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Stiftung Wissenschaft und Politik
Updated: 12 hours 59 min ago

Neuere Entwicklungen im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan

Wed, 09/09/2020 - 00:00

Im Juli 2020 nährte eine militärische Auseinandersetzung zwischen armenischen und aserbaidschanischen Streitkräften die Sorge vor einem Rückfall in regelrechten Krieg, wie ihn die beiden Seiten von 1992 bis 1994 geführt hatten. Der neuerliche Vorfall war der schwerste militärische Zusammenstoß in einer Grenzzone außerhalb Berg-Karabachs seit 1994. Doch im Mittelpunkt der prekären zwischenstaatlichen Beziehungen steht nach wie vor der ungelöste Konflikt um diesen De-facto-Staat und sie­ben aserbaidschanische Provinzen in seiner Umgebung, die unter der Kontrolle armenischer Truppen stehen. Der jüngsten Eskalation war von 2018 bis zum Frühjahr 2019 eine Phase der Entspannung vorausgegangen. Während dieser Zeit hatten die Kon­takte zwischen Armeniens und Aserbaidschans Staatsführern zugenommen und diese ihre Bereitschaft bekundet, sich verstärkt auf eine friedliche Konfliktregelung ein­zulassen und die Bevölkerungen in diesen Prozess einzubeziehen. Bald darauf aber wurde der Ton wieder schärfer.

The Modernization of the European Union's Customs Union with Turkey

Wed, 09/09/2020 - 00:00
Turkey's Pro-Customs Union Rhetoric and Recent Approach of Turkish Political and Business Decision-Makers

Nachhaltige Lieferketten im Agrarsektor: Wert schöpfen statt Zuliefern

Tue, 08/09/2020 - 00:00

Lieferketten rückten jüngst durch die Corona-Krise ins Zentrum politischer Aufmerk­samkeit. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zeigen einmal mehr, wie komplex die glo­bale Arbeitsteilung über mehrere Staaten hinweg gestaltet ist. Aktu­elle deut­sche und europäische Gesetzesinitiativen streben mehr verbindliche Pflich­ten für end­verbrau­chende Unternehmen an, was Menschenrechte und Nach­haltigkeit in Liefer­ketten betrifft. Ziel ist eine nachhaltige Erzeugung in anderen Ländern. Gerade für die Landwirtschaft sollten aber neben diesen explizit auf Lieferketten bezogenen Ansät­zen auch die Handels-, Investitionsschutz- und Agrar­politik der Europäischen Union (EU) ver­bessert werden. Nur das Zusammenspiel aller Ansätze kann landwirtschaftliche Liefer­ket­ten so beeinflussen, dass die speziellen Nachhaltigkeits­probleme dieses Sektors be­rück­sichtigt werden. Schließ­lich wirken übliche ­Ansätze, die Lieferketten isoliert be­trach­ten, lediglich in Richtung des Importstroms in die EU. Damit nehmen sie Ent­wick­lungsländer nur in ihrer traditionellen Rolle als Zulieferer von Agrarrohstoffen wahr und blenden Optio­nen für mehr eigene Wertschöpfung und künftige Entwicklung aus.

Uzbekistan’s Transformation

Mon, 07/09/2020 - 00:00

The presidential transition in Uzbekistan represents a novel development in the post-Soviet space. Regime insider Shavkat Mirziyoyev has succeeded in initiating change without provoking destabilisation. His reform programme aims to liberalise the economy and society while leaving the politi­cal system largely untouched.

Implementation is centrally controlled and managed, in line with the country’s long history of state planning. Uzbeks accept painful adjust­ments in the expectation of a rising standard of living. And the economic reforms are rapidly creating incontrovertible facts on the ground.

Uzbekistan has also made significant moves towards political liberalisa­tion, but remains an authoritarian state whose institutional framework and presidential system are not up for discussion. Rather than democrati­sation, the outcome of the transformation is more likely to be “enlightened authoritarianism” backed by an alliance of old and new elites.

Nevertheless, there are good reasons for Germany and Europe to support the reforms. Priority should be placed on the areas most relevant for fostering an open society: promoting political competition, encouraging open debate, fostering independent public engagement and enabling genuine participation.

Politikberatung: nicht unpolitisch, aber distanziert

Mon, 07/09/2020 - 00:00

Wie kann wissenschaftsbasierte Politikberatung ihre wissenschaftliche Integrität und politische Relevanz gleichermaßen sicherstellen? Aufgeworfen hat diese Frage zuletzt die Corona-Krise. Zu Beginn der Pandemie stieg die Nachfrage nach Beratung steil an, und zwar sowohl in der Politik als auch der Öffentlichkeit. In fachlicher Hinsicht ging es dabei zunächst um medizinische und gesundheitspolitische Aspekte: Welche Maßnahmen sind am besten dafür geeignet, die Ausbreitung des Virus zu begrenzen? Wie lange wird es dauern, bis ein Impfstoff bereitsteht? Wie kann man eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern? Parallel dazu baute sich rasch ein immer größeres Beratungsangebot auf, das sich mit verschiedensten Facetten der Krise befasste: Wie wirkt sich Homeschooling auf Familien aus? Welche Konsequenzen wird die Pandemie für die internationale Ordnung haben? Wann werden ihre ökonomischen Folgen überwunden sein?

Von der Politik wurde der »Expertise-Boom« zunächst als »Stunde der Erklärer« gewürdigt. Im Krisenverlauf wurde jedoch deutlich, dass die steigende Nachfrage nach Beratungsleistungen sich nicht automatisch in eine höhere Wertschätzung übersetzt – oder gar in größeres Vertrauen in die Ratschläge und Empfehlungen der Fachleute. Stattdessen mehrten sich Skepsis und Zweifel in Öffentlichkeit und Politik. Kritisiert wurde die Uneinigkeit unter Expertinnen und Experten, etwa mit Blick auf epidemiologische Schutzmaßnahmen wie die Mund-Nase-Bedeckung, aber auch, dass sie ihre Einschätzungen und Empfehlungen abänderten, wenn neue Informationen vorlagen. Fachlicher Rat, so der Eindruck der Skeptiker, stellt keine belastbare Basis für politische Maßnahmen dar, was seine Relevanz zwangsläufig mindert.

Eine kürzlich erschienene Umfrage, die danach fragt, wie die Pandemie sich auf die öffentliche Meinung in neun EU-Mitgliedstaaten auswirkt, dokumentiert das Ausmaß der gesellschaftlichen Skepsis. Demnach hat die Mehrheit der Befragten kein Vertrauen in die Unabhängigkeit von Fachleuten. Nur 35 Prozent von ihnen betrachten Expertise als hilfreich. Mehr als 60 Prozent sind hingegen der Ansicht, dass Fachwissen durch die Politik instrumentalisiert, wenn nicht sogar manipuliert wird. Der Befund bestätigt Analysen der Brexit-Entscheidung und der amerikanischen Präsidentschaftswahl von 2016. Sie zeigen, dass die mit fachlicher Autorität ausgesprochenen Warnungen vieler Expertinnen und Experten vor den Konsequenzen des Austritts Großbritanniens aus der EU oder einer Regierung Trump als Parteinahme eingeordnet wurden. Dies trug zur Mobilisierung des Leave-Lagers bzw. der Republikaner in den USA bei. Ausgerechnet ein Politiker, der britische Justizminister Michael Gove, brachte es auf den Punkt. Als er nach wissenschaftlicher Unterstützung für die Leave-Kampagne gefragt wurde, antwortete er: »People have had enough of experts«. Schließlich lägen sie mit ihren Ratschlägen häufig falsch.

