabkommen vehement ab. 

Welche Aufgaben kommen auf die künftige Bundesregierung zu?

Kickbusch: Wichtig wird die G7-Präsidentschaft Deutschlands im nächsten Jahr sein — und dafür wiederum die Zusammensetzung der neuen Bundesregierung. Wie wird sie globale Gesundheit definieren und wie viel dafür einsetzen? Deutschland könnte viel bewirken, wenn die G7 und G20 in puncto globale Gesundheit konsistenter zusammenarbeiten. Dafür muss sie aber zunächst in der Bundesregierung selbst eine Form der Zusammenarbeit für globale Gesundheit schaffen, klären wie es innerhalb und zwischen den einzelnen Ministerien organisiert werden soll. Hier spielen auch Finanzierungsentscheidungen eine Rolle: Welches Ministerium bekommt das Geld für die globale Gesundheit?

Voss: Für eine konsistente Zusammenarbeit auf globaler Ebene muss die Bundesregierung zunächst die Zielkonflikte in Berlin auflösen. Viel zu oft wird das internationale Handeln Deutschlands, aber auch anderer Länder, dadurch bestimmt, welches Ressort sich innerhalb der Absprachen im Land durchgesetzt hat — und unterschiedliche Ressorts haben unterschiedliche Interessen. Globale Gesundheitspolitik ist aber kein Feld, das nur von einem Ministerium oder Politikbereich bespielt wird. Außerdem muss die neue Bundesregierung die globale Gesundheitsstrategie vom Oktober vergangenen Jahres umsetzen. Dass dies noch nicht sichtbar begonnen wurde, ist zum Teil verständlich, da die entsprechenden Akteure aufgrund der Pandemie mit anderen Dingen beschäftigt waren. Dafür sollte es aber nun umso schneller gehen.  

Prof. Dr. Ilona Kickbusch berät die Weltgesundheitsorganisation unter anderem im Aufbau des WHO Pandemic and Epidemic Intelligence Hub.

Das Interview führte Cetin Demirci von der Online-Redaktion.

A Shared Responsibility for Northern Ireland

Fri, 24/09/2021 - 02:00

Even after the Brexit treaties have come into effect, the conflict over how to deal with Northern Ireland is still straining relations between the European Union and the United Kingdom. From London’s perspective, the Northern Ireland Protocol leads to unacceptable economic, political, and social disruptions, which is why it is calling for a fundamental renegotiation. The EU, for its part, is accusing the British government of failing to fully comply with its obligations under the protocol. The recent exten­sion of some of the protocol’s grace periods has mitigated the conflict somewhat, but it only works to postpone the difficult decisions into the future. A serious political dispute continues to simmer in the background, with negative implications for the still difficult UK-European relationship. But simply insisting on London’s legal obliga­tions is insufficient – the EU should show flexibility in implementation but demand that London unequivocally accepts the protocol.

The weak European reflex in the German Cyber Security Strategy 2021

Thu, 23/09/2021 - 15:34

Whether financial crisis, migration or Corona – the past decade has shown that Germany cannot easily implement its international goals without the EU. This fact is hardly taken into account in the German cybersecurity strategy adopted on 8 September. Germany's positioning in European and international cybersecurity policy is listed as the last of four prioritised fields of action. These fields are largely of a domestic nature. This also applies to the German discourse on the topic of IT security: representatives of digital civil society, the Association of the Internet Industry (eco) as well as some computer science professors criticise the planned development of an active cyber defence – including the possibility of digital counterattacks, so-called hackbacks.* However, they primarily discuss domestic federal competences or fundamental rights issues such as the separation requirement. There are four reasons why the EU would have to be much more involved in order for the strategy to work.

European imperatives

First, the number of serious cybersecurity incidents affecting EU services of general interest continues to rise. Diplomatic action, travel restrictions and asset freezes – for example, Russian intelligence officers blamed for cyberattacks – have proven cumbersome, incoherent and ineffective here in the past. A purely national perspective means that EU member states do not react uniformly to cyber incidents.

Secondly, the EU is not only the framework for German policy, but also inextricably intertwined with it through the direct effect of European law. The 2014 ruling on data retention by the European Court of Justice not only formulated requirements for data protection, but also for data security. In the same way, the EU Cybersecurity Act of 2019 is a regulation and thus obliges all member states to implement it. However, the importance of EU law and the case law of the European Court of Justice is underestimated in the German cybersecurity strategy. Yet these are central reference points for German legislation. On the other hand, Germany cannot impose cyber sanctions against third countries or their so-called proxies without the EU.

Thirdly, the German government cannot reduce the EU to a coordinating role, if only because internal market protection is inconceivable without the Commission acting as a safeguard of EU treaty obligations. The security and stability of the Union is not the task of the member states alone. For example, the EU Commission will set up a joint cyber unit by 2023 to take joint action against attackers. Part of the necessary investment will be provided through the Digital Europe programme. The development of cyber defence capabilities will be financed by the European Defence Fund. In her State of the European Union address on Wednesday, EU President Ursula von der Leyen also announced a cyber resilience act to define common standards.

