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Stiftung Wissenschaft und Politik
Updated: 3 weeks 5 hours ago

Stabiles Land durch stabile Landwirtschaft in Tunesien?

Tue, 12/11/2019 - 00:00

∎ Der Agrarsektor besitzt hohe Bedeutung für Tunesiens wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität. Das neu verhandelte vertiefte und um­fassende Handelsabkommen (DCFTA) mit der EU bietet Chancen für die Landwirtschaft, birgt aber auch Risiken für das gesamte Land.

∎ In Tunesien bestehen starke emotionale Widerstände gegenüber dem DCFTA. Sie sind ähnlich massiv wie die Vorbehalte, die in Deutschland dem Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) entgegengebracht wurden.

∎ Jenseits der Kritik an konkreten Verhandlungsinhalten speist sich die pauschale Ablehnung aus mehreren Quellen. Das sind die Angst vor euro­päischer Dominanz, schlechte Erfahrungen mit Transformationen im Agrarsektor, vor allem beim Landeigentum, sowie die in ganz Nordafrika vorherrschende Tradition, die Nahrungsversorgung durch protektio­nistische Handelspolitik zu sichern.

∎ Die vorliegenden Wirkungsanalysen weisen positive Wohlfahrtseffekte aus. Dennoch erscheinen viele Bedenken wegen ökologischer und sozialer Auswirkungen des DCFTA berechtigt. Die befürchteten negativen Effekte ließen sich aber durch konkrete Lösungen im Abkommen und besonders durch begleitende tunesische Politiken vermeiden.

∎ Dem pauschalen Widerstand nahezu aller Akteursgruppen in Tunesien kann die EU mit besserer Verhandlungskommunikation begegnen. Dabei sind Sensibilität und Respekt im Umgang mit tunesischen Befindlich­keiten ebenso wichtig wie der Appell an Verbindlichkeit und Eigen­verantwortung auf tunesischer Seite.

∎ Vor allem sollten tunesische Wissenschaftler verstärkt an Wirkungs­analysen zum DCFTA beteiligt werden und sich dabei einem öffentlichen Austausch stellen.

∎ Unabhängig vom Erfolg oder Misserfolg der Verhandlungen ist ohnehin geboten, die tunesische Landwirtschaft intensiver zu fördern. So eröffnet der Bio-Sektor große Absatzchancen für Tunesien und attraktive Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen.

Das Internet Governance Forum auf dem Prüfstand

Fri, 08/11/2019 - 00:00

Das Internet Governance Forum (IGF) wurde 2005 eingerichtet, um den globalen Austausch über die politischen Herausforderungen des Internets zu vertiefen. Inspiriert vom Ideal der »Multistakeholder Governance«, bringt das IGF dazu Ver­treterinnen und Vertreter der Staaten, aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammen. Wie andere Institutionen der globalen Internet Governance ist jedoch auch das IGF davon betroffen, dass die politischen Konflikte im und über das Internet an Schärfe zunehmen. Ein vom UN-Generalsekretär eingesetztes Panel hat nun einen Bericht zur Zukunft des IGF vorgelegt – und darin grundsätzliche Reformen zum 75. Jahrestag der UN-Gründung 2020 angemahnt. Die so angestoßene Debatte dürfte beim IGF 2019 in Berlin einen vorläufigen Höhepunkt erleben. Bei aller berechtigten Kritik im Detail gilt es, das IGF vor überhöhten Erwartungen zu bewahren. Es kann globale politische Konflikte nicht lösen, doch bietet es eine ein­malige globale Plattform, um befreit von Entscheidungszwängen ebendiese Konflikte zu diskutieren.

Polar Power USA: Full Steam Ahead into the Arctic

Fri, 01/11/2019 - 00:00

The Arctic’s melting ice not only acts as an early warning system for the world’s climate, but also makes this region an indicator of change for international security policy. The Trump administration sees the Arctic primarily as an arena of competi­tion between great powers. This could both benefit and harm the region. A greater engagement on the part of the USA would be welcome, but if it comes with an at­tempt to exclude other states, this would damage the high level of cooperation that has held sway in the Arctic thus far. US Arctic policy has become a variable that is dependent on great-power rivalry. The resulting polarisation of relations makes it difficult to find the necessary common solutions for coping with the changes caused by global warming.

Strategic Foresight for Multilateral Policy

Thu, 31/10/2019 - 00:00

Increasingly, states are openly and assertively pursuing their national interests in international politics. The US, for instance, is revoking important international agree­ments on disarmament, trade and climate change. Other countries with a claim to global power, such as China and Russia, are pursuing an aggressive territorial policy. The withdrawal of the UK from the European Union (EU) would mean the loss of an im­portant partner, undermining its ability to implement a strategic and self-confi­dent course of action at the international level. This is all the more worrying since any erosion of the rules-based international order requires a forward-looking and effective policy for shaping the future. Every time a binding international agreement is called into question or revoked, the threshold for uncoordinated unilateral action is lowered. Unexpected crises and conflicts might therefore occur more frequently in the future. Consequently, governments wanting to promote multilateralism should invest in joint strategic foresight. A multiperspective approach appears to be prom­ising for identifying situations in which coordinated action with like-minded part­ners offers opportunities to proactively shape international affairs.

Israels widersprüchliche Gasexportpolitik

Wed, 30/10/2019 - 00:50

Um seine Gasvorkommen zu vermarkten, setzt Israel bislang auf Exporte nach Ägyp­ten und Jordanien. Durch regionale Vernetzung im Energiebereich, etwa im Rahmen des Anfang 2019 gegründeten Eastern Mediterranean Gas Forums (EMGF), verspricht sich die israelische Regierung bessere politische Beziehungen mit der Region. Gleich­zeitig hofft Israel auf den Bau der EastMed-Pipeline. Sie würde einen direkten Export­link nach Europa schaffen, damit aber die Energiekooperation mit den arabischen Nach­barn unterminieren. Die Europäische Union (EU) sollte die regionale Energie­koopera­tion befördern, da diese die Zusammenarbeit auf anderen Gebieten begünstigen könnte. Ent­sprechend sollte die EU den Bau der EastMed-Pipeline nicht unterstützen.

Eine internationale Sicherheitszone in Syrien – Versuch einer Klärung

Wed, 30/10/2019 - 00:30

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat mit ihrer Forderung aus der vergangenen Woche nach Einrichtung einer internationalen Sicherheitszone in Nordsyrien eine kontroverse Debatte in Deutschland ausgelöst. Bezüglich der Details ihres Vorschlages ist sie allerdings vage geblieben. Auch wenn es scheint, als sei der Vorschlag zunächst einmal obsolet geworden, lohnt sich doch eine Analyse der Optionen sowie der politischen und militärischen Herausforderungen, vor denen eine etwaige Mission stünde.

Vier Leitfragen sollten beantwortet sein, wenn ein militärisches Engagement Deutschlands und Europas in Nordsyrien erwogen wird.

Um welche Art von Einsatz geht es in (Nord-) Syrien?

Erstens, was soll eine internationale Militärkoalition in (Nord-) Syrien militärisch leisten? Hier werden zum Teil widersprüchliche Ansätze diskutiert. Bei einer »Sicherheitszone« geht es in der Regel darum, nach dem Ende einer militärischen Auseinandersetzung den zwischen den Kriegsparteien erzielten Waffenstillstand zu überwachen und dadurch Raum für politische Verhandlungen zu ermöglichen. Konkret hieße dies etwa, demilitarisierte Zonen einzurichten, Truppen zu entflechten und ggf. Kriegsparteien zu entwaffnen. Dies alles ist jedoch nur mit Zustimmung der Kriegsparteien möglich. Eine solche internationale Truppe müsste neutral sein und wäre nur leicht bewaffnet. Im derzeitigen Umfeld in Nordsyrien ist ein solcher Einsatz kaum vorstellbar: Zwischen den Truppen der Türkei und den Milizen der Kurden existierte zwar vorübergehend eine befristete Waffenruhe, diese war aber von Anfang an brüchig; ein langfristiger Waffenstillstand ist noch nicht ausgehandelt. Zusätzlich sind nach wie vor Kämpfer des sogenannten Islamischen Staates aktiv. Eine Zustimmung Damaskus‘ zu einer internationalen Präsenz auf syrischem Territorium kann zudem ausgeschlossen werden.