Insbesondere die professionelle Politikberatung von Forschungsinstituten oder wissenschaftlichen Think Tanks ist damit konfrontiert, dass ihre Empfehlungen von konkurrierenden politischen Lagern je nach Übereinstimmung mit deren Positionen entweder vereinnahmt oder zurückgewiesen werden. Ob es um den Klimawandel, die Weltfinanzkrise oder Flucht und Migration geht, stets gerät wissenschaftliche Expertise zwischen die politischen Fronten. In der Branche wird deshalb intensiv darüber nachgedacht, wie sich das Verhältnis zu Politik und Öffentlichkeit entkrampfen lässt. Als mögliche Lösung wird über eine bessere Zusammenarbeit von Think Tanks und Politik diskutiert, etwa durch mehr Personalaustausch mit der Administration. Als Vorbild hierfür wird die ausgeprägte »Drehtür-Kultur« in den USA angeführt – von der Wissenschaft in die Politik und beim nächsten Regierungswechsel wieder zurück, was den Wissenstransfer zwischen beiden Sphären befördere. Aber gerade der Blick über den Atlantik verdeutlicht die Problematik: Je stärker dort die politische Polarisierung ausfällt, desto offener wird die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Expertise in Zweifel gezogen. Wissenschaftsbasierte Beratung wird zu einer Waffe im politischen Wettbewerb, selbst wenn sich seriöse Think Tanks um Neutralität bemühen. Die Rede ist von »weaponizing science«: Gegen jede Expertise lässt sich Gegenexpertise mobilisieren.

Die Entwicklung in den USA mahnt zudem, dass auch ein zweiter Vorschlag, der wissenschaftlicher Expertise mehr Glaubwürdigkeit verschaffen soll, kontraproduktiv sein könnte: nämlich verstärkt den Dialog mit der Gesellschaft zu suchen, um diese über politische Alternativen samt ihren Konsequenzen und Kosten zu informieren. Die Folge: mehr Publikumsveranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit, weniger akribisch erstellte Studien. Obendrein ist das Risiko, dass auch solche Bemühungen als Vereinnahmung der Beratung durch die Politik wahrgenommen werden, sehr hoch.

Die vorgeschlagenen Maßnahmen mögen in den »guten alten Zeiten« der Politikberatung zielführend gewesen sein. Mittlerweile legt die verfügbare Evidenz nahe, dass ihre Umsetzung weder die politische Relevanz noch die öffentliche Glaubwürdigkeit erhöht. Maßgebliche Kriterien für gute wissenschaftsbasierte Politikberatung sind heute viel eher Transparenz mit Blick auf Finanzierung, Organisationsstrukturen und Forschungsprogramm sowie rigide Qualitätssicherungsmaßnahmen sowohl für die wissenschaftliche Arbeit als auch die eigentliche Beratungstätigkeit. Darüber hinaus sollten sich Expertinnen und Experten über die eigene politische Rolle klarer werden. Institutionell geht es darum, deutlich zu machen, dass wissenschaftliche Politikberaterinnen und –berater unterschiedliche Perspektiven auf ein Thema einnehmen und damit zu unterschiedlichen Schlüssen kommen können. Erkennbare Multiperspektivität kann helfen, dem Eindruck der Vereinnahmung entgegenzuwirken. Schließlich muss sich die Branche offen mit vermeintlichen und tatsächlichen Irrtümern auseinandersetzen, da (scheinbare) Fehlschläge häufig als Argument genutzt werden, um Expertenrat grundsätzlich abzulehnen. Das ist alles andere als angenehm, gehört aber zur Selbstaufklärung der wissenschaftsbasierten Politikberatung. Gelingt diese, sollte sich fast von selbst eine angemessene Distanz zwischen Beratung und Politik ergeben, die Unabhängigkeit, Glaubwürdigkeit und Relevanz sichert.

Politischer Umbruch in Sri Lanka

Fri, 04/09/2020 - 00:00

Die Ergebnisse der 16. Parlamentswahl in Sri Lanka bedeuten in mehrfacher Hinsicht einen politischen Umbruch. Erstens verfügt die 2016 gegründete Sri Lanka Podujana Peramuna (SLPP) mit ihren Verbündeten nun über eine Zweidrittelmehrheit im Par­lament. Premierminister Mahinda Rajapakse und sein Bruder, Präsident Gotabaya Rajapakse, haben daher freie Hand, eine neue Verfassung durchzusetzen. Diese wird ihre Machtfülle und die Privilegien der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit stär­ken. Zweitens ist das schwache Abschneiden etablierter Parteien – etwa der United National Party (UNP) und Sri Lanka Freedom Party (SLFP), die seit der Unabhängigkeit 1948 die politische Entwicklung geprägt haben – Ausdruck eines Elitenwandels. Drit­tens schwächt die Fragmentierung der tamilischen Parteien deren traditionelle For­derung nach größerer regionaler Autonomie. Sollten die Rajapakse-Brüder wie in der letzten, 2015 beendeten Amtszeit Mahindas erneut einen autoritären Kurs ein­schlagen, wird die gesellschaftliche Polarisierung sowohl innerhalb der singhale­sischen Mehrheit als auch bei den Minderheiten erneut zunehmen.

Amerikanische Chinapolitik und transatlantische Beziehungen

Wed, 02/09/2020 - 00:00

In den USA hat eine konfrontativ-kompetitive Politik gegenüber China Gestalt an­genommen. Sie beruht auf dem problematischen Narrativ, die Politik des Engagements sei eine Selbsttäuschung und amerikanischen Interessen abträglich gewesen. Washington will verbündete Staaten in die neue Chinapolitik einbeziehen. Die Covid-Pandemie und die wechselseitigen Beschuldigungen haben den Abwärtstrend in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen verstärkt. Für Deutschland und Europa wird sich mehr denn je die Frage stellen, wie man sich im eskalierenden amerikanisch-chinesischen Konflikt positioniert, wie viel Schulterschluss mit den USA geboten, wie viel eigenständige Politik gegenüber Peking notwendig und möglich ist.

Emmanuel Macrons »neuer Weg«

Tue, 01/09/2020 - 00:00

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will 2022 wiedergewählt werden. Angesichts der Verdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger über die politische wie gesellschaft­liche Ordnung ihres Landes und der Folgen der Corona-Pandemie sieht sich der Präsi­dent gezwungen, einen »neuen Weg« einzuschlagen. Dieser hat drei Komponenten: die Abkehr von der Politik der Haushaltskonsolidierung, eine politische Verortung im liberal-konservativen Spektrum und mehr Bürgernähe. Erhält Macron auch mittelfris­tig Unterstützung von der EU, um die Folgen von Covid-19 für Frankreichs Wirtschaft und Sozialsystem abzufedern, sollte es ihm gelingen, die Reformkräfte im eigenen Land zu stärken und Frankreich zu europapolitischen Kompromissen zu befähigen.