Fourth, transnational cybercrime cannot be solved effectively on a purely national level. Europol and the European Cybercrime Centre (EC3) are regarded by other states as role models in the international fight against cybercrime precisely because of their transnational investigative successes. The call for a European investigative agency modelled on the FBI is therefore becoming louder in cyber security policy.

Overall, it becomes clear here that cyber security in the EU is no longer a national matter, but must be understood as a component of its shared sovereignty.

Germany in a global context

However, the necessary integration in the German cybersecurity strategy is not limited to the EU; it must also be coupled with strong transatlantic cooperation between the EU and the US within the newly established Trade and Technology Council. Far too often, transatlantic cooperation is thought of in terms of a national bilateralism between Germany and the USA. The first argument in favour of this is that Alliance solidarity obliges the German government to maintain an active cyber defence even in peacetime. However, a demanding technical, legal and political attribution can neither be coordinated without the European External Action Service nor realised without US cooperation. For this, Germany must in turn act in close coordination with its EU partners such as France, the Netherlands, Denmark or Sweden. Germany's transnational critical infrastructure in itself effectively precludes it from going it alone in cyber defence, not least because the expertise for sophisticated technical solutions is not sufficiently available in Germany.

A convincing security strategy therefore requires close cooperation with international experts as well as the knowledge imparted at the EU level via Europol in coordination with the Cybersecurity Research Centres and the European Union Agency for Cyber Security (ENISA). Sustainable influence on global standards and norm setting in the multi-stakeholder forums of Internet governance can also only be successful in the long term if democratic states coordinate among themselves in data protection and data security policies. In the face of increasingly complex global politics, the new German government should promptly Europeanise the cybersecurity strategy so that it sees itself as part of the EU Cyber Strategy 2020 and, in a global context, serves to cooperate with its democratic allies.

*Dr. Matthias Schulze was part of this initiative.

This text was also published by fairobserver.com.

Afghanistan: The West Fails – a Win for China and Russia?

Wed, 22/09/2021 - 02:00

Russia and China are seen as the main beneficiaries of the Western withdrawal from Afghanistan regarding their political influence and potential exertion of power. In both the Chinese and Russian debate, however, alongside triumphant comments about Western failure, serious concerns about the regional security situation are being voiced. Western actors should seek a more nuanced understanding of Beijing’s and Moscow’s perspectives. This could also lead to opportunities for cooperation that would serve to stabilise Central Asia and Afghanistan. In view of the intensifying global systemic rivalry, however, the scope for cooperation will remain limited.

Mitverantwortung für Nordirland

Wed, 22/09/2021 - 02:00

Auch nach dem Vollzug des Brexits belastet der Umgang mit Nordirland die Beziehungen zwischen Europäischer Union und Vereinigtem Königreich. Aus Sicht Lon­dons führt das Nordirland-Protokoll zu unzumutbaren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, darum fordert es eine grundlegende Neuverhandlung. Die EU wieder­um wirft der britischen Regierung vor, ihren Pflichten nicht vollständig nachzukom­men, die sich aus dem Protokoll ergeben. Die jüngste Verlängerung von Übergangsfristen hat die Konfrontation zwar entschärft, aber eine Regelung der schwierigen Fragen nur vertagt. Im Hintergrund schwelt weiterhin ein ernster politischer Streit mit Folgen für das ohnehin angespannte britisch-europäische Verhältnis. Doch ein reines Beharren auf den Rechtspflichten Londons reicht auch für die EU nicht – sie sollte sich bei der Umsetzung flexibel zeigen, dafür aber einfordern, dass London das Protokoll unmissverständlich akzeptiert.

Schwachstellen der deutschen Cybersicherheitsstrategie 2021

Mon, 20/09/2021 - 08:15

Ob Finanzkrise, Migration oder Corona — das vergangene Jahrzehnt hat gezeigt, dass Deutschland seine internationalen Ziele ohne die EU kaum umsetzen kann. Dieser Fakt wird in der am 8. September verabschiedeten deutschen Cybersicherheitsstrategie kaum beachtet. Die Positionierung Deutschlands in der europäischen und internationalen Cybersicherheitspolitik wird als letztes von vier priorisierten Handlungsfeldern angeführt. Ein Großteil der Handlungsfelder ist innenpolitischer Natur. Das gilt auch für den deutschen Diskurs zum Thema IT-Sicherheit: Vertreterinnen und Vertreter der digitalen Zivilgesellschaft, der Verband der Internetwirtschaft (eco) sowie einige Informatikprofessorinnen und Informatikprofessoren kritisieren zwar den geplanten Aufbau einer aktiven Cyberverteidigung — inklusive der Möglichkeit zu digitalen Gegenschlägen, sogenannter Hackbacks.* Sie diskutieren jedoch vorrangig innenpolitische föderale Kompetenzen oder grundrechtliche Fragen wie das Trennungsgebot. Dabei gibt es vier Gründe, warum die EU viel mehr berücksichtigt werden müsste, damit die Strategie aufgeht.