Andere Vorschläge zielen auf die Einrichtung einer »Schutzzone«, wie sie etwa in Kroatien und Bosnien-Herzegowina von den Vereinten Nationen (VN) mit begrenztem Erfolg eingerichtet worden ist. Dabei würden internationale Truppen auch gegen den Willen der Kriegsparteien Gebiete besetzen und langfristig gegen Beschuss sichern, um eine Versorgung der Zivilbevölkerung und eine Rückkehr von Flüchtlingen und Vertriebenen zu ermöglichen. Hinzu kämen Verbände der Luftwaffe, da die Schutzzone konsequenterweise von einer Flugverbotszone überwölbt werden müsste, um Angriffe aus der Luft abzuwehren. Dies wäre eine umfangreiche militärische Operation, für die mehrere Tausend Soldaten in einem weitgehend feindlichen Umfeld nötig wären. Es bestünde eine hohe Wahrscheinlichkeit von Gefechten und Verlusten.

Wie wäre ein Einsatz mandatiert?

Zweitens ist die Frage der Mandatierung eines solchen Einsatzes zu klären, wie sie das Bundesverfassungsgericht 1994 für alle Auslandseinsätze gefordert hat. Eine entsprechende Ausnahme vom völkerrechtlichen Gewaltverbot kann nur der VN-Sicherheitsrat mit der Zustimmung aller fünf ständigen Mitglieder genehmigen. Die Trump-Regierung dürfte keine Einwände gegen einen europäischen Einsatz vorbringen. Hingegen wäre die Zustimmung Moskaus unwahrscheinlich. Da Russland zusammen mit der Türkei und Iran im Begriff ist, eine politische wie territoriale Nachkriegsordnung für Syrien zu schaffen, dürfte eine Internationalisierung des Konfliktes nicht im Interesse Moskaus und ein VN-Mandat damit in weiter Ferne liegen. Damit bliebe nur die völkerrechtswidrige Option eines Vorgehens ohne ein VN-Mandat. Deutschland hat diesen Weg 1999 mit der Beteiligung am Kosovo-Krieg beschritten, aber damit einer Erosion des Gewaltverbotes in der internationalen Politik ungewollt den Boden bereitet.

Wer wäre Träger des Einsatzes?

Drittens wäre die Frage nach der multilateralen Organisation zu stellen, die diesen Einsatz durchführen soll. In der vergangenen Woche haben sich die Verteidigungsminister der NATO mit dem deutschen Vorstoß befasst. Angesichts des schlechten Bildes, das die russische Führung von der nordatlantischen Allianz zeichnet, verwundert dieser Schritt. Denn Moskau wird sicherlich keiner NATO-Operation in Nordsyrien zustimmen, welches Ziel auch immer diese verfolgt. Auch Präsident Assad würde ein militärisches Kontingent der NATO oder der EU nicht als neutral, sondern als Koalition der Feinde Damaskus‘ auffassen – und einen Einsatz als späten Versuch des Westens werten, das Ruder im syrischen Bürgerkrieg herumzureißen.

Andere Stimmen in der deutschen Debatte bevorzugen eine Koalition der Willigen aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Solche Ad-hoc-Koalitionen haben jedoch Nachteile gegenüber formalen multilateralen Kooperationen. So ist ihr Vorgehen in der Regel weniger transparent. Auch zwingt eine formale Kooperation die Beteiligten eher dazu, ihre politischen Ordnungsvorstellungen abzustimmen. Schließlich gibt es für derartige Fälle keine vereinbarten Verfahren zur finanziellen Lastenteilung und zur Bereitstellung militärischer Kapazitäten. Im Sinne der angestrebten strategischen Autonomie Europas würde es sich stattdessen anbieten, die Verfahren und Institutionen nutzbar zu machen, die die EU mit ihrer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickelt hat. Hier sind alle Strukturen vorhanden, die für derartige Operationen notwendig sind. Bislang hat es allerdings am politischen Willen der EU-Mitglieder für größere Einsätze gefehlt.

Welche politischen Ziele würde ein Einsatz verfolgen?

Schließlich muss das politische Ziel eines Einsatzes definiert werden. Die Verteidigungsministerin hat ihr Anliegen einer Sicherheitszone mit der Fortsetzung des Kampfes gegen den »Islamischen Staat« und der Unterstützung des Verfassungsprozesses in Syrien verknüpft. Beides hat aber mit der Einrichtung von Sicherheits- oder Schutzzonen nichts zu tun. In der internationalen Koalition gegen den »Islamischen Staat« ist Deutschland zudem bereits engagiert. Grundsätzlich sollten Militäreinsätze einem erreichbaren politischen Ziel dienen, um überhaupt erfolgreich sein zu können. Je präziser dieses formuliert ist, desto besser lässt sich einschätzen, wie sinnvoll eine solche Militäroperation sein kann, welche Ressourcen und Partner notwendig sind und wann sie auch wieder beendet werden kann. Für die Entscheidungsprozesse innerhalb wie außerhalb Deutschlands ist das unabdingbar.

Return and Reintegration

Wed, 30/10/2019 - 00:00

In Germany there is broad agreement that rejected asylum seekers and other persons obliged to leave the country should do so as soon as possible. Deportations, however, are complex, expensive and particularly controversial when the country of origin’s political and security situation is fragile and unsafe. To incentivise voluntary return, the German government has expanded its programmes that facilitate return and com­plemented them with local reintegration measures, to be implemented by development actors. Non-governmental organisations have criticised this blending of migra­tion and development policy objectives. Aside from this normative debate, however, there is too little discussion of the extent to which development programmes are suit­able for meeting the individual and structural challenges of return, if at all.

Russland und der Astana-Prozess zur Beilegung des Syrien-Konflikts

Wed, 30/10/2019 - 00:00

Mit dem »Astana-Format« haben Russland, Iran und die Türkei nicht nur eine Platt­form für Verhandlungen über Syriens Zukunft geschaffen. Das Gesprächsforum hat auch dazu gedient, Streitthemen unter den drei »Garantiemächten« zu kanalisieren. Mit einem zukünftigen Ende der Kampfhandlungen in Syrien könnte sich jedoch die Funk­tion dieses Formats verändern, zumal dann Fragen des politischen Übergangs in einem Verfassungskomitee unter VN-Vermittlung behandelt werden sollen. Deutschland sollte daher mit EU-Partnern Politikansätze formulieren, die einen Übergang des Astana-Prozesses in andere Strukturen einleiten können. Die Entwicklung solcher Ansätze ist umso dringlicher, als der Handlungsdruck für Europa nach dem Truppen­abzug aus Syrien, den US-Präsident Trump am 6. Oktober angekündigt hat, und dem folgenden Einmarsch der Türkei im Nordosten des Landes gestiegen ist.

Ende der Feuerpause: Wie geht es weiter in Nordsyrien?

Wed, 30/10/2019 - 00:00

In zähen Verhandlungen hatte der russische Präsident Wladimir Putin den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan Anfang vergangener Woche in Sotschi dazu bewegen können, eine zuvor mit den USA mühsam errungene Feuerpause noch einmal um 150 Stunden zu verlängern. Mehr noch: Das türkische Verteidigungsministerium teilte mit, die türkische Militäroperation werde nicht ausgeweitet und die Kämpfe fänden ein Ende, sollten sich die von den syrischen Kurden dominierten Verbände der Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) zwischen der irakisch-syrischen Grenze und dem Euphrat in einer Tiefe von 30 km zurückziehen.