Eine europäische Wirtschafts­politik im Werden

Fri, 28/08/2020 - 00:00

Obgleich die Wurzeln der Europäischen Union in der wirtschaftlichen Integration liegen, sind den wirtschaftspolitischen Zuständigkeiten und Möglichkeiten der EU im europäischen Vertragsrecht enge Grenzen gesetzt. Dennoch ist der Einfluss der EU und insbesondere der Euro­päischen Kommission auf die Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten deutlich sicht- und spürbar.

Der Schwerpunkt der europäischen Wirtschaftspolitik liegt auf der Ko­ordinierung der mitgliedstaatlichen Politiken durch die Europäische Kommission. Sie bedient sich dabei strategischer Steuerungsinstrumente wie Zehnjahres-Strategien, Leitlinien und Reformempfehlungen, die sie im Rahmen des Europäischen Semesters bündelt.

Die europäische Wirtschaftspolitik steht vor der Aufgabe, zum einen die akuten sozioökonomischen Folgen der Covid-19-Pandemie zu begrenzen und zum anderen Antworten auf die strukturellen Herausforderungen durch Globalisierung, Digitalisierung und Klimawandel zu finden. Eine gemeinschaftliche europäische Wirtschaftspolitik wird zusehends notwendiger, die daran geknüpften Erwartungen werden größer.

Die Europäische Kommission versucht, diese beiden Aufgaben – die An­kurbelung der europäischen Konjunktur und die nachhaltige Transformation der Volkswirtschaften – mit dem neuen europäischen Wiederaufbau-Fonds »Next Generation EU« zu verbinden. Der europäische Green Deal wird dabei zur Leitlinie sowohl der wirtschaftspolitischen Koordinierung als auch der Wirtschaftspolitik auf nationaler Ebene.

Diese Neuausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik auf nachhaltiges und dekarbonisiertes Wachstum wird die Europäisierung und langfris­tig die Unitarisierung der nationalen Wirtschaftspolitiken vorantreiben.

Fundamentale Mängel im US-Wahlsystem

Tue, 18/08/2020 - 00:00

Donald Trump blockiert die Aufstockung der Mittel für die Post, nicht zuletzt, um eine reibungslose Abwicklung von Briefwahlen zu erschweren. Er argumentiert mit der – nicht belegten – Gefahr des Wahlbetrugs. Dahinter steht aber wohl seine Befürchtung, dass Briefwahlen vor allem den Demokraten in die Hände spielen. Was ist dran an dieser Befürchtung?

Johannes Thimm: In der Vergangenheit war es so, dass eher demokratische Wähler von der Möglichkeit der Briefwahl Gebrauch gemacht haben. Angesichts von Covid-19 dürften dieses Jahr aber mehr Menschen per Brief abstimmen wollen als bisher. Gerade ältere Wähler, die zur Risikogruppe gehören und tendenziell eher republikanisch wählen, könnten durchaus davon profitieren. Angesichts schlechter Umfragewerte dürfte es Trump mit seinen Aktionen gegen die Post aber wohl auch darum gehen, Chaos zu schüren, um später sagen zu können, die Wahl sei nicht legitim gewesen.

Der Vorwurf des Wahlbetrugs wird in den USA seit Jahren benutzt, um die bürokratischen Hürden für eine Stimmabgabe zu erhöhen und bestimmte Bevölkerungsgruppen am Wählen zu hindern. Welches sind die wichtigsten Hürden, mit denen es amerikanische Wählerinnen und Wähler heute zu tun haben?

Es gibt drei wichtige Angriffsstellen: Das Wahlregister, der Identitätsnachweis der Wähler am Wahltag und die Anzahl und Öffnungszeiten von Wahllokalen. Dazu muss man zunächst wissen, dass es in den USA kein einheitliches Meldeverfahren und auch keinen einheitlichen nationalen Personalausweis gibt. Die Regeln, nach denen die Wahlen durchgeführt werden, unterscheiden sich zwischen den Einzelstaaten stark.

In vielen Bundesstaaten muss man für die Wahl registriert sein. In einigen davon werden Wähler durch Streichung ihrer Namen aus den Wählerlisten an der Stimmabgabe gehindert, zum Beispiel, wenn sie an den letzten beiden Wahlen nicht teilgenommen haben. In Kansas sind außerdem doppelt vorhandene Namen gestrichen worden, ohne zu überprüfen, ob es sich tatsächlich um zwei verschiedene Menschen mit dem gleichen Namen handelt; Namensdoppelungen kommen aber bei Minderheiten gehäuft vor. 

Welche Probleme gibt es mit dem Identitätsnachweis am Wahltag und den Wahllokalen?

Das Standardausweisdokument ist in den USA der Führerschein. Wenn Leute keinen Führerschein haben, was eher auf Unterprivilegierte zutrifft, stellt sich die Frage, welche alternativen Dokumente akzeptiert werden. Das dreisteste Beispiel, das mir untergekommen ist, war 2014 in Texas: Dort wurden Waffenscheine akzeptiert, Studentenausweise jedoch nicht: Waffenbesitzer wählen eher Republikaner, Studenten eher Demokraten. Da sieht man, dass zum Teil mit »chirurgischer Präzision«, wie es ein Gericht mal formuliert hat, bestimmte Wählergruppen von Wahlen ausgeschlossen werden.

Ein weiteres Instrument, das genutzt wird, um Menschen vom Wählen abzuhalten, sind die Wahllokale. Da ist die Frage: Wie viele gibt es, wie viele Leute arbeiten da bzw. wie lang sind die Schlangen – teilweise müssen die Menschen sechs Stunden anstehen, um zu wählen –,wie viele Tage vor der Wahl kann man bereits wählen, und wie sind die Öffnungszeiten am Wahltag selbst, der immer ein Werktag ist? Weniger privilegierte Menschen können sich am Wahltag oftmals nicht stundenlang von ihrem Arbeitsplatz entfernen und haben es so schwerer, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen.

Kann man da überhaupt noch von gleichen Wahlen sprechen?

Das ist eine berechtigte Frage. Ich würde sagen, nein. Dass es überhaupt möglich ist, dass Politiker Dinge so manipulieren, dass gegnerische Wählergruppen vom Wählen abgehalten werden, widerspricht demokratischen Prinzipien fundamental. Ebenso wie die Tatsache, dass man eine Wahl gewinnen kann, obwohl man weniger Stimmen hat als die Gegenseite, so wie bei der Wahl Trumps oder auch der Wahl George W. Bushs 2000.

Gibt es auch Staaten, die republikanische Wählerinnen und Wähler benachteiligen?

In der beschriebenen Form gibt es das nicht. Die Demokraten verfolgen immer das Prinzip, das Wählen möglichst leicht zu machen, auch wenn sie sich bei der Mobilisierung natürlich auf die eigenen Wähler konzentrieren. Was auch Demokraten für sich nutzen, ist das sogenannten Gerrymandering, bei dem Wahlkreise so zugeschnitten werden, dass die eigene Partei mit den abgegebenen Stimmen möglichst viele Sitze erlangt. Aber auch hiervon haben die Republikaner in den letzten Jahren sehr viel stärker profitiert als die Demokraten.

Wie ernst zu nehmen ist das Problem des Wahlbetrugs, das oft als Begründung für die Errichtung von Hürden herhält?