Europäische Imperative

Erstens steigt die Zahl schwerwiegender Cybersicherheitsvorfälle, die EU- Dienstleistungen in ihrer Daseinsvorsorge beeinträchtigen, weiter an. Diplomatisches Vorgehen, Reisebeschränkungen und Kontensperrungen etwa von russischen Geheimdienstmitarbeitern, die für Cyberangriffe verantwortlich gemacht werden, haben sich hier in der Vergangenheit als schwerfällig, inkohärent und ineffektiv erwiesen. Eine rein nationale Perspektive führt dazu, dass die EU-Mitgliedstaaten nicht einheitlich auf Cybervorfälle reagieren.

Zweitens ist die EU nicht nur Handlungsrahmen deutscher Politik, sondern über die Direktwirkung europäischen Rechts untrennbar mit ihr verschränkt. Mit dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung des Europäischen Gerichtshofs 2014 sind nicht nur Anforderungen an den Datenschutz formuliert worden, sondern auch zur Datensicherheit. Genauso ist das Cybersicherheitsgesetz der EU von 2019 eine Verordnung und verpflichtet damit alle Mitgliedstaaten, sie umzusetzen. Die Bedeutung des EU-Rechts und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) wird in der deutschen Cybersicherheitsstrategie jedoch unterschätzt. Dabei sind sie zentrale Referenzpunkte für die deutsche Gesetzgebung. Auf der anderen Seite kann Deutschland ohne die EU weder Cybersanktionen gegen Drittstaaten noch deren sogenannte Proxys erlassen.

Drittens kann die Bundesregierung die EU nicht auf eine koordinierende Rolle reduzieren — schon allein weil der Binnenmarktschutz ohne die Kommission als supranationales Organ nicht denkbar ist. Die Sicherheit und Stabilität der Union ist nicht allein Aufgabe der Mitgliedstaaten. So wird die EU-Kommission bis 2023 eine gemeinsame Cybereinheit aufbauen, um gemeinsam gegen Angreifer vorzugehen. Ein Teil der erforderlichen Investitionen soll über das Programm »Digitales Europa« bereitgestellt werden. Die Entwicklung der Cyberabwehrfähigkeiten wird aus dem Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) finanziert. In ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union kündigte EU-Präsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch auch ein Gesetz zur Cyber-Widerstandsfähigkeit, Cyber Resilience Act (CRA), an, der gemeinsame Standards definieren soll.  

Viertens lässt sich länderübergreifende Cyberkriminalität rein national nicht effektiv aufklären. Europol und dem Europäischen Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität (EC3) wird gerade aufgrund ihrer länderübergreifenden Ermittlungserfolge von anderen Staaten eine Vorbildfunktion in der internationalen Cyberkriminalitätsbekämpfung zugesprochen. Der Ruf nach einer europäischen Ermittlungsbehörde nach Vorbild des FBI wird daher in der Cybersicherheitspolitik immer lauter.

Insgesamt wird hier deutlich, dass Cybersicherheit in der EU keine nationale Angelegenheit mehr ist, sondern als Bestandteil seiner geteilten Souveränität verstanden werden muss.

Deutschland im globalen Kontext

Die notwendige Einbindung in die deutsche Cybersicherheitsstrategie beschränkt sich allerdings nicht nur auf die EU; sie muss auch mit einer starken transatlantischen Kooperation zwischen der EU und den USA verkoppelt sein. Viel zu oft wird transatlantische Zusammenarbeit über die nationale bilaterale Zusammenarbeit gedacht. Hierfür spricht zuerst einmal, dass die Bündnissolidarität die Bundesregierung verpflichtet, eine aktive Cyberabwehr auch in Friedenszeiten vorzuhalten. Eine anspruchsvolle technische, rechtliche und politische Attribution kann aber weder ohne den Europäischen Auswärtigen Dienst koordiniert noch ohne US-amerikanische Kooperation realisiert werden. Dafür muss Deutschland wiederum in enger Abstimmung mit seinen EU-Partnern wie Frankreich, die Niederlande, Dänemark oder Schweden handeln. Einen Alleingang Deutschlands in der Cyberabwehr schließt schon seine transnational angelegte kritische Infrastruktur faktisch aus, auch weil die Expertise für anspruchsvolle technische Lösungen in Deutschland nicht im ausreichenden Maße vorhanden ist.

Eine überzeugende Sicherheitsstrategie bedarf daher der engen Zusammenarbeit mit internationalen Expertinnen und Experten sowie der auf EU-Ebene über Europol in Abstimmung mit den Cybersecurity Research Center und der Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit (ENISA) vermittelten Kenntnisse. Auch die nachhaltige Einwirkung auf globale Standard- und Normensetzung in den Multistakeholder-Foren der Internet Governance kann nur dann langfristig erfolgreich sein, wenn sich die demokratischen Staaten koordinieren. Angesicht einer immer komplexeren Globalpolitik sollte die neue Bundesregierung die Cybersicherheitsstrategie zeitnah europäisieren, so dass sie sich als Teil der EU-Cyberstrategie 2020 versteht und, im globalen Kontext, der Zusammenarbeit mit seinen demokratischen Bündnispartnern dient. 