Dies ist geschehen, wie der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Dienstagabend noch vor Ablauf der Frist bekanntgab. Auch die Türkei zeigte sich zufrieden. Selbst wenn der Rückzug nicht vollständig erfolgt sei, würden die in Sotschi vereinbarten russisch-türkischen Patrouillen beginnen, sagte Fahrettin Altun, Sprecher des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan.

Die Kurden hatten keine andere Wahl. Die USA sind ihnen kein verlässlicher Partner mehr. Und Russland drängt sie dazu, sich mit Damaskus zu arrangieren. Nach dem Treffen in Sotschi wurde die Stabilisierung der Lage in Nordost-Syrien und die damit verbundene Aussicht, die Kämpfe zu begrenzen, nicht nur von den USA begrüßt. Auch die NATO-Verteidigungsminister zeigten sich bei ihrem Treffen in Brüssel vergangene Woche erleichtert. So verurteilten sie Ankara nicht, sondern betonten stattdessen die Bedeutung der Türkei als Bündnispartner.

Die Europäer können nicht im Alleingang handeln

Die schnelle Einigung zwischen Moskau und Ankara hat der deutschen Politik viel von ihrem Spielraum genommen. Der Vorstoß der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, in Nordsyrien eine internationale Sicherheitszone unter Führung der Europäer einzurichten, fand keine nennenswerte Unterstützung. Und Außenminister Heiko Maas reiste gar nach Ankara, um zu verhindern, dass die scharfe Kritik aus Deutschland am türkischen Vorgehen in Nordsyrien das Verhältnis zu sehr belastet. Doch heißt das Scheitern des deutschen Vorstoßes auch, dass eine gemeinsame Initiative der Europäer unmöglich geworden ist? Nein.

Es gilt, sich über die gegebenen Machtverhältnisse und über die dadurch begrenzten Möglichkeiten und Ziele einer europäischen Initiative klar zu sein: Ganz offensichtlich sind weder die Türkei noch Russland bereit, die Kontrolle über die Region, die sie den USA und den Kurden gerade erst abgerungen haben, mit europäischen Staaten zu teilen. Weder die USA noch die NATO wollen sich einer militärischen Initiative Europas anschließen. Fest steht auch, dass es für eine solche Initiative kein Mandat des UN-Sicherheitsrats geben wird. Was also kann Europa im eigenen Interesse tun?

Als erstes muss sich wohl die bittere Einsicht durchsetzen, dass die Europäer nach dem faktischen Abzug der USA in Syrien nur in Kooperation mit Russland und – in zweiter Linie – der Türkei handeln können. Mit dem Abzug der USA wurde Ankara in Syrien zum Juniorpartner Moskaus. Ohne mit Russland zu kooperieren, können die Europäer Zwangsumsiedlungen im syrischen Nordosten nicht verhindern – oder auch nur begrenzen. Auch kann Europa ohne Russland und die Türkei keinen Einfluss darauf nehmen, wie in Nordsyrien gefangen gehaltene Dschihadisten behandelt werden. Das syrische Regime kann nur über Russland und die Türkei zu einer Politik der Mäßigung gezwungen werden. Dies braucht es, wenn überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren können sollen.

Ein Engagement Europas wäre im Interesse Russlands

Warum aber sollten Russland und die Türkei Interesse daran haben, die Europäer einzubinden? Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Zwar ist Moskau durch den Rückzug der USA und den darauffolgenden Einmarsch der Türkei endgültig zum entscheidenden Akteur in Syrien geworden. Doch ist es damit gleichzeitig vor neue Aufgaben gestellt. Es hat den Krieg gewonnen, aber wie gewinnt es den Frieden? Ohne Kooperation mit Europa kann Russland den Wiederaufbau Syriens nicht vorantreiben. Den braucht es genauso wie die Europäer – wenn sich das Land nicht erneut zum Nährboden für den »Islamischen Staat« und andere dschihadistische Organisationen entwickeln soll.

Eine Einbindung des Westens macht es für Russland leichter, den Einfluss des Iran zu begrenzen und Baschar al-Assad zu einer gemäßigteren Politik zu zwingen. Dies wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass das syrische Regime international an Legitimität gewinnt. Auch mag die Kooperation mit Europa Russland dabei helfen, die Türkei davon zu überzeugen, nicht erneut mit dem Gedanken der Unterstützung dschihadistischer Kräfte zu spielen.

Hat Russland Interesse an einer Stabilisierung Syriens, wird es auch Forderungen der europäischen Länder entgegenkommen, die diese als Bedingung für ein Engagement in Syrien stellen müssen: auf Zwangsvertreibung und Umsiedlung im großen Stil verzichten, keine erzwungene Rückführung von syrischen Flüchtlingen aus der Türkei, Schutz ethnischer und religiöser Minderheiten sowie ein Mindestmaß an lokaler Selbstverwaltung. Mehr als dies kann Europa in Syrien realiter nicht erreichen.

Für eine solche europäische Initiative zur Kooperation bräuchte es wohl eine begrenzte Zahl ziviler und militärischer Beobachter aus Europa. Darüber ließe sich mit Moskau und Ankara jedoch sicher leichter sprechen, als über eine von europäischen Mächten kontrollierte Zone.

Turkey’s Nuclear Onset

Tue, 29/10/2019 - 00:00

President Recep Tayyip Erdoğan has recently stated that there is no reason why Tur­key should not have nuclear warhead-tipped missiles, at a time when other nations also possess such a deterrent. The Turkish president’s remarks sparked heated debates as to Ankara’s possible military policy shifts and related nuclear objectives. In the 2010s, Turkey accomplished a number of outstanding achievements in the defence sector, especially in unmanned systems development. Ankara is also pursuing a ballistic missile programme (the Bora missile) which saw its operational debut back in May 2019. However, in the short term, the Turkish defence technological and in­dus­trial base (DTIB) lacks the capacity to support military-grade nuclear proliferation, nuclear warhead design and strategic ballistic missile production. More importantly, present indicators suggest no backtrack from Turkey’s non-proliferation commitments. Rather, the ‘nuclear missile’ rhetoric essentially highlights Ankara’s geo­political worldview.

 

Zum Tod von Abu Bakr al-Baghdadi

Mon, 28/10/2019 - 00:40

Am Sonntag verkündete US-Präsident Trump, dass amerikanische Spezialkräfte den Anführer des Islamischen Staates (IS) bei einer Operation in der nordwestsyrischen Provinz Idlib getötet hätten. Bei der Liquidierung von Abu Bakr al-Baghdadi alias Kalif Ibrahim handelt es sich um den vielleicht größten Erfolg westlicher Terrorismusbekämpfung seit dem Tod von al-Qaida-Chef Usama Bin Laden im März 2011 im pakistanischen Abottabad.

Baghdadi war seit 2010 Anführer der irakischen Organisation Islamischer Staat im Irak (ISI), die damals nicht einmal mehr tausend Kämpfer zählte und kurz vor der Zerschlagung stand. Infolge des amerikanischen Abzugs aus dem Irak, der im Dezember 2011 beendet wurde, schaffte er es innerhalb von nur drei Jahren, aus der arg gebeutelten Gruppe eine terroristische Armee zu formen, die weite Teile Ostsyriens und des Nordwestirak einnahm und dort einen Dschihadistenstaat aufbaute. Spätestens als Baghdadi sich im Juni 2014 zum Kalifen ernannte und den »Islamischen Staat« ausrief, machten sich zehntausende Freiwillige aus aller Herren Länder auf den Weg, um sich ihm anzuschließen. Nie vorher hatte eine dschihadistische Organisation einen solchen Zulauf aus so vielen verschiedenen Ländern. Auch wenn der IS mit dem Tod seines Kalifen nicht geschlagen ist, wird es ihm schwerfallen, seinen Anführer durch eine ähnlich starke Persönlichkeit zu ersetzen und seine Attraktivität für junge Rekruten zu bewahren.