Das Argument, dass es darum geht, Wahlbetrug zu verhindern, ist wenig glaubhaft. Denn der einzelne Wähler kann mit einer zusätzlich abgegebenen Stimme sehr wenig erreichen. Gleichzeitig stehen hohe Strafen auf Wahlbetrug. Man würde also ein hohes Risiko mit wenig Ertrag eingehen.

Welche Möglichkeiten gibt es, der Diskriminierung beizukommen?

Der Oberste Gerichtshof hat 2013 eine Regelung im Voting Rights Act gekippt, nach der neue Wahlgesetze systematisch auf ihre diskriminierende Wirkung überprüft wurden – und prompt hat es eine Welle neuer diskriminierender Wahlgesetze gegeben. Es gibt aber Staaten, in denen nicht der Gesetzgeber die Wahlgesetze macht, sondern technokratisch und überparteilich besetzte Wahlkommissionen, und das wird tendenziell mehr. Es ist tatsächlich fairer, denn so verhindert man, dass die politischen Parteien das Wahlsystem zum eigenen Vorteil gestalten – etwas, das in den letzten zehn Jahren eine große Rolle gespielt hat. Die Einrichtung dieser objektiven Kommissionen wird auch von einigen Republikanern unterstützt. Auch die Mehrheitsverhältnisse in den Regierungen der Bundesstaaten können etwas verändern, wenn zum Beispiel Republikaner Wahlgesetze nicht mehr alleine verabschieden können. Seit den Zwischenwahlen 2018 gibt es weniger Staaten als zuvor, die rein republikanisch regiert werden.

Inwieweit verstärkt die Corona-Pandemie Ungerechtigkeiten im Wahlsystem?

Wenn man es schafft, eine Briefwahl einigermaßen flächendeckend einzuführen und sauber durchzuführen, dann hat man das Problem im Griff. Sonst gilt allerdings: Die Menschen, die von der Corona-Krise am stärksten betroffen sind, sind im Prinzip die gleichen wie die, die vom Wählen abgehalten werden. Auch unter den Corona-Toten sind Arme und Minderheiten überrepräsentiert. Diese Gruppen sind also ganz besonders darauf angewiesen, dass ihnen eine Möglichkeit des Wählens angeboten wird, die das Corona-Risiko nicht weiter erhöht. Geschieht das nicht, geraten sie noch weiter ins Hintertreffen.

Das Interview führte Candida Splett von der Online-Redaktion der SWP.

Dieser Text ist auch bei EurActiv.de erschienen.

Between Neighbours: How Does Russia View the Election Aftermath in Belarus?

Thu, 13/08/2020 - 00:00

In Moscow all eyes are on Belarus. Russia and Belarus are intimately connected, so political actors in Russia feel an immediate connection with developments there.

In formal terms the two countries form a “union state” and an economic and defence community. Belarus is Moscow’s closest ally and a linchpin for Russian neighbourhood policy. For two decades Russia has funded and subsidised Belarus’s state and economy. This has become a high price for a complicated relationship, as President Alexander Lukashenka consistently – and successfully – spurns Russian attempts to deepen integration. Heading a joint state in Moscow had been raised as an option for keeping Vladimir Putin in power after 2024. Lukashenka was less than enthusiastic and turned, as always in moments of tension with Moscow, to the European Union. That variant is off the table, now that the amended Russian constitution permits Putin two more terms in the Kremlin.

A lack of distance

Despite growing political differences, Moscow continues to support Lukashenka through his latest domestic political travails. Official figures put his share of the presidential vote at 80 percent. The candidate of the united opposition, Sviatlana Tsikhanouskaya, had just 10 percent according to the Central Election Commission. Opposition exit polls paint a very different picture, with some showing the proportions exactly inverted. Since the announcement of the results the country has seen ongoing mass demonstrations, to which the security forces have responded with brutality. Nevertheless, President Putin congratulated Lukashenka on his “victory” as expected on Monday morning.

The Russian political discourse pays very close attention to developments in Belarus, reflecting a persistent post-imperial lack of distance to its sovereign neighbours. Looking at the Russian discussion one might forget that there actually is a border between Russia and Belarus, much as was the case following the Ukrainian presidential election in 2019. Another reason for this closeness lies in the similarity of the political systems. Both are ageing autocracies that are out of touch with the society they rule and suffer rapidly evaporating legitimacy. The economic crisis triggered by the COVID-19 pandemic is tangibly accelerating these processes in both states.

The Russian state media tend to play down the significance of the events and push a geopolitical interpretation in which the protesters are a minority controlled by hostile Western actors. They would not exist without Western support, it is asserted. The objective of Western policy is said to be reducing Russian influence in the region and ultimately “regime change” in Moscow. In other words, the issue is not liberty but geopolitical rivalry. In this understanding the trouble in Minsk is just the latest in a long series of Western plots against Russia – following the 2014 Euromaidan in Ukraine and the “colour revolutions” of the early 2000s. The needs of Belarusian society are completely ignored.

Russia’s independent media, on the other hand, seek to present a realistic picture, concentrating on developments within Belarus and Lukashenka’s loss of public legitimacy. Belarus is also treated as a template for Russia’s own political future. Comparisons are frequently drawn with the ongoing protests in Khabarovsk, with speculation whether Minsk 2020 might be Moscow 2024.

Russian intervention?

Foreign policy analysts in Moscow do not believe that Tsikhanouskaya can expect Western support: The European Union is divided, they note, weakened by COVID-19 and preoccupied with internal matters, while the United States is generally incapable of coherent foreign policy action. The regime will weather the storm, they believe, but emerge from it weakened. This in turn will increase Lukashenka’s dependency on Moscow. Regime-loyal and more critical foreign policy experts alike concur that Russia will ultimately profit from the situation in Minsk without itself having to intervene politically or militarily.

The coming days will tell whether that assumption is correct. The regime in Minsk may have lost touch with the realities of Belarusian society, but it has good prospects of survival as long as the state apparatus backs Lukashenka and Russia maintains its support. But if the unrest grows to paralyse the country a Russian intervention cannot be excluded. The costs would be enormous, in view of the pandemic and the economic crisis. And an intervention could also harm the Kremlin domestically, where it has its own legitimacy problems. On the other hand, it would not be the first time Moscow chose geopolitics and great power bravado over economic and political reason. And Russia’s rulers are still happy to ride roughshod over society, both at home and in Belarus.

The EU cannot overlook the massive election fraud and the brutality of the security forces against unarmed demonstrators. It should back the demand for new elections, offer mediation and impose additional sanctions if the regime refuses to alter its current stance. But in the process it should do everything it can to preserve contacts within Belarusian society. Clear communication with Moscow is vital, both to float possible solutions and to lay out the costs of intervention. No need to fear a quarrel: the EU has been in a conflict with Russia for a long time already.

This text was also published at fairobserver.com.

Unter Nachbarn: Der russische Blick auf die Nachwahlproteste in Belarus

Wed, 12/08/2020 - 00:00

In Moskau blickt man in diesen Tagen gebannt auf Belarus. Für alle Seiten stehen die Entwicklungen dort in unmittelbarem Zusammenhang mit der politischen Situation im eigenen Land. Denn die russische und die belarussische Politik sind aufs engste miteinander verquickt.