*Dr. Matthias Schulze war Teil dieser Initiative.

Afghanistan: Der Westen scheitert – China und Russland gewinnen?

Wed, 15/09/2021 - 02:00

Russland und China gelten als machtpolitische Profiteure des westlichen Abzugs aus Afghanistan. Sowohl im chinesischen als auch im russischen Diskurs werden aber neben triumphierenden Kommentaren zum westlichen Scheitern auch ernste Befürchtungen im Hinblick auf die regionale Sicherheitslage laut. Westliche Akteure sollten sich um ein differenzierteres Verständnis der Pekinger und Moskauer Perspektiven bemühen. Daraus könnten sich auch Möglichkeiten der Kooperation ergeben, die der Stabilisierung Zentralasiens und Afghanistans dienen. Angesichts des sich verschärfenden globalen Systemwettbewerbs wird der Spielraum für Zusammenarbeit jedoch begrenzt bleiben.

EU-Sicherheitspolitik: Lehren aus dem Afghanistan-Desaster

Tue, 14/09/2021 - 08:38

Vor dem Treffen mit ihren EU-Amtskolleginnen und -kollegen Anfang September brachte es Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer auf den Punkt: »Wir waren in Afghanistan von den Amerikanern abhängig«. Sie folgerte, »daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen« und zu definieren, »was das dann ganz konkret heißt, auf europäischer Ebene wirklich handlungsfähig zu sein«. Um die Souveränität der EU in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu stärken, ergeben sich sechs konkrete Schritte.

Koordiniertes Handeln stärken

Erstens sollte eine »konsularische Koordinierung« zwischen Brüssel, den Hauptstädten und dem Einsatzgebiet stattfinden, um die EU in Evakuierungseinsätzen künftig handlungsfähiger zu machen. Es war beachtlich, dass nach der Machtübernahme der Taliban die EU-Mitgliedstaaten innerhalb von zwei Wochen 24.000 ihrer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sowie Ortkräfte in Sicherheit gebracht haben. Die USA vermochten im selben Zeitraum gleichwohl über 120.000 Menschen zu retten. Der Unterschied lag zum einen in den deutlich größeren US-Transportmaschinen begründet. Zum anderen waren zahlreiche Rettungsflugzeuge der EU aber auch kaum ausgelastet.

Ursächlich dafür waren einmal mehr nationale Alleingänge. Nur wenige Mitgliedsländer waren bereit, Ortskräfte anderer EU-Staaten in ihre Maschinen aufzunehmen und auszufliegen. Darüber hinaus hat jedes Mitgliedsland seine eigenen Ressourcen mobilisiert und auf ihm vertraute Standorte zurückgegriffen. Deutschland flog die Menschen über Usbekistan aus, Frankreich über seine Militärbasis in Abu Dhabi. Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Rumänien nutzten einen Flughafen in Pakistan, Italien operierte über Kuweit. Die mangelhafte Bündelung von Ressourcen machte die Koordination am Flughafen in Kabul schwer. Und so benötigt die EU zweitens ein integriertes Krisenreaktionszentrum, das in der Lage ist, zivile und militärische Akteure zu koordinieren.

Drittens benötigt die EU eine eigenständige Auslandsaufklärung. Frankreich hatte seine Partner bereits im Juni auf die Schwächen der afghanischen Sicherheitskräfte hingewiesen und begonnen, französische Staatsbürgerinnen und -bürger auszufliegen. Für seine pessimistische Sichtweise wurde es von seinen EU- und Nato-Partnern – nicht zuletzt von Berlin – kritisiert. Hier wurden Erklärungen der USA Glauben geschenkt, wonach die Arbeit der vergangenen zwei Jahrzehnte Früchte getragen habe.

Mehr Flexibilität wagen

Viertens müssen sich die EU-Mitgliedstaaten in der Lage erweisen, Fähigkeiten zu beschaffen, die notwendig sind, um etwa einen Flughafen wie den in Kabul zu sichern. Bereits im Mai 2020 hatte Berlin gemeinsam mit 13 anderen Partnern anerkannt, dass die EU nur unzureichend auf Krisen einwirken kann. Der Aufbau einer 5000 Personen umfassenden schnellen Eingreiftruppe soll diesem Defizit entgegenwirken. Einige Staaten, etwa Schweden oder Polen, stehen diesem Vorhaben ablehnend entgegen. Der Aufbau eigenständiger europäischer Kompetenzen rührt bei ihnen die Furcht an, dass sich die USA von Europa abwenden könnten. Die Fortentwicklung der EU darf künftig nicht länger von einigen wenigen Mitgliedstaaten behindert werden. Gleiches gilt für die Durchführung von Missionen und Operationen. Das Einstimmigkeitserfordernis verhindert entweder ihr Zustandekommen. Oder es belegt die Einsätze mit Anforderungen, die kaum zu erfüllen und oftmals wenig geeignet sind, um eine bestehende Krise zu entschärfen. Den Rekurs auf Art. 44 des EU-Vertrags muss auch die künftige Bundesregierung als Mittel der Wahl für mehr Flexibilität in der GSVP propagieren. Danach kann »der Rat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die dies wünschen und über die für eine derartige Mission erforderlichen Fähigkeiten verfügen«.