Die US-Operation diente vor allem der inneren Sicherheit in Europa

Die Tötung des Terrorkalifen zeigt zum wiederholten Male, wie wichtig die USA für die Bekämpfung von islamistischen Terroristen weltweit sind und wie verlässlich das US-Militär, die CIA und die NSA agieren. Dies gilt auch dann, wenn – wie im Falle Baghdadis und des IS – die Terroristen weniger für die USA als für ihre Verbündeten eine Bedrohung darstellen. In Europa gelangen der Organisation große Anschläge wie die von Paris am 13. November 2015, als ein aus Syrien entsandtes IS-Kommando 130 Menschen tötete. In den USA hingegen schaffte es die Organisation gerade einmal, einige wenige Einzeltäter zu überzeugen, in ihrem Namen zu operieren.  Die Operation in Idlib diente deshalb weit mehr der europäischen inneren Sicherheit als der der Vereinigten Staaten; die in Deutschland verbreitete These von der neuen Unzuverlässigkeit der Amerikaner trifft zumindest für die Terrorismusbekämpfung nicht zu. Als unzuverlässig hat sich vielmehr Deutschland erwiesen, das sich nicht nennenswert am Kampf gegen den IS im Irak und Syrien beteiligt hat und nicht einmal bereit war, einige deutsche IS-Kämpfer aus syrisch-kurdischer Haft zu übernehmen und in ihrer Heimat vor Gericht zu stellen.

Dass die Tötung von Baghdadi offenbar unter Zeitdruck erfolgte, ist bedenklich. Es zeigt, dass die US-Geheimdienste erwarten, dass sie infolge des Rückzugs der amerikanischen Truppen aus Syrien schon bald weniger Informationen aus dem Land erhalten. Das ist vor allem für Europa gefährlich, denn in Syrien operieren immer noch tausende Dschihadisten in den Reihen von IS, Nusra-Front und kleineren Formationen, die noch dazu viele europäische Kämpfer in ihren Reihen haben. Zwar können sich die meisten Gruppierungen noch in der Provinz Idlib halten, doch zeichnet sich die Einnahme der Gegend durch Regimetruppen und ihre russischen Unterstützer bereits seit langem ab. Sollten die Militanten von dort vertrieben werden, bleibt vor allem die Flucht in die Türkei, von wo es nicht allzu schwierig ist, nach Europa zu gelangen. Ohne nachrichtendienstliche Informationen aus den USA werden die Europäer große Probleme haben, die Reisebewegungen der Dschihadisten rechtzeitig aufzuklären. Denn insbesondere Deutschland hat seine Auslandsaufklärung weitestgehend an die US-Dienste ausgelagert.

Die Türkei unterstützte den IS mindestens passiv

Das wichtigste Problem der europäischen Terrorismusbekämpfung bleibt aber die Türkei. Dies zeigt sich an dem Ort der Operation in Idlib, der sich nahe Barisha und damit nur rund fünf Kilometer von der türkischen Grenze entfernt befand. Das türkische Militär unterhält Beobachtungsposten in der Provinz und pflegt enge Beziehungen zu den syrischen Aufständischen dort, so dass es türkischen Diensten leicht möglich gewesen wäre, von der Präsenz Baghdadis und seines Gefolges zu erfahren. Sogar in irakischen Sicherheitskreisen in Bagdad wurde seit Monaten kolportiert, Baghdadi halte sich in Idlib auf, während die Türkei angeblich nichts wusste. Dies fügt sich in das Bild türkischer Politik seit 2013, die den IS nicht nur nie entschlossen bekämpft hat, sondern ihn auch zumindest passiv unterstützt hat. Der Nachschub des IS an Kämpfern und Versorgungsgütern lief seit 2013 ganz ohne Probleme über das Nachbarland, das auch die Nutzung seines Staatsgebiets als Ruheraum zuließ. Außerdem gestattete Ankara einen regen Handel mit dem IS-Territorium. Dies erklärt, warum sich Baghdadi nahe der türkischen Grenze in Idlib sicherer fühlte als in seinem Heimatland Irak oder im syrischen Osten.

Gelingt es den Europäern nicht, die Türkei von der Notwendigkeit einer entschlossenen gemeinsamen Bekämpfung des IS und anderer Dschihadisten zu überzeugen, wird es nach dem amerikanischen Abzug aus Syrien auch für Europa gefährlicher. In den nächsten Monaten und Jahren gilt es deshalb, die Beziehungen zur Türkei soweit möglich auf eine neue Grundlage zu stellen, die Kontrolle der EU-Außengrenzen zu gewährleisten und die Arbeit der europäischen Nachrichtendienste in Syrien und seinen Nachbarländern (einschließlich der Türkei) zu intensivieren. Die militärische Niederlage des IS und der Tod von Baghdadi sind auch für die Europäer der Beginn einer neuen Phase in der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. Sie wird vor allem von dem Rückzug der USA aus Syrien geprägt werden und die Europäer zwingen, mehr für ihre eigene Sicherheit zu tun.

Dieser Text ist auch unter Tagesspiegel.de und Zeit.de erschienen.

Ein Sachverständigenrat für strategische Vorausschau: Worauf geachtet werden müsste

Mon, 28/10/2019 - 00:30

In der Bundespolitik wächst die Frustration darüber, immer wieder mit Ereignissen auf internationaler Ebene konfrontiert zu werden, die strategische Interessen berühren, ohne strategisch durchdacht zu sein. Jüngstes Beispiel ist der Rückzug der US-Truppen aus Nordsyrien, der mit der militärischen Intervention der Türkei im Nachbarland einherging. Regierung und Parlament in Berlin befürchten eine erneute Destabilisierung Syriens, die sich auf die gesamte Region auswirken könnte.

Solche Ereignisse drohen sich zu häufen, weil die Erosion der regelbasierten internationalen Ordnung Staaten dazu anspornt, ohne Abstimmung mit anderen zu handeln. Vor diesem Hintergrund fordern Wissenschaftler und Politiker in Deutschland mehr strategische Vorausschau. Mit deren Hilfe sollen sich Bundesregierung und Bundestag besser auf denkbare künftige Herausforderungen vorbereiten, um im Falle ihres Eintretens strategischer, schneller und effektiver handeln zu können.

Wie strategische Vorausschau in der Politik verankern?

Dass Berlin mehr Vorausschau-Kompetenz benötigt, ist in der deutschen Wissenschaft und Politik weitgehend unstrittig. Unterschiedliche Vorstellungen gibt es jedoch darüber, welches Modell dabei zugrunde gelegt werden sollte. Die vorgeschlagenen Varianten reichen von einem strategischen Zentrum der Regierung, das ähnlich dem amerikanischen »National Security Council« die auswärtigen Interessen Deutschlands bündelt und gesamtstaatlich koordiniert, bis hin zu einem Parlamentsausschuss, der angelehnt an das finnische Vorbild des »Ausschusses für die Zukunft« gesellschafts- und staatspolitisch relevante Zukunftsfragen behandelt.

Beide Varianten lassen sich indes nur eingeschränkt auf die deutsche politisch-institutionelle Landschaft übertragen. Würde das »National Security Council«-Modell etabliert, ließe sich kaum vermeiden, dass die bislang mit der Wahrnehmung der auswärtigen Angelegenheiten Deutschlands betrauten Ressorts Kompetenzen, Macht und Ressourcen abgeben müssten. Entsprechend hartnäckig fällt der Widerstand gegen Vorschläge aus, die eine Zentralisierung fordern – nicht zuletzt, weil dadurch das Ressortprinzip verletzt würde, das die Eigenständigkeit der Ministerien festschreibt.