Formal bilden die beiden Länder einen Unionsstaat sowie eine Wirtschafts- und Verteidigungsgemeinschaft. Belarus gilt als engster Verbündeter Moskaus und als wichtige Stütze der Politik Russlands in seiner Nachbarschaft. Faktisch subventioniert und finanziert Russland seit über zwei Jahrzehnten Belarus‘ Wirtschaft und Staat. Das ist mittlerweile ein hoher Preis für eine komplizierte Beziehung: Lukaschenka widersetzte sich immer wieder erfolgreich russischen Versuchen, die Integration mit Belarus zu vertiefen. In den vergangenen Jahren wurde die Führung eines gemeinsamen Staates in Moskau als Option gehandelt, Wladimir Putin auch nach den russischen Präsidentschaftswahlen 2024 die Macht zu sichern. Lukaschenka zeigte sich unwillig und suchte, wie immer in Momenten der Spannung mit Moskau, die Annäherung an die EU. Die Reform der russischen Verfassung, die Putin zwei weitere Amtszeiten einräumt, ließ diese Variante wieder in den Hintergrund rücken.

Russischer Mangel an Distanz

Trotz der wachsenden politischen Distanz entzieht Moskau Lukaschenka auch angesichts der jüngsten innenpolitischen Turbulenzen in Belarus nicht die Unterstützung. Laut offiziellen Hochrechnungen erhielt der Amtsinhaber am vergangenen Sonntag 80 Prozent der Stimmen. Swjatlana Zichanouskaja, Kandidatin der vereinigten Opposition, sprach die Zentrale Wahlkommission zehn Prozent zu. Oppositionelle Nachwahlbefragungen sprechen eine andere Sprache: einige ergaben genau umgekehrte Stimmenverhältnisse. Seit der Veröffentlichung der Wahlergebnisse wird das Land von Massendemonstrationen und dem gewaltsamen Vorgehen der Sicherheitskräfte erschüttert. Präsident Putin gratulierte Lukaschenka erwartungsgemäß dennoch am Montagvormittag zur angeblich gewonnenen Wahl.

Dass im russischen politischen Diskurs so intensiv an den Entwicklungen in Belarus Anteil genommen wird, zeigt den nach wie vor herrschenden post-imperialen Mangel an Distanz zu den souveränen Nachbarstaaten. Die russische Debatte vermittelt häufig den Eindruck, als gäbe es keine Grenze zwischen Russland und Belarus, ganz ähnlich wie nach den ukrainischen Präsidentschaftswahlen 2019. Die Anteilnahme liegt auch in der Artverwandtschaft der politischen Systeme begründet. In beiden Fällen handelt es sich um alternde Autokratien, die immer weniger Kontakt mit den von ihnen beherrschten Gesellschaften haben und deren Legitimationsressourcen rapide schwinden. Die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise beschleunigt diese Prozesse in beiden Staaten spürbar.

Die russischen Staatsmedien versuchen, die Bedeutung der Ereignisse herunterzuspielen und verbreiten eine rein geopolitische Interpretation: Die Protestierenden sind demnach eine von feindlichen westlichen Akteuren gesteuerte Minderheit. Ohne die westliche Unterstützung gäbe es sie nicht. Diese westliche Politik ziele darauf, russischen Einfluss in der Region zurückzudrängen und, in letzter Konsequenz, einen Regimewechsel in Russland herbeizuführen. Es gehe also nicht um Freiheit, sondern um geopolitische Rivalität. Damit wird das Geschehen in Minsk nach dem Euromaidan in der Ukraine 2014 und den Farbrevolutionen der frühen 2000er zu einem weiteren Element einer langen Kette westlicher Verschwörungen gegen Russland. Die belarussische Gesellschaft gerät dabei völlig aus dem Blick.

Die unabhängigen Medien hingegen konzentrieren sich auf das innenpolitische Geschehen und auf den Legimitationsverlust des belarussischen Machthabers in der Gesellschaft. Man bemüht sich darum, ein realistisches Bild der Situation zu zeichnen. Belarus wird außerdem als eine Art Labor für die politische Zukunft Russlands betrachtet. So wird dieser Tage häufig der Vergleich mit den andauernden Protesten im russischen Chabarowsk gezogen und die Frage gestellt, ob Minsk 2020 Moskau 2024 sei.

Wird Moskau eingreifen?

Außenpolitikexperten in Moskau gehen davon aus, dass Zichanouskaja nicht auf westliche Unterstützung zählen kann: Die EU sei gespalten, durch Corona geschwächt und auf sich selbst zurückgeworfen, die USA sowieso unfähig zu gezieltem außenpolitischem Handeln. Das Regime werde deshalb den Sturm überstehen, aber schwächer aus ihm hervorgehen – was wiederum die Abhängigkeit Lukaschenkas von Moskau verstärken werde. Viele staatsnahe und regimekritischere Außenpolitikexperten treffen sich in der Überzeugung, dass Russland am Ende von den Entwicklungen in Minsk profitieren werde, ohne selbst politische oder militärische Maßnahmen ergreifen zu müssen.

Ob diese Annahme richtig ist, werden die kommenden Tage zeigen. Zwar entspricht das belarussische Regime nicht mehr den Lebensrealitäten der belarussischen Gesellschaft. Es hat jedoch so lange gute Überlebenschancen, wie der Staatsapparat zu Lukaschenka steht und Russland seine Unterstützung aufrechterhält. Sollten sich die Unruhen ausweiten und das Land tatsächlich lahmlegen, kann ein Eingreifen Moskaus nicht ausgeschlossen werden. Die Kosten wären angesichts von Pandemie und Wirtschaftskrise enorm. Darüber hinaus könnte eine Intervention dem Kreml angesichts eigener Legitimationsprobleme auch innenpolitisch schaden. Moskau würde andererseits nicht zum ersten Mal Geopolitik und Großmachtprestige über wirtschaftliche und politische Rationalität stellen. Und nach wie vor fehlt den Herrschenden der Blick für die Gesellschaft – im eigenen Land wie in Belarus.

Die EU kann an den massiven Wahlfälschungen und dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen unbewaffnete Demonstrierende nicht vorbeisehen. Sie sollte die Forderung nach Neuwahlen unterstützen, Vermittlungsangebote machen und zu weiteren Sanktionen greifen, wenn das Regime bei seiner jetzigen Haltung bleibt – dabei aber alles tun, um den Kontakt zur belarussischen Gesellschaft nicht zu verlieren. Mit Moskau sollte klar kommuniziert werden, über mögliche Lösungen ebenso wie über die Kosten einer Intervention. Die Furcht vor der Auseinandersetzung ist gegenstandslos: Die EU befindet sich längst in einem Konflikt mit Russland.

Militärische Cyber-Operationen

Mon, 10/08/2020 - 00:05

Offensive Militärische Cyber-Operationen (OMCO) sind – anders als in populären Darstellungen oft behauptet – keine Allzweckwaffe. Sie unter­liegen zahlreichen strategischen, operativen und taktischen Begrenzungen, die sie für bestimmte Einsatzszenarien ungeeignet erscheinen lassen.

Deutschland sollte auch in Zukunft daran festhalten, keine strategischen OMCO zu planen und zu entwickeln. Der strategische Einsatz von OMCO ist operativ zu aufwendig, extrem risikobehaftet und zudem der globalen Sicherheit des Cyber- und Informationsraums unzuträglich.