Verbindliche Streitkräfteziele

Mehr Flexibilität wird sich indes nur auszahlen, wenn sich die EU-Mitgliedstaaten – fünftens – dazu bereit erklären, verbindliche Streitkräfteziele vorzugeben, um bestehende Fähigkeitslücken zu schließen. Bereits 2003 ist der EU-Ansatz gescheitert, wonach nationale Anstrengungen bei der Entwicklung militärischer wie ziviler Fähigkeiten auf dem Prinzip der Freiwilligkeit gründen. Im Dezember 1999 hatten sich die EU-Staaten in Helsinki auf das sogenannte militärische Headline Goal festgelegt. Bis 2003 wollten sie in der Lage sein, binnen 60 Tagen bis zu 60.000 Heeres-Soldaten in ein Krisengebiet zu verlegen und dort mindestens ein Jahr lang einzusetzen. Ohne amerikanische Hilfe wollten sie einen Einsatz wie im Kosovo durchführen können. Obgleich allen EU-Staaten bekannt war, dass die Lücken gerade für anspruchsvollere militärische Operationen noch immer beträchtlich waren, erklärten diese im Mai 2003 das Helsinki Headline Goal für erreicht.

Eigene Haltung zur GSVP ändern

Sechstens muss die künftige Bundesregierung das bislang gültige deutsche Verständnis von der GSVP korrigieren, um die hier genannten Schritte erfolgreich umzusetzen. Berlin hat die GSVP maßgeblich gestaltet und setzt sich aktiv für ihre Weiterentwicklung ein, weil es sie als geeignetes Zukunftsprojekt sieht, um den Zusammenhalt der EU-Mitgliedstaaten zu stärken. Entsprechend wichtig ist es, dass dieses Projekt möglichst »inklusiv« ist. Flexiblere, pragmatischere oder auch ad hoc agierende Formate lehnt Deutschland bislang ab. Sie bergen die Gefahr, die EU zu spalten und so zu schwächen. Konkrete Einsatzszenarien bleiben in der deutschen Debatte eher blass, nicht zuletzt weil die deutsche Bundesregierung die GSVP primär als politisches Projekt betrachtet. Überdies verbleibt Berlin lieber in der Rolle eines »konzeptionellen Akteurs«, der Entwicklungspfade öffnet. In der Umsetzung nimmt es indes selten die Position einer Vorreiterin ein. Berlin ist somit (mit-) verantwortlich dafür, dass die EU die nicht zuletzt von außen an sie gestellten sicherheits- und verteidigungspolitischen Forderungen nicht erfüllen kann. Es muss eine neue Balance finden zwischen dem legitimen Ansatz, die EU-Integration durch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu vertiefen, und der Notwendigkeit, die EU in die Lage zu versetzen, Schritt zu halten mit den rasanten Veränderungen der internationalen Sicherheitspolitik.

An Afghan Thaw in the Turkish–US Relationship?

Thu, 09/09/2021 - 15:50

Relations between Ankara and Washington have reached a historical nadir. Geopolitical decoupling, accumulating frustrations, and proliferating crises define the context. For some time now, Turkey has been looking for “useful geopolitical crises” to remind Washington of its importance: situations offering leverage for gains on other fronts without risking core Turkish interests. The Ukrainian crisis is a case in point, where Turkey adopts a pro-Ukrainian position and operates largely as a NATO power. Ankara regards Afghanistan as another geopolitical opening to mend ties with the United States.

The largely mono-dimensional US-Turkey relationship revolves around geopolitics and security, which is also where the main crises are located. In Syria, for instance, each views the other’s local partners through the lens of terrorism. When Turkey acquired the Russian-made S-400 air defence system, Washington imposed CAATSA sanctions (under the Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act). Such developments have generated debate – both in the West and in Turkey – over Turkey’s place and future in western institutions and specifically NATO.

After taking office in January 2021, US President Joe Biden and his team initially gave Turkey the cold shoulder. Turkey responded with a charm offensive, sending a stream of positive messages. For instance, Turkish President Recep Tayyip Erdoğan delivered an impassioned defence of the NATO alliance at its summit in June. Just as geopolitical decoupling drove them apart, Ankara appears to believe that a convergence and cooperation responding to a major geopolitical crisis can bring Turkey and the United States closer together again, at least to some extent. In other words, an “instrumental geopolitical crisis” has the potential to improve the atmosphere between Ankara and Washington.