Ein Parlamentsausschuss wie der finnische »Ausschuss für die Zukunft«, der kein Ministerium unmittelbar spiegelt, steht dem Regierungshandeln zwar ferner; er bietet damit aber die Möglichkeit, sich unabhängiger von der Tagespolitik mit langfristigen Entwicklungen und Herausforderungen auseinanderzusetzen. Dennoch bildet er die vielfältigen Strömungen der Politik ab und wäre damit dem demokratischen Wettbewerb um Themensetzung und Profilierung ausgesetzt. Das mag im finnischen Fall aufgrund einer vergleichsweise stark ausgeprägten Konsensorientierung eine geringere Rolle spielen. Im deutschen politischen Umfeld, das deutlich kompetitiver ausfällt, ließe sich die parteipolitische Vereinnahmung von Zukunftsfragen wohl nur schwerlich vermeiden. Beobachten lässt sich dies bei der Expertenbenennung zu Sachverständigenanhörungen: Selten erfolgt diese ohne Berücksichtigung des politischen Proporzes.

Ein Sachverständigenrat für strategische Vorausschau stellt eine dritte Variante dar, die diskutiert wird. Er könnte ein vom Bundestag mandatiertes Gremium sein, das von der Nähe zum politischen Prozess profitiert, ohne den Widrigkeiten parteipolitischer Abgrenzungskämpfe zu unterliegen.

Politisch relevant, aber nicht politisiert

Für dieses Modell spricht einiges. Ein unabhängiges Gremium könnte sich ungebundener mit heiklen Fragen befassen, als dies der Regierung möglich ist. Wolfgang Schäuble hat das politische Dilemma mit Blick auf den Mauerfall 1989 kürzlich in einem Interview auf den Punkt gebracht: Die damalige Bundesregierung konnte auf eine solche Entwicklung gar nicht vorbereitet sein. Denn wären Überlegungen über ein mögliches Ende der DDR bekannt geworden, hätte dies gravierende Auswirkungen auf die innerdeutschen Beziehungen und darüber hinaus haben können.

Dennoch sind Entscheidungsträger gut beraten, auf denkbare Entwicklungsszenarien zugreifen zu können. Würden strategische Überlegungen etwa über die Implikationen einer weitergehenden Erosion der EU, militärischer Auseinandersetzungen am Persischen Golf oder von staatlich veranlassten Cyberattacken auf die nationale Infrastruktur in einem unabhängigen Sachverständigenrat thematisiert, hätte die Regierung diese potenziellen Ereignisse im Blick und zugleich die Möglichkeit, sich glaubhaft davon zu distanzieren – in der Politik ist »Deniability« eine wichtige Option.

Ein dem Parlament verbundener Sachverständigenrat bietet einerseits hinreichend Distanz zur Regierung, um heikle strategische Überlegungen als vielleicht interessante, aber politisch irrelevante Gedankenexperimente hinstellen zu können. Andererseits ist der Bundestag dicht genug am operativen Geschäft, so dass solche Überlegungen mit größerer Aufmerksamkeit rechnen können, als dies den meisten außerhalb der Politik entstandenen Vorausschau-Produkten gelingt.

Ein weiteres Argument für eine gewisse Parlamentsnähe besteht darin, dass sich der Sachverstand des Bundestages für strategische Vorausschau nutzen ließe. Die thematisch arbeitenden Ausschüsse konsumieren und produzieren eine ganze Menge Wissen über strategisch relevante Politikfelder. Auch die Kompetenz der Parlamentariergruppen, die den Bundestag mit praktisch allen Ländern und Regionen weltweit vernetzen, ließe sich dafür nutzen, strategische Vorausschau zu bereichern.

Wie sollte ein solcher Sachverständigenrat zusammengesetzt sein, um seiner Aufgabe nachkommen zu können? An erster Stelle ist hier eine Vielfalt der Perspektiven anzustreben. Dabei geht es um fachspezifische Merkmale wie unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, die berücksichtigt werden sollten. Ebenso geht es um soziokulturelle Eigenschaften wie Alter, Gender, ethnischer, kultureller und sozialer Hintergrund. Und nicht zuletzt geht es auch um unterschiedliche kognitive wie auch emotionale Charakterzüge und politische Einstellungen, die bei der Besetzung eine Rolle spielen sollten. Diese Faktoren müssten angemessen berücksichtigt werden, um ein facettenreiches Bild von denkbaren künftigen Entwicklungen und ihren strategischen Implikationen entwerfen zu können.

For a Peaceful Transition in Sudan

Fri, 25/10/2019 - 00:00

There seems to be no end to the good news coming from the Horn of Africa. First, the Nobel peace prize for Ethiopia’s young reformer Prime Minister Abiy Ahmed in Octo­ber and then, in April, Sudan’s dictator Omar al-Bashir was overthrown after thirty years of rule. After months of civil and peaceful protests, it was actually the Sudanese military that finally forced the ruler out of office. Then, less than four months later, military leaders and civilians led by Abdalla Hamdok, an economist with decades of experience at the United Nations, managed to form a government. Whether the tran­sition continues to develop positively will depend on the willingness of the security apparatus to transfer power to civilian leaders. However, in stabilising the country and improving its economic performance much will depend on whether and to what extent external actors support Sudan’s transformation process.

Polarmacht USA: Mit Volldampf in die Arktis

Fri, 25/10/2019 - 00:00

Das schmelzende Eis der Arktis wirkt nicht nur als Frühwarnsystem des Weltklimas, sondern macht diesen Raum auch zum Indikator für den Wandel in der internatio­nalen Sicherheitspolitik. Für die Trump-Regierung ist dabei die Vorstellung einer Großmachtkonkurrenz in der Arktis leitend. Sie kann der Region sowohl nutzen wie schaden: Ein größeres Engagement der USA wäre zwar zu begrüßen. Wenn dies aber mit dem Versuch einhergeht, andere Staaten auszugrenzen, würde dadurch das hohe Maß an Kooperation beschädigt, das bislang in der Arktis gepflegt wurde. Die Arktis­politik der USA erweist sich als abhängige Variable der Großmachtrivalität. Die damit verbundene Polarisierung der Beziehungen erschwert die Erarbeitung gemeinsamer Lösungen, die nötig sind, um die von der Klimaerwärmung verursachten Veränderungen zu bewältigen.

Strategische Vorausschau für multilaterale Politik

Mon, 21/10/2019 - 00:00

Staaten verfolgen auf internationaler Ebene zunehmend offen und selbstbewusst natio­nale Interessen. Die USA zum Beispiel haben internationale Regelwerke zur Abrüstung, zum Handel und zum Klimaschutz aufgekündigt. Andere Akteure mit globalem Macht­anspruch wie China und Russland betreiben eine aggressive Terri­torialpolitik. Mit Großbritannien droht die Europäische Union (EU) einen wich­tigen Part­ner zu ver­lieren, was ihre Fähigkeit zu einer strategisch ausgerichteten Politik auf internationaler Ebene beeinträchtigen würde. Die Aus­höh­lung der regelbasierten internationalen Ordnung macht eines deutlich: Notwendig ist eine vorausschauende und wirk­same Politik zur Gestaltung der Zukunft. Denn je geringer die Bin­dungs­kraft internationaler Vereinbarungen, desto niedriger ist die Hemm­schwelle für nicht abge­stimmtes Vorgehen. Als Folge könnten Krisen und Konflikte künftig häufiger und unerwarteter auftreten. Daher sollten Staaten, die den Multi­lateralismus fördern wollen, in gemeinsame strategische Vorausschau investieren. Ein multi­perspekti­vischer Ansatz könnte Situationen aufzeigen, in denen Handeln mit Gleich­gesinnten Chancen bietet für die proaktive Gestaltung internationaler Politik.