Sehr limitierte und überschaubare Cyber-Operationen zur sequenziellen Begleitung von Kampfeinsätzen können bei hochtechnisierten Gegnern sinnvoll sein. Der größte Nutzen von OMCO liegt in ihrer Spionage­funktion und weniger in disruptiven, zerstörerischen militärischen Effekten.

Für das typische Einsatzprofil der Bundeswehr, nämlich Konfliktmanage­ment in wenig digitalisierten Regionen mit schwacher Staatlichkeit, dürf­ten militärische Cyber-Operationen nur in wenigen Fällen einen militärischen Nutzen haben.

Um effektiv zu sein, müssen OMCO auf Ziele exakt zugeschnitten sein. Bei einem OMCO-Einsatz zur Landesverteidigung müssen daher schon im Vorfeld und noch zu Friedenszeiten Zielinformationen beim potentiellen Gegner erhoben worden sein – mittels offensiver Cyber-Spionage in fremden Netzen. Diese Präemptionslogik erzeugt aber ein Sicherheits­dilemma bei potentiellen Gegnern und kann destabilisierend wirken.

Venezuelas Polykrise

Fri, 07/08/2020 - 00:00

Trotz der Auswirkungen der Corona-Krise und der anhaltend hohen Migrations­dynamik zeichnet sich in Venezuela kein Ende der politischen Konfrontation ab. Das politisch-militärische Regime unter der Führung von Präsident Nicolás Maduro erweist sich als sehr resilient. Um sich finanziell am Leben zu halten, stützt es sich immer mehr auf illegale und kriminelle Öl- und Goldgeschäfte. Die internationale Sanktionspolitik hat bislang nicht die erwünschten Brüche im Machtapparat herbei­geführt, auf die viele internationale Akteure und Oppositionsmitglieder gesetzt hatten. Mit Blick auf die für den 6. Dezember 2020 vorgesehenen Parlamentswahlen hat das politische Ränkespiel Maduros erneut begonnen. Mithilfe legalistischer Tricks versucht das Regime die politische Opposition zu schwächen, indem ihre gewählten Repräsentanten abgesetzt und dadurch ihre Wahlchancen reduziert werden. Das politische Spektakel drängt die humanitäre Krise des Landes und den Kollaps des Gesundheitssystems in den Hintergrund – obwohl hierauf die Hauptaufmerksamkeit der inter­nationalen Gemeinschaft liegen sollte.

The EU’s CO2 Border Adjustment: Climate or Fiscal Policy?

Wed, 05/08/2020 - 00:00

The heads of state and government of the European Union propose introducing a “carbon border adjustment mechanism” from 2023, to charge imported goods according to the CO2 emitted during their production. At their recent summit, they decided to use the ensuing revenues to boost the EU’s budget. This gives a fiscal twist to an instrument actually designed for climate policy.

Commission President Ursula von der Leyen had already announced in 2019 that she would like to introduce a “carbon border tax” as part of her European Green Deal. In spring 2020, the Commission launched a roadmap process to prepare concrete legislative proposals by 2021. The Commission’s proposal also responds to fears that higher European CO2 costs caused by EU emissions trading (EU ETS) could cause companies to relocate activities outside the EU, causing carbon leakage. Outsourcing would contribute to reducing European emissions – but not to tackling the global problem. To date, the Union has addressed the risk of relocation by allocating free emission allowances to sectors at risk of carbon leakage. A CO2 border adjustment could create an alternative with a global impact.

There is rising support for the idea, after years of resistance from many member states and business associations. And the pressure is set to grow, with an increase in the EU’s climate target for 2030 – and anticipated higher CO2 costs for EU businesses – expected this autumn. Furthermore, a CO2 border adjustment for foreign products will be widely interpreted as a clear message, especially to Washington and Beijing, that the EU intends to implement the Paris Agreement. When designing the instrument, it will be important to comply with WTO rules and to get important trading partners on board. 

WTO-compatible design

The Commission proposes three ways in which a “carbon border adjustment mechanism” could be implemented: “a carbon tax on selected products, a new carbon customs duty or the extension of the EU ETS to imports”. From a trade law perspective, any of these options could be designed in accordance with WTO rules. The crucial aspect is the principle of non-discrimination: that a CO2 border adjustment must not differentiate among like products or between WTO members. If it were necessary to depart from the principle, for example where a trading partner or individual company is able to demonstrate that it is already taking care of emissions reductions, the rules for exceptions would need to be observed.

An EU-wide CO2 “product tax” and its implementation by the EU member states would be the most straightforward approach from a trade law perspective. To do this, the EU would first have to levy a CO2 tax on goods manufactured in the European Union; then it would be unproblematic to apply this tax to imports as well – the value added tax for example follows this approach. Imported “like” products would be treated the same way as domestic products, which is WTO-compliant. Extending the EU ETS to industrial imports would be more complex. The task for the Commission would be to demonstrate that under trade law the CO2 allowance price is ultimately equivalent to a “product tax”. Failing that, the Commission could argue that it was acting to protect a global resource, i.e. that avoiding carbon leakage was the central aim of the EU legislation. The “conservation of exhaustible natural resources”, which includes the earth’s atmosphere, is a valid ground for violating WTO principles, subject to certain conditions. Such an exemption would also have to be claimed for a new CO2 customs duty.

However, the European Council decision has exacerbated the risk that WTO dispute settlement panels will regard the new instrument as a means of generating income, rather than a means to protect the climate. This would make a difference if trading partners challenged the new tool. The climate focus, which would be taken into account in WTO rulings, is currently slipping into the background.

Don’t underestimate the diplomatic effort

A CO2 border adjustment mechanism will need extensive explanation given the many open details, and it can only promote international climate policy cooperation if trade partners are informed at an early stage and regularly consulted. For this, the EU should use WTO forums and the climate regime as well as other international organizations. In 2012, the European Commission was made painfully aware of the difficulties involved in going it alone, after seeking to include international aviation in the EU ETS. Major partners put political pressure on the EU, even threatening sanctions, and the EU decided to backtrack and reduce the coverage of the ETS to flights within the European Economic Area.

Trust can only arise if the EU adheres to multilateral climate and trade agreements, i.e. supports the Paris Agreement and the troubled WTO, and expresses this clearly and often. This task has probably become much more difficult after the European Council decision, because a fiscally motivated border adjustment cannot be convincingly attributed to these multilateral concerns – especially as the revenues would flow to the EU rather than to funds supporting climate protection, for example in poorer countries. If a CO2 border adjustment specifically targeted cement, steel and other energy-intensive industries, as has already been discussed, producers from emerging and industrialized countries would be especially affected. The Union should start discussions with these countries without delay. A good opportunity will arise at the meeting of G20 finance ministers in Saudi Arabia towards the end of the year. In addition, the EU should insist towards Washington that this initiative is not intended as a provocation in the smoldering customs dispute. Ultimately, the climate policy success of a CO2 border adjustment will depend on how the world’s major economies react to it.

This text was also published at fairobserver.com.