Point of Interest: Kabul Airport

This explains why Turkey was so eager to stay in Afghanistan when all its NATO allies were preparing to leave. Ankara is seeking closer relations with the Taliban and still aspires to a role in running Kabul airport, which is critical for the western diplomatic presence and Afghanistan’s connectivity with the rest of the world. Turkey, Qatar and the Taliban are in talks over this matter. Ankara hopes that the Taliban will permit Turkey to operate the airport, very likely in partnership with Qatar. Ankara would like its role to include a security dimension too, but the Taliban is very wary and would want to minimise the security aspect – assuming it agrees at all.

Ankara is currently exhibiting flexibility in its endeavours to secure a role in Afghanistan. President Erdoğan has said that Turkey might find a bilateral deal with Afghanistan similar to those it signed in 2019 with the Libyan Government of National Accord on security cooperation and maritime boundaries.

Dual Identity and the Price of Recognition

The most obvious challenge is that the Taliban will tie any Turkish role at the airport to recognition of its government, while Ankara would not want to be among the first to do so. Instead, Turkey will prefer to cooperate without official recognition, operating in a grey zone. It will want to avoid antagonising Washington, and will be paying close attention to the stances adopted by the Americans and other international players. In Afghanistan, Turkey will continue to capitalise on its dual Muslim/NATO identity: the Muslim identity geared towards Afghanistan, the NATO identity Western-facing.

Erdoğan’s gambit appears to be paying off. The tone of exchanges between Ankara and Washington is warming, their frequency increasing. During his Senate Foreign Relations Committee confirmation hearing, Secretary of State Anthony Blinken described Turkey as a “so-called strategic partner”; now he and other US officials call Turkey “an important NATO ally” and “invaluable partner in the region”. Whether this change in tone represents a real thaw in relations remains to be seen. Afghanistan certainly has the potential to break the ice, even it is unlikely to usher in any deep transformation.

Domestic Pushback

President Erdoğan’s push for the vital role of airport security provider faces domestic political hostility. As growing numbers of Afghan refugees enter Turkey through Iran, virulent anti-refugee sentiment places increasing pressures on the government and erodes public support for Ankara’s plans in Afghanistan. The opposition also flags the risks to Turkish military personnel.

Ankara might instrumentalise solidarity with the Turkic people of Afghanistan and Central Asia – Uzbeks, Turkmens, and other Turkic populations – to cultivate domestic political support and situate Afghanistan within the wider geopolitics of Central Asia and the Turkic world. Such nationalist language may backfire. As a predominantly Pashtun organisation, the Taliban will dislike that narrative – as will China and Russia. In fact, until very recently Turkey was supporting the Northern Alliance and figures like Uzbek warlord Rashid Dostum. Such a policy of ethnic solidarity would be hard to reconcile with overtures to the Taliban.

This text was also published by fairobserver.com.

Vom Nebeneinander zu neuem Miteinander

Thu, 09/09/2021 - 02:00

Obwohl die Beziehungen Deutschlands und Europas zu Lateinamerika weithin als sehr eng gelten, hat sich in den letzten Jahren eine wachsende Distanz zwischen den Staaten eingestellt, die sich traditionell als »natürliche Partner« verstehen. Das Beziehungs­muster der »freundlichen Normalität« trägt nicht mehr für ein Mitein­ander in der heutigen Zeit. Dies liegt zum einen an den Prozessen politischer Neu­ordnung in vielen Ländern Lateinamerikas und der daraus folgenden regionalen Fragmentierung, zum anderen an dem nachlassenden Interesse in Deutschland und Europa an der Region. Auch sind neue Akteure wie China in Lateinamerika aktiv geworden, die möglicherweise für die Länder der Region attraktiver erschei­nen und die das deutsche und euro­päische Interessenprofil überstrahlt haben. In dieser Phase interner Suchprozesse und eventueller Verschiebungen im Partnerspektrum muss die deutsche Lateinamerika-Politik Brücken bauen und tragfähige Ansatzpunkte iden­tifizieren. Ein solcher neuer Hand­lungsrahmen muss darauf abzielen, ihr wieder eine Perspektive zu geben.

»Es werden nicht alle Ausreisepflichtigen in ihr Herkunftsland zurückkehren«

Wed, 08/09/2021 - 16:23

Noch im Juli wurden Menschen nach Afghanistan abgeschoben. Wie bewerten Sie das mit Blick auf die gegenwärtige Lage in dem Land?

Anne Koch: Das ist hoch problematisch. Rückführungen nach Afghanistan sind schon lange umstritten. Organisationen wie Amnesty International haben immer wieder auf die Gefahren hingewiesen, denen die Betroffenen nach der Rückkehr ausgesetzt sind. Dass die Bundesregierung dennoch so lange darauf beharrt hat, zeigt das ausgeprägte innenpolitische Interesse, bei der Rückkehr von Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus handlungsfähig zu bleiben. Hohe Rückkehrzahlen sollen der Furcht vor unkontrollierter Zuwanderung etwas entgegensetzen. Dabei gerät das, was wir als Risiken und Nebenwirkungen von Rückkehrpolitik bezeichnen, aus dem Blickfeld. Deswegen gehen wir in unserer Studie auf die außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Implikationen von Rückkehr ein.