Die klientelistische Wirtschaftspolitik Polens unter Jarosław Kaczyński

Mon, 21/10/2019 - 00:00

Die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) hat die Parlaments­wahlen in Polen am 13. Oktober erneut gewonnen. Ihr Sieg bei den Wahlen 2015 und die Regierungsübernahme hatten diverse Folgen für die polnische Ökonomie, die bis heute wirksam sind: Die Wirtschaftspolitik wurde auf Sozialtransfers an Wählergrup­pen ausgerichtet, das Klientel-Netzwerk der Partei ausgeweitet, der Einfluss des von der PiS dominierten Staates auf die Wirtschaft ausgebaut. Zwar sind die Aussichten für stabile öffentliche Finanzen weiterhin gut, jedoch werden massive Finanztransfers und die Schwächung der Institutionen den wirtschaftlichen Handlungsspielraum künf­tiger Regierungen erheblich einengen. Insbesondere fehlt es an staatlich induzierten Entwicklungsimpulsen, die nötig sind, um eine Reihe struktureller Probleme anzugehen und das auf billigen Arbeitskosten beruhende Wirtschaftsmodell zu modernisieren.

 

PiS in Polen: Fulminanter Wahlsieg mit Makeln

Wed, 16/10/2019 - 00:00

Bei den Parlamentswahlen in Polen ist Jarosław Kaczyńskis Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) stärkste Kraft geworden. Doch uneingeschränkt als Gewinnerin bezeichnen kann sie sich nicht. Wie wird sich dieser Sieg mit Makeln auf das Verhalten der PiS auswirken? Wird die Partei ihr Programm des Umbaus von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft behutsamer angehen als bisher, oder wird sie genau das Gegenteil tun und den »Guten Wandel«, so die selbstgewählte Überschrift über dem Reformwerk der PiS, beschleunigen?

Die PiS konnte einen ansehnlichen Anteil von fast 44 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen – mehr als je eine andere Gruppierung seit 1989. Und weiterhin kann die Partei mit einer absoluten Mehrheit der Sitze im Sejm, der wichtigeren der beiden Parlamentskammern, regieren. Doch obwohl sie im nationalen wie im europäischen Maßstab ein Spitzenergebnis eingefahren hat, ist die Parteiführung nicht gänzlich zufrieden. Im Senat, der anderen Kammer, hat sie ihre Mehrheit knapp eingebüßt. Zwar kann der Senat Gesetzesprojekte nicht blockieren, sehr wohl aber legislative Abläufe verlangsamen. Im Augenblick bemüht sich die Regierungspartei darum, einige der gewählten Senatoren auf ihre Seite zu ziehen, um doch noch eine Mehrheit zu erlangen. Die PiS und ihr Vorsitzender werden auch damit zurechtkommen müssen, dass die beiden kleinen Partnerparteien in der Regierung zugelegt haben und ihr relativer Einfluss steigt. Mehr als ein Schönheitsfehler ist außerdem, dass die drei gemäßigten Oppositionsgruppierungen, Liberalkonservative, Linke und Bauernpartei (PSL), zusammen mehr Stimmen sammeln konnten als die PiS. Diese Unzulänglichkeiten bilden keine ernste Verkomplizierung, sie machen das Regieren aber etwas beschwerlicher als bislang.

Was ist also zu erwarten? Auf den ersten Blick hat die PiS ein Mandat für die Aufrechterhaltung ihrer Reformen, nicht jedoch für deren Intensivierung erhalten. Ob die PiS aber in ihrer Einschätzung des Wahlresultats zu einem ähnlichen Schluss kommt, ist fraglich. Vermutlich wird sie zu Beginn der neuen Legislaturperiode umsichtig agieren. Vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen im Frühjahr möchte die Partei nicht als übermäßig aggressiv erscheinen und nicht zuletzt den offenen Konflikt mit der EU bzw. Deutschland vermeiden – wie bereits in den letzten Monaten. Doch diese taktische Zurückhaltung wird keine Periode der Demut einläuten. Und dies gleich aus mehreren Gründen.

PiS erhält Legitimität durch Bestätigung

Zum einen wird die PiS argumentieren, dass sie – anders als vor vier Jahren, als es noch Unklarheiten über den Kurs der Partei gab – vom aktiven Wahlvolk in Kenntnis auch strittiger Maßnahmen, wie etwa der Justizreform, bei hoher Wahlbeteiligung zum Regieren bevollmächtigt wurde.

Überdies muss die PiS auf die neue Konkurrenzsituation reagieren. Die radikale Rechte, die jetzt im Sejm vertreten ist, bildet die eine Herausforderung. Die andere zeigt sich im ländlichen Raum: Dort hat die PiS über 60 Prozent der Stimmen geholt, doch die Bauernpartei PSL ist nicht eingegangen, sondern hat sich als unbequemer Rivale gefestigt und in kleineren und mittleren Städten sogar Stimmenzuwächse erzielen können. Sowohl für das patriotische als auch für das ländlich-soziale Elektorat braucht die PiS daher vorzeigbare Erfolge oder zumindest eine wahrnehmbare Symbolpolitik. Unnachgiebigkeit in der EU dürfte zu ihrem entsprechenden Programm gehören.

Vor allem aber könnte die PiS-Führung gerade wegen des nicht idealen Wahlausgangs nach einer taktischen Atempause einen neuen Reformeifer an den Tag legen. Jarosław Kaczyński und die Seinigen möchten Polens Erneuerung, Aufwertung und Modernisierung weiter vorantreiben. Die Antwort auf die hinter den Erwartungen zurückgebliebene Unterstützung darf aus Sicht der PiS daher nicht Zweifel und Zaghaftigkeit, sondern muss Festigkeit und Entschlossenheit sein. In diesem Sinne lassen sich die Äußerungen des PiS-Parteichefs wie auch des Ministerpräsidenten Morawiecki interpretieren. Polen, so Jarosław Kaczyński, müsse sich weiterhin verändern, und zwar zum Besseren. Für das Regierungslager impliziere dies »noch mehr Arbeit« (Morawiecki).

Konkret ist also davon auszugehen, dass die PiS ihren Weg unverdrossen fortsetzen wird. Eine Zusammenschau ihrer Ziele lieferte zuletzt das 229 Seiten lange Programm, das im Wahlkampf veröffentlicht wurde. Wichtiger sind aber die von der Parteiführung vorgenommenen Priorisierungen, wie sie sich vor allem aus Aussagen von Kaczyński  und Morawiecki schließen lassen: der Aufbau eines polnischen Wohlfahrtsstaates, die Fortsetzung der Justizreform, eine patriotische Geschichtspolitik und die Kräftigung traditioneller Werte, aber auch die Umgestaltung des Energiesektors und der Ausbau von Infrastrukturen. Nicht ausgeschlossen ist zudem, dass die PiS eine »Repolonisierung« im Mediensektor in Angriff nehmen wird.

Mehr Gegenwind auf dem Reformkurs

Fest steht, dass die Rahmenbedingungen für die Reformpolitik der PiS anspruchsvoller werden. In den letzten vier Jahren hatte es die Partei vor allem mit einer schwachen Opposition und einer oft überraschten und reaktiven EU zu tun. Nun muss sie sich mit vielgliedrigen und vitalen Gegenspielern und mit einer EU auseinandersetzen, die in der Rechtsstaatspolitik nach effektiven Instrumenten sucht. Sollte Jarosław Kaczyński die Justizreform weiter vorantreiben und etwa auch die ordentlichen Gerichte mit kontroversen Innovationen ummodeln, steht eine neue Auseinandersetzung mit der Europäischen Kommission ins Haus. Die kurze Idylle nach der Wahl der neuen Kommissionspräsidentin (auch) durch die Stimmen der PiS-Abgeordneten im Europäischen Parlament wird daher wohl bald einem neuen Realismus weichen. Dazu kommen Differenzen mit anderen Mitgliedstaaten über die mögliche Sanktionierung von EU-Geldern bei rechtsstaatlicher Schieflage oder Meinungsverschiedenheiten über die konkrete Ausgestaltung des neuen Mechanismus zum Monitoring von Mitgliedstaaten hinsichtlich ihrer Rechtsstaatlichkeit. Neben einer gefestigten Opposition und einer wachsamen EU muss sich die PiS in der neuen Legislaturperiode womöglich auch mit ungünstigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auseinandersetzen. Sollte Polen infolge eines Abschwungs in Europa in Mitleidenschaft gezogen werden, wird sich der Spielraum für die Sozialpolitik der PiS verengen.