Russia’s “Passportisation” of the Donbas

Mon, 03/08/2020 - 00:00

Russia has so far issued almost 200,000 Russian passports to Ukrainians from the “People’s Republics” of Donetsk and Luhansk. This undermines the Minsk peace process. The passportisation of the Donbas is part of a tried and tested set of foreign policy instruments. Russia is deliberately making it more difficult to resolve territorial conflicts in the post-Soviet space by creating controlled instability. This demonstrative intervention in state sovereignty exerts pressure on the Ukrainian central government in Kyiv. Domestically, Russia’s goal is to counteract its own natural popu­lation decline through immigration. Because of the war in eastern Ukraine, more and more Ukrainians have migrated to Russia; this was one of the reasons behind Russia revising its migration strategy in 2018. The liberalisation of citizenship legislation was aimed particularly at Ukraine. By delaying any resolution to the conflict, Russia achieves two objectives simultaneously: it retains permanent influence on Ukraine via the Donbas, and it becomes more attractive to many Ukrainians as a destination for emigration.

Die CO2-Grenzabgabe der EU – Klima- oder Fiskalpolitik?

Mon, 03/08/2020 - 00:00

Wenn es nach den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) geht, wird es ab 2023 eine »CO2-Grenzsteuer« auf Importe in die Union geben; eine solche Abgabe würde sich nach dem CO2-Wert richten, der bei der Produktion der eingeführten Güter anfällt. Beim jüngsten Gipfel haben sie entschieden, damit den EU-Haushalt aufzubessern. Ein eigentlich klimapolitisch gedachtes Instrument bekommt so eine fiskalpolitische Stoßrichtung.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte bereits 2019 angekündigt, im Rahmen ihres europäischen Green Deal eine »Carbon Border Tax« einführen zu wollen. Im Frühjahr 2020 startete die Kommission einen Roadmap-Prozess mit dem Ziel, bis 2021 konkrete Gesetzesvorlagen auszuarbeiten. Mit diesem Vorschlag reagierte die Kommission auch auf die Befürchtung, dass die durch den EU-Emissionshandel (EU ETS) vergleichsweise erhöhten europäischen CO2-Kosten Unternehmen zum Abwandern bewegen könnten, so dass es zur Emissionsverlagerung (»Carbon Leakage«) kommt. Das europäische Ziel, Emissionen zu senken, greift so zwar in der EU, aber nicht global. Die Union begegnet dem Risiko der Abwanderung bisher, indem sie gefährdeten Sektoren kostenlos Emissionsrechte zuteilt. Eine CO2-Grenzabgabe könnte eine Alternative sein, die auch globale Wirkung entfaltet.

Nach langjährigem Widerstand vieler Staaten und Unternehmensverbände gegen das Instrument hatte es in jüngerer Zeit zunehmend Unterstützung erfahren. Dazu trägt das EU-Klimaziel für 2030 bei, das im Herbst erhöht werden soll und weitere CO2-Kosten für die EU-Wirtschaft nach sich ziehen wird. Zudem sehen viele die CO2-Abgabe auf ausländische Produkte – nicht nur wegen der erwarteten Wirksamkeit gegen Carbon Leakage – als deutliches Zeichen für die Umsetzung des Pariser Abkommens, allen voran gegenüber den USA und China. Bei der Ausgestaltung des Instrumentes kommt es nun darauf an, WTO-Regeln gerecht zu werden und wichtige Handelspartner zur Kooperation zu bewegen.

Ausgestaltung entlang der WTO-Regeln

Die Kommission schlägt drei Möglichkeiten vor, wie ein CO2-Grenzausgleichssystem umgesetzt werden könnte: mit einer CO2-Steuer, einem Zoll oder mit einer Zertifikatepflicht für ausländische Unternehmen. Aus handelsrechtlicher Sicht könnten alle Optionen im Einklang mit WTO-Regeln ausgestaltet werden. Diese geben das Prinzip der Nichtdiskriminierung vor, daher darf eine Grenzabgabe weder zwischen gleichartigen Produkten noch zwischen WTO-Mitgliedstaaten unterscheiden. Sollte es notwendig sein, dagegen zu verstoßen, zum Beispiel weil EU-Handelspartner oder einzelne Unternehmen nachweislich selbst für weniger Emissionen sorgen, wären die Vorgaben für Ausnahmefälle einzuhalten.

Eine EU-weite CO2-»Produktsteuer« bzw. deren Einführung durch die EU-Mitgliedstaaten wäre der aus handelsrechtlicher Sicht beste Weg. Dazu müsste die EU zunächst einmal eine CO2-Steuer auf in der Europäischen Union hergestellte Güter erheben, sodann wäre es unproblematisch, diese Steuer auch auf Importe anzuwenden – die Mehrwertsteuer ist ein vergleichbares Beispiel. Gleichartige Importwaren würden damit WTO-konform genauso behandelt wie die inländisch erzeugten Produkte. Eine Anwendung des Emissionshandels auf Industrieimporte wäre komplexer. Hier käme der Kommission die Aufgabe zu darzulegen, dass der CO2-Zertifikatepreis letztlich einer »Produktsteuer« handelsrechtlich gleichzusetzen ist. Gelingt dies nicht, könnte die Kommission geltend machen, dass sie den Schutz einer globalen Ressource bezweckt, also die Vermeidung von Carbon Leakage das zentrale Ziel der EU-Gesetzgebung ist. Denn der »Schutz einer globalen Ressource«, wozu die Erdatmosphäre zählt, ist als Begründung für Verstöße gegen WTO-Prinzipien erlaubt, wenn auch unter Auflagen. Eine solche Ausnahmebegründung bräuchte es auch für einen neuen CO2-Zoll.

Die Staats- und Regierungschefs haben mit ihrer Absicht, die CO2-Grenzabgabe als Haushaltsinstrument einzuführen, nun allerdings das Risiko erhöht, dass WTO-Schiedsgerichte im Falle einer Anfechtung durch Handelspartner das neue Instrument nicht klimapolitisch, sondern als Mittel zur Erzielung von Einnahmen auffassen. Der klimapolitische Zweck, auf den in Entscheidungen über Ausnahmen von den WTO-Prinzipien geachtet würde, rückt in den Hintergrund.

Diplomatischen Aufwand nicht unterschätzen

Ein CO2-Grenzausgleichssystem, das aufgrund vieler offener Details bereits jetzt hohen Erklärungsbedarf hat, kann nur dann die internationale klimapolitische Zusammenarbeit fördern, wenn frühzeitig Handelspartner informiert und regelmäßig einbezogen werden. Hierfür sollte die EU Foren der WTO und des Klimaregimes sowie weiterer internationaler Organisationen nutzen. Die Europäische Kommission hat 2012 schmerzlich erfahren, zu welchen Verwerfungen ein Alleingang führen kann. Damals wollte sie das EU ETS auch für den internationalen Flugverkehr einführen. Viele große Staaten setzten die EU massiv mit Sanktionsandrohungen unter Druck, woraufhin die EU zurückruderte und schließlich nur für den Flugverkehr im Europäischen Wirtschaftsraum Zertifikate verlangte.