Mit was genau befasst sich die Rückkehrpolitik?

Nadine Biehler: Rückkehr ist ein ganz normaler Bestandteil von Migration, zum Beispiel wenn jemand sein Auslandsstudium abgeschlossen hat und wieder in sein Herkunftsland zurückkehrt. Die Rückkehrpolitik befasst sich mit den Rahmenbedingungen – und der Förderung von Rückkehr, egal ob freiwillig oder unter Zwang. In Deutschland und Europa steht vor allem die Förderung der Rückkehr von Menschen ohne gültigen Aufenthaltstitel im Vordergrund. Das betrifft vor allem abgelehnte Asylsuchende.

Die Ausreisepflicht lässt sich aber nicht immer durchsetzen. Woran liegt das?

Amrei Meier: Das hat unterschiedliche Gründe. Zunächst mal haben viele Ausreisepflichtige schlicht kein Interesse daran, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, weil sie keine Perspektiven für sich sehen. Ein weiterer zentraler Punkt ist die mangelnde Kooperationsbereitschaft der Herkunftsländer, deren Regierungen wenig Interesse daran haben, Staatsangehörige zurückzunehmen. Deutschland und die EU sind aber auf die Zusammenarbeit angewiesen. Deswegen versucht die Politik, diese zu verbessern, indem sie Anreize setzt oder Sanktionen verhängt, durchaus auch in anderen Politikfeldern.

Biehler: Insbesondere in den Außenbeziehungen wird eine Menge politisches Kapital eingesetzt. 2016 einigte sich Marokko zum Beispiel mit Deutschland auf ein Verfahren zur beschleunigten Rückführung marokkanischer Staatsbürgerinnen und -bürger. Als Gegenleistung sicherte Deutschland Marokko zu, ein Berufungsverfahren der EU gegen ein Agrar- und Fischereiabkommen mit Marokko zu unterstützen, das der Europäische Gerichtshof zuvor teilweise für ungültig erklärt hatte. In unserer Studie gehen wir der Frage nach, ob der erwartete innenpolitische Nutzen der derzeitigen Rückkehrpolitik im Verhältnis zu den Kosten in anderen Politikfeldern steht. Das machen wir in erster Linie an Zielkonflikten fest.

Was wäre solch ein Zielkonflikt?

Koch: Ein erklärtes Ziel deutscher und europäischer Entwicklungszusammenarbeit ist es, demokratische Strukturen zu stärken. Allerdings können durch die einseitige Bemühung, die Zusammenarbeit im Bereich Rückkehr zu festigen, autoritäre Regime gestärkt werden – also das Gegenteil von dem, was beabsichtigt ist. Der Fokus auf Rückkehrförderung hat sich nach 2015/16 noch einmal verstärkt. Plötzlich besuchten deutsche und europäische Delegationen autoritär regierte Länder wie Guinea und Guinea-Bissau, die vorher nicht im Zentrum der deutschen Außenpolitik standen, um für politische Zusammenarbeit zu werben. Solche Besuche können von den jeweiligen Regierungen instrumentalisiert werden, um das eigene internationale Ansehen aufzuwerten.

Biehler: Ein weiteres Beispiel für einen Zielkonflikt ist die Gefahr, dass durch die Rückkehr von Flüchtlingen erneutes Konfliktpotential entsteht. Erfahrungen aus Liberia, Südsudan, Irak und Bosnien zeigen, dass es gerade bei großen Rückkehrbewegungen zu konfliktreicher Konkurrenz um Land und Arbeitsplätze kommen kann. Die Lehren hieraus sind auch für Deutschland und die EU relevant, wenn die Rückkehr syrischer Flüchtlinge diskutiert wird – ganz abgesehen von sonstigen menschenrechtlichen Bedenken.

Welchen Alternativen zur aktuellen Rückkehrpolitik gibt es?

Meier: Im ersten Schritt ist es wichtig, genug Informationen zu haben, um die Kosten und Nutzen von Rückkehrbemühungen systematischer als bisher gegeneinander abzuwägen. Dabei gilt es nicht nur auf die kurzfristigen Nutzen zu schauen, sondern insbesondere auch die langfristigen Folgen einzubeziehen. Unabhängig von dieser Abwägung kommt man um eine Erkenntnis aber nicht herum, nämlich dass es unrealistisch ist, dass alle ausreisepflichtigen Personen in ihr Herkunftsland zurückkehren. Deswegen muss man in einem zweiten Schritt über Alternativen zu Rückkehr nachdenken, zum Beispiel im Asylverfahren die Möglichkeit eines sogenannten Spurwechsels, also den Wechsel vom Asylverfahren zum Arbeitsvisum, einzuführen oder zirkuläre Migrationsprogramme auszubauen.

Biehler: Wichtig wäre auch, sich die Menschen mit Duldung anzusehen, die die größte Gruppe der Ausreisepflichtigen darstellen. Gerade langjährig Geduldeten nach bestimmten Kriterien über eine neue Stichtagsregelung den Weg in einen geregelten Aufenthaltsstatus zu ermöglichen, wäre eine pragmatische Möglichkeit, einen Teil des Dilemmas um Rückkehrpolitik aufzulösen.