Polens Partner und insbesondere Deutschland müssen sich auf eine PiS-Regierung einstellen, die selbstsicher und zugleich reizbar, zielstrebig und zugleich unstet agieren wird. In der Politik gegenüber Polen ist daher mehr als bislang Beharrungsvermögen und Irritationstoleranz gefragt.

Die Folgen des türkischen Einmarschs in Nordsyrien

Mon, 14/10/2019 - 00:00

Noch kann niemand wissen, wie weit die Türkei ihren Einmarsch in Syrien treiben wird. Donald Trump und Recep Tayyip Erdoğan, die beiden Männer, deren Übereinkunft die türkische Operation ermöglicht hat, streiten fast täglich über die Grenzen dieser Invasion. Unklar ist auch, bis zu welchem Punkt das syrische Regime und seine Schutzmacht Russland den Vorstoß der Türkei als nützlich für ihre eigenen Pläne werten. Doch eine Reihe von Ergebnissen und Folgen dieses Einmarschs sind jetzt schon abzulesen.

Das Einknicken der CHP besiegelt die Ausgrenzung der prokurdischen HDP

Innenpolitisch hat sich der Einmarsch für den türkischen Präsidenten bereits ausgezahlt. Um ihre langfristige Zusammenarbeit mit der rechtsnationalen Guten Partei (IyiP) zur Wiedereinführung des parlamentarischen Systems nicht zu gefährden, hat auch die größte Partei der Opposition, die Republikanische Volkspartei (CHP), dem Einsatz zugestimmt. Er kenne jetzt nur noch eine Partei, die der türkischen Flagge, sagte Oppositionsführer Kemal Kılıcdaroglu. Er unterwarf sich damit der Rhetorik des Präsidenten von der existentiellen Gefahr, die die kurdische Selbstverwaltungszone in Nordsyrien für das wirtschaftlich und militärisch stärkste Land im Nahen Osten darstelle. Das Einknicken der CHP besiegelt die Ausgrenzung der prokurdischen HDP aus diesem militanten nationalen Konsens. Es gießt Wasser auf die Mühlen der Regierung, die die HDP nun schon seit Jahren als den politischen Arm einer Terrororganisation betrachtet und entsprechend behandelt. Ruft man sich in Erinnerung, dass die Erfolge der Opposition bei den Kommunalwahlen im Frühjahr und im Sommer dieses Jahres nur durch die Stimmen der HDP-Wähler für die Kandidaten der CHP möglich waren, wird klar, welchen großen Rückschlag das für die innenpolitische Machtfrage bedeutet. Konnte die Opposition der Regierungspartei bei diesen Wahlen doch Istanbul und Ankara sowie fast alle Industriezentren des Landes abjagen und damit Hoffnungen wecken, dass mittelfristige Veränderung und erneute Demokratisierung möglich sind.

Sicher ist auch, dass der Einmarsch in Nordsyrien die Wirtschaftskrise der Türkei verstärken wird. Schon steigt der Dollar wieder, und die Lira fällt. Um der hochverschuldeten Privatwirtschaft beispringen zu können, hat Ankara im letzten Jahr seine bis dahin strikte finanzielle Disziplin über Bord geworfen und wird sich jetzt zu hohen Zinsen weiter verschulden müssen.

Außenpolitisch hat der Einmarsch die türkisch-amerikanischen Beziehungen wohl dauerhaft beschädigt. Bereits seit Jahren verfolgen Ankara und Washington im Nahen Osten gegensätzliche Interessen, und ihre jeweiligen Bedrohungswahrnehmungen unterscheiden sich fundamental. In Ankaras Augen hat die Politik der USA im Nahen Osten zur Unterminierung der Sicherheit von Staaten, wenn nicht gar zu deren Zerstörung geführt; die gravierendsten Beispiele sind Afghanistan und der Irak. Heute sieht sich Ankara einer informellen Front aus Saudi-Arabien, den VAE, Ägypten und Israel gegenüber, die von den USA geschmiedet wurde. Auch im Hinblick auf Syrien bildeten sich zwischen den beiden Regierungen schnell unterschiedliche Prioritäten heraus. Im Verlauf des Krieges wurden für die Türkei die PYD-geführten Kurden zur Hauptbedrohung; für die USA standen bald die Dschihadisten im Vordergrund. Die »Sicherheitszone«, die die Türkei nun in Syrien etablieren will, sollte noch bis vor kurzem von Türken und Amerikanern gemeinsam geschaffen und kontrolliert und so die bilateralen Beziehungen auf eine neue Grundlage gestellt werden. Jetzt wird gerade dieses Thema zu einem weiteren Zankapfel. Mehr noch, der Ton, den Donald Trump, aber auch seine Washingtoner Kontrahenten in ihren Tweets Ankara gegenüber anschlagen, hat dort zu erheblicher Verbitterung und zu der Auffassung geführt, dass die Türken im gesamten politischen Spektrum der USA keinen einzigen verlässlichen Partner mehr haben.

Die »Sicherheitszone« dürfte zu einem Brennpunkt dschihadistischer Aktivität werden

In Syrien selbst wird mit der Invasion ein neuer und dauerhafter Krisenherd entstehen. Die ausgereiften Pläne der türkischen Regierung zum Aufbau von 140 neuen Dörfern und zehn neuen Kleinstädten, die zusammen zwei Millionen Flüchtlinge aufnehmen sollen, sind nur ein Indiz dafür, dass die Türkei sich dort langfristig engagieren will. Seit langem schon klagt Ankara, die Kurden hätten in der Region die arabische Bevölkerung vertrieben, ein Hinweis darauf, dass die Türkei dort die Ansiedlung sunnitischer Araber plant. In der von Ankara aus den Resten der »Freien Syrischen Armee« neu geformten syrischen Miliz »Nationale Armee« haben – wie verschiedene Quellen übereinstimmend berichten  – auch frühere Kämpfer der dschihadistischen Al Qaida bzw. Al Nusra und der ebenfalls als Terrororganisation gelisteten Haiat Tahrir al-Sham Platz. Diese Armee bildet die Vorhut des Einmarsches und wird bei der später zur etablierenden »Selbstverwaltung« der Region eine zentrale Rolle spielen. Die Einbeziehung solcher Kräfte und die Bombardierung ziviler Siedlungen legen nahe, dass die türkische Regierung die demographische Struktur in der Region gründlich umbauen will. Es darf auch nicht vergessen werden, dass früher oder später die letzte Hochburg der Dschihadisten im syrischen Idlib fallen wird, wo circa 2,5 Millionen Menschen leben, die Ankara nicht zusätzlich zu den 3,5 Millionen Flüchtlingen haben will, die bereits jetzt im Lande sind. Die türkische Regierung möchte am liebsten auch diese zukünftigen Flüchtlinge – viele von ihnen militante Islamisten und ihre Familien – im Nordosten Syriens ansiedeln. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass die von der Türkei angestrebte »Sicherheitszone« nicht nur zu einem arabischen Gürtel wird, der türkische und syrischen Kurden trennt, sondern sich zu einem neuen Brennpunkt dschihadistischer Aktivität entwickelt.