Vertrauen kann nur entstehen, wenn die EU sich an multilaterale klima- und handelspolitische Absprachen hält, also das Pariser Klimaabkommen und die angeschlagene WTO stützt, und dies immer wieder deutlich zum Ausdruck bringt. Diese Aufgabe ist wohl nach dem Gipfelbeschluss ungleich schwerer geworden. Denn eine Grenzabgabe aus fiskalischen Gründen lässt sich diesen multilateralen Anliegen nicht überzeugend zuordnen. Zumal ja die Einnahmen nicht einer Förderung des Klimaschutzes beispielsweise in ärmeren Ländern zugutekämen, sondern den Kassen der EU. Sollte eine CO2-Abgabe gezielt Güter der Zement-, Stahl- oder anderer energieintensiver Branchen erfassen, wie es bereits diskutiert wird, wären vor allem Erzeuger aus Schwellen- und Industrieländern betroffen. Insbesondere mit diesen Staaten sollte die Union zügig Gespräche aufnehmen. Eine gute Gelegenheit hierzu bietet sich bei den Finanzministerkonsultationen unter der G20 in Saudi-Arabien gegen Ende des Jahres. Zudem sollte die EU im Dialog mit Washington wenigstens den Versuch unternehmen, ihr Vorgehen nicht als neuen Zündstoff im schwelenden Zollstreit erscheinen zu lassen. Letztlich wird der klimapolitische Erfolg einer CO2-Grenzabgabe davon abhängen, wie diese Länder darauf reagieren.

Improving Europe’s China Competence

Thu, 30/07/2020 - 00:00

Dealing with China is not only about finding answers to urgent problems in politics, business, or technology. Rather, a system of European China competence must be established that ensures long-term capacity for action. It is crucial to locate this task at the nexus of foreign and education policy. The development of China competence through education should therefore be part of Europe’s China strategy.

Nach dem EU-Gipfel: Historische Integrationsschritte unter Zeitdruck

Thu, 23/07/2020 - 00:05

Die Europäische Union hat Handlungsfähigkeit bewiesen – nach episch langen, harten und zum Teil quälenden Verhandlungen haben die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten am 21. Juli 2020 einen Kompromiss gefunden. Mit seiner Verständigung auf einen neuen mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für die nächsten sieben Jahre und einen auf vier Jahre befristeten europäischen Konjunkturhaushalt unter der Überschrift »Next Generation EU« (NGEU) hat der Europäische Rat ein immenses Finanzpaket mit einem Umfang von insgesamt 1,8 Billionen Euro geschnürt.

Diese Einigung beinhaltet einige fundamentale Neuerungen: die Möglichkeit der EU, zur Finanzierung des Konjunkturhaushalts nun selbst Kredite in bisher nicht gekanntem Umfang an den Finanzmärkten aufzunehmen, und die Einführung neuer Finanzierungsquellen für den EU-Haushalt. Weitgehende Maßnahmen also, die vor der Pandemie-Krise undenkbar erschienen und kaum durchsetzbar waren. Ob sie aber als großer Schritte hin zu einer vertieften Integration zu werten sind, wird sich erst noch erweisen müssen. Denn der erzielte Kompromiss ist nur ein Auftakt, dem bis Ende des Jahres eine Reihe weitere Schritte folgen muss, damit er zu einem wirklichen europäischen Erfolg werden kann.

Zunächst muss der politische Konsens des Europäischen Rates in konkrete Gesetzestexte gegossen werden. Auch hier sind harte Verhandlungen zwischen den beiden europäischen Gesetzgebern, dem Ministerrat der Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament, zu erwarten. Dann müssen alle nationalen Parlamente den weitreichenden Neuerungen bei der Finanzierung des europäischen Budgets zustimmen. Schließlich müssen die neuen Regelungen in angewandte Politik umgesetzt und mit Leben gefüllt werden. Dies ist eine gewaltige Aufgabe für den deutschen Vorsitz im Ministerrat, denn alle Elemente des Pakets sollen bis zum 1. Januar 2021 in Kraft treten. Zudem ist jeder Schritt mit einem hohen Risiko des Scheiterns oder der Blockade verbunden.

Nationale Parlamente müssen die Integrationsschritte legitimieren

Die Zustimmung der nationalen Parlamente zu der erstmaligen Verschuldung der EU in Höhe von 750 Mrd. Euro und den neuen Finanzierungsquellen ist nicht nur ein zeitliches Problem, sondern auch ein politisches, denn die Größe des Schritts zu einer enger zusammenwachsenden Union ist unübersehbar; seine Legitimation erfordert breite parlamentarische Debatten. Doch für eine sorgfältige Abwägung der Integrationsschritte und ihrer Folgen bleibt unter dem Druck der Covid-19-Krise und der unbedingt erforderlichen schnellen europäischen Reaktion kaum ausreichend Zeit.

Nicht leichter dürfte es werden, die gefundenen Kompromisse des Gipfels in konkrete Programme umzusetzen. So müssen die Mitgliedstaaten sogenannte Aufbau- und Resilienzpläne mit ihren Reform- und Investitionsvorhaben erarbeiten, um europäische Fördermittel aus dem neuen Aufbaufonds abrufen zu können. Diese Pläne müssen sie der Europäischen Kommission zur Prüfung und Billigung vorlegen. Dabei sollen sie die sogenannten länderspezifischen wirtschaftspolitischen Reformempfehlungen sowie die Klimaschutz- und die Digitalisierungsziele der EU beachten. Sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Europäische Kommission müssen also sehr schnell konkrete Ideen entwickeln, wofür das Geld sinnvoll verwendet werden soll. Denn die Fördergelder sollen erst fließen, wenn die Mitgliedstaaten die zugesagten Reformanstrengungen wirklich aufgenommen und die vereinbarten Etappenziele tatsächlich erreicht haben. Dies macht die genaue Prüfung und ein kontinuierliches Monitoring der nationalen Umsetzung erforderlich. Dass es den Mitgliedstaaten ernst damit ist, dass das Geld nur im Gegenzug für nachhaltige Strukturreformen und Investitionen fließt, haben die sehr harten Debatten im Europäischen Rat gezeigt.

Zeitdruck gefährdet Zielgenauigkeit der Förderung

Es ist eine kaum zu lösende Aufgabe, die nationalen Pläne in der Kürze der Zeit zu erstellen und zu bewerten sowie neue Formen des Monitorings aufzubauen. Wissenschaftliche Gutachten oder die Begleitung weitreichender nationaler Strukturreformen durch Kommissionen, wie sie zum Beispiel in Deutschland zum Braunkohleausstieg erfolgte, sind in wenigen Monaten kaum vorstellbar. Trotz des hohen Drucks, schnell und wirkungsvoll auf die Folgen der Pandemie zu reagieren, müssen Nachhaltigkeit und Zielgenauigkeit der Maßnahmen mit einer sorgfältigen Bewertung der Programme und der einzelnen Maßnahmen verbunden werden. Nur so kann das in den Verhandlungen des Europäischen Rats sichtbar gewordene Misstrauen zwischen den Mitgliedstaaten überwunden werden.

Ein hohes Tempo bei der Umsetzung der vom Europäischen Rat vorgezeichneten Schritte ist zweifelsohne nötig. Für diese Dynamik bei den Verhandlungen über die konkreten Rechtsgrundlagen kann die deutsche Ratspräsidentschaft sorgen. Um jedoch den Kompromiss des Europäischen Rats zu einem wirklichen und langfristigen Integrationserfolg zu machen, müssen das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten wieder wachsen und die Unionsbürgerinnen und -bürger diesen Integrationsschritten zustimmen. Das sind große Aufgaben, die gegenseitiges Verständnis, Toleranz und auch Zeit erfordern. Ob die Quadratur des Kreises gelingen kann, bleibt abzuwarten. Immerhin hat der EU-Gipfel die Diskussion über die Weiterentwicklung der EU angestoßen.

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