Koch: Das ist kein naives Wunschdenken, sondern eine Frage politischer Prioritäten. Baden-Württemberg etwa informiert gut integrierte Geduldete gerade aktiv über mögliche Bleiberechtsperspektiven. Angesichts der aktuellen Situation in Afghanistan könnte man das für afghanische Geduldete bundesweit in Betracht ziehen.

Das Interview führte Cetin Demirci von der Online-Redaktion.

Geopolitik des Stroms – Netz, Raum und Macht

Tue, 07/09/2021 - 02:00

Die geopolitische Bedeutung von Strom wird unterschätzt, obwohl Stromnetze Räume konstituieren. Sie etablieren neue Einflusskanäle und Macht­sphären in politischen Gemeinwesen und über sie hinaus. Im Kontinentalraum Europa-Asien treffen Verbundnetze und Interkonnektoren, also grenzüberschreitende Übertragungsnetzverbindungen, aufeinander. Interkonnektoren markieren neue, teilweise konkurrierende Integrationsvektoren, die Verbundnetze transzendieren. Dabei ist die Zugehörigkeit zum europäischen Netzverbund attraktiv, denn synchrone Netze sind Schicksalsgemeinschaften, in denen Sicherheit und Wohlfahrt geteilt werden. Deutschland und die EU müssen eine Strom-Außenpolitik entwickeln, um das europäische Stromnetz zu optimieren und modernisieren, zu verstärken und zu erweitern. Vor allem aber sind Deutschland und die EU gefordert, Interkonnektivität über das eigene Verbundnetz hinaus mitzugestalten. Chinas Strategie, mit seiner Belt and Road Initiative Infrastrukturen auf das Reich der Mitte auszurichten, wird auch beim Strom immer offensichtlicher. Dabei setzt Peking Standards und Normen und baut seine strategische Reichweite auch zum Vorteil der eigenen Wirtschaft aus. In der östlichen EU-Nachbarschaft dominiert die Geopolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts die Konfiguration der Stromnetze. Eine Integrationskonkurrenz zwischen der EU und Russland ist unübersehbar. Das östliche Mittelmeer, der Kaspische Raum und Zentralasien wandeln sich von Peripherien in neue Verbindungsräume. Dort konkurrieren die EU, China, Russland und jenseits des Schwarzen Meeres auch Iran und die Türkei um Einfluss bei der Neukonfiguration der Stromnetze.

Political Prisoners in Sisi’s Egypt

Tue, 07/09/2021 - 02:00

Thousands have been imprisoned for their political and ideological views in Egypt since the 2013 military takeover and Abdel-Fatah al-Sisi’s subsequent rise to the presidency. This policy has dramatic humanitarian consequences, but also increasingly promotes radicalisation, strengthens rejection of state institutions, and hinders devel­opment of the country’s civil society and economy. It also undermines Germany’s efforts to use financial aid and development cooperation to stabilise Egypt, the Mediterranean’s most populous country. The German government should therefore increase its pressure on Egypt’s leaders and call for far-reaching amnesty. In doing so, it is important to emphasise the personal responsibility of the president and to tie future loans and debt rescheduling to concrete steps that end arbitrary detentions.

Indiens Aufstieg: auf tönernem Fundament?

Mon, 06/09/2021 - 02:00

Indien ist seit den 1990er Jahren international aufgestiegen. Die wichtig­sten Ursachen dieses Erfolgs waren die Wirtschaftsreformen seit 1991 und die neuen internationalen Konstellationen nach dem Ost-West-Konflikt. Beides verschaffte dem Land in globalen Fragen deutlich mehr Gewicht. Allerdings ist Indiens Aufstieg angesichts einer Reihe struktureller Defizite auf nationaler Ebene durchaus brüchig. So zählt Indien trotz seiner wirt­schaftlichen Erfolge in vielen Bereichen zu den Schlusslichtern der G20. Indiens Aufstieg liegt im deutschen wie im europäischen Interesse. Die größte Demokratie gilt als Wertepartnerin und Mitstreiterin für eine regelbasierte internationale Ordnung sowie als zukunftsträchtiger Markt. Außerdem teilen Indien, Deutschland und Europa zunehmend geo­politische Interessen. Indien gilt als ein wichtiger Pfeiler der künftigen deutschen Indo-Pazifik-Politik. Eine Reihe von innenpolitischen Entwicklungen in Indien beeinträchtigt jedoch die Grundlagen der Zusammenarbeit. So ist seit 2014 ein Abbau demokratischer Verfahrensweisen und Institutionen zu beobachten, die 2020 verkündete neue Wirtschaftspolitik der Eigenständigkeit setzt eher auf partielle Abschottung denn auf weitere Integration in den Weltmarkt. Im Sinne eines realistischen Erwartungsmanagements sollten sich die deutsche und europäische Politik deshalb eher an gemeinsamen Interes­sen denn an Werten orientieren.

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