Russland und der Iran werden schon mittelfristig die eigentlichen Nutznießer des türkischen Vorgehens sein. Mit den Kurden verlieren die USA ihre einzigen Verbündeten in Syrien und ihre »Bodentruppen«, weshalb das Engagement der USA in Syrien zu seinem Ende kommen wird. Vom Westen ausgegrenzt, steht Ankara in Syrien dann Russland, dem Iran und Damaskus alleine gegenüber. Als Schutzherr radikal-islamischer Gruppen in Afrin, der Region Al-Bab und im Nordosten Syriens droht der Türkei dann auch in der Region Isolation. Man kann dem Land nur wünschen, dass seine Pläne nicht aufgehen.

Was kann Europa tun, um diese Entwicklung zu verhindern? Die schlechteste Option ist wohl, sich wie bisher tot zu stellen und untätig zu bleiben. Entweder kommt man Ankara wirtschaftlich und politisch entgegen und setzt dafür klare Bedingungen, z.B. den Verzicht auf die Bombardierung ziviler Siedlungen und auf die Manipulation der demographischen Struktur. Oder man einigt sich auf eine konfrontative Strategie, die allerdings – so wie ihr Gegenteil: die Unterstützung – nur Wirkung haben wird, wenn die EU mit einer Stimme spricht.

Dieser Text ist auch bei Handelsblatt.com, Tagesspiegel.de und auf Zeit Online erschienen.

Der Donbas-Konflikt: Ein Gipfeltreffen im Normandie-Format birgt Gefahren

Wed, 09/10/2019 - 17:00

Seit der Wahl Wolodymyr Selenskyjs zum ukrainischen Präsidenten gibt es Bewegung im Donbas-Konflikt. Nun strebt er ein Treffen auf höchster Ebene im »Normandie-Format« mit Deutschland, Frankreich und Russland an. Um das zu erreichen, hat Selenskyj die sogenannte Steinmeier-Formel akzeptiert – und damit heftige Proteste in der ukrainischen Bevölkerung ausgelöst.

Die nach Bundespräsident und Ex-Außenminister Frank-Walter Steinmeier benannte Formel soll die Umsetzung eines Teils der Minsker Vereinbarungen ermöglichen, die seit Februar 2015 die Grundlage für eine friedliche Lösung des Donbas-Konflikts bilden. Der 2016 unterbreitete Vorschlag sieht vor, dass am – noch zu bestimmenden – Tag der Kommunalwahlen in den besetzten Gebieten ein Sonderstatus in Kraft tritt, der durch ein ukrainisches Gesetz festgelegt wird. Sollten die Abstimmungen von der OSZE als frei und fair bezeichnet werden, erhielten die Gebiete dauerhaft diesen Sonderstatus.

Die Konfliktparteien haben unterschiedliche Erwartungen

Selenskyjs Kalkül scheint zu sein, dass ein Treffen im »Normandie-Format« als ein weiterer Erfolg in seinen Friedensbemühungen gewertet wird. In der Tat ist es den Konfliktparteien in den letzten Wochen gelungen, sich auf wichtige Schritte wie den Bau einer dringend benötigten Brücke in Stanyzja Luhanska zu einigen. Als Erfolg kann Selenskyj auch den Gefangenenaustausch verbuchen, bei dem er unter anderem den renommierten Regisseur Oleh Senzow und 24 ukrainische Marinesoldaten, die im November 2018 von Russland beschossen und gefangen genommen worden waren, nach Hause holte.

Die russische Seite verspricht sich von dem Sonderstatus Einfluss auf die ukrainische Innen- und Außenpolitik. Ihre Hoffnung scheint darin zu bestehen, eine moskautreue Führung der sogenannten Volksrepubliken durch Kommunalwahlen zu legitimieren. Kiew müsste dann deren Teilnahme an nationalen Entscheidungsprozessen akzeptieren. Ein solches Arrangement konterkariert allerdings das ukrainische Interesse, die volle Kontrolle über die besetzten Gebiete wiederzuerlangen und so den Einfluss Moskaus auf die Ukraine deutlich zu verringern.

Die wichtigsten Fragen sind noch offen

In diesem Kontext wirft die Akzeptanz der »Steinmeier-Formel« mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Sie soll den Weg zu Kommunalwahlen ebnen. Aber unter welchen Umständen können diese Wahlen abgehalten werden, und wer entscheidet, ob diese Umstände gegeben sind? Laut den Minsker Vereinbarungen sollen die Wahlen nach ukrainischem Recht und entlang den Kriterien der OSZE stattfinden, was Selenskyj in einer Presse-Konferenz am 1. Oktober bekräftigt hat. Doch wie lässt sich das sicherstellen? Weder die Ukraine noch die OSZE verfügen über den vollen Zugang zu den besetzten Gebieten. Der sicherheitspolitische Kontext der Wahlen bleibt ebenfalls ungeklärt: Können die Wahlen erst dann stattfinden, wenn alle illegalen und ausländischen militärischen Einheiten die besetzten Gebiete verlassen haben? Und wenn ja, wer bestätigt, dass dies eingetreten ist? Schließlich ist die Frage der ukrainisch-russischen Grenze weiterhin ungelöst. Laut Selenskyj muss die ukrainische Seite noch vor den Wahlen die volle Grenzkontrolle wiedererlangen. Das widerspricht nicht nur den Interessen der russischen Seite, sondern auch den Minsker Vereinbarungen.

Eine weitere Frage betrifft die Ausgestaltung des Sonderstatus. Das entsprechende Gesetz hatte das ukrainische Parlament bereits im Oktober 2014 verabschiedet. Es wurde allerdings im März 2015 bis zur Durchführung freier und fairer Wahlen in den betroffenen Gebieten außer Kraft gesetzt. Die Regelung läuft Ende 2019 aus; ein neues Gesetz hat Selenskyj bereits angekündigt – und wird es im Parlament auch durchbekommen. Seine Partei verfügt hier seit den Parlamentswahlen im Juli über eine Mehrheit. Es ist aber noch völlig offen, worin der Sonderstatus für die zurzeit besetzten Gebiete bestehen wird.

Die Einigung auf die sogenannte Steinmeier-Formel ist nur ein Scheinfortschritt. Sie gibt keine Antworten auf die wirklich brisanten Fragen. Zudem ist die Reihenfolge der Schritte strittig. Spätestens 2017 hatte sich die ukrainische Seite mit ihrer Forderung de facto durchgesetzt, dass ein Minimum an Sicherheit in den besetzten Gebieten gewährleistet werden muss, bevor politische Schritte wie die Einführung des Sonderstatus und die Abhaltung von Kommunalwahlen erfolgen konnten. Russlands Beharren auf der »Steinmeier-Formel« kann als Versuch gedeutet werden, diesen stillschweigenden Konsens – erst Sicherheit, dann Politik – wieder infrage zu stellen.

Das Gipfeltreffen weckt falsche Hoffnungen

Die derzeitigen Proteste gegen die »Steinmeier-Formel« in Kiew und anderen ukrainischen Städten sind Zeichen einer wachsenden politischen und gesellschaftlichen Instabilität. Viele befürchten, Selenskyj könnte – eventuell ermuntert durch westliche Akteure – Russland zu weit entgegenkommen und dadurch die bereits eingeschränkte ukrainische Souveränität gefährden. Andere sind kriegsmüde und verbinden mit Selenskyj die Hoffnung, dass er der Gewalt im Donbas ein Ende setzt.

Ein Gipfeltreffen im »Normandie-Format« würde zwar dem vorhandenen Momentum in den ukrainisch-russischen Verhandlungen Rechnung tragen. Ein wirklicher Durchbruch ist aber nicht zu erwarten. Dafür sind noch zu viele Fragen offen, die nur durch harte Arbeit auf anderen Verhandlungsebenen gelöst werden können. Wichtig wäre, dass sich Deutschland und Frankreich vor einem solchen Treffen auf ihre Erwartungen an die ukrainische und die russische Seite sowie auf ihre eigenen roten Linien einigen. Nur so können sie die Vorschläge der Konfliktparteien angemessen bewerten und ihrer Vermittlerrolle gemeinsam und effektiv gerecht werden.

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