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Stiftung Wissenschaft und Politik
Updated: 2 months 2 weeks ago

Deutschland sucht Arbeitskräfte

Thu, 26/01/2023 - 10:15

Der Fachkräftemangel in Deutschland nimmt vor allem in den Bereichen Soziales und Erziehung, Gesundheit und Pflege, Bau und Handwerk, Informationstechnologie und den Berufen rund um Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) stark zu. Gleichzeitig wächst der Bedarf an geringer qualifizierten Arbeitskräften, etwa bei Helfer­tätigkeiten und haushaltsnahen Dienstleistungen. Zwar machen Zuzüge aus EU-Staaten nach wie vor den größten Teil der Arbeitsmigration aus, doch dieses Zuwanderungspotenzial nimmt auf­grund der in diesen Staaten ähnlichen Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung ab. Die Anwerbung von Arbeitskräften aus Drittstaaten, darunter auch aus Partnerländern der deutschen Entwicklungs­zusammenarbeit, wird daher zu einer strategischen Zukunftsfrage. Trotz aller Reformen in jüngerer Zeit ist die Arbeitskräftegewinnung aus Drittstaaten immer noch unzureichend, und entwicklungspolitische Erwägungen werden bislang nicht genügend beachtet, um nachhaltige Wirkungen entfalten zu können. Erforderlich ist eine stärkere Einbettung der deutschen Arbeitskräfte­gewinnung in entwicklungsorientierte, faire Partnerschaften mit Her­kunftsländern, bei denen deren Interessen berücksichtigt und die Rechte von Arbeitsmigrantinnen und ‑migranten geachtet werden. Da viele Industrieländer inzwischen um Arbeitskräfte werben, könnte Deutsch­land daraus ein Wettbewerbsvorteil erwachsen. Die Bundesregierung sollte die vielen Erfahrungen aus Pilotprojekten zur Fachkräftegewinnung für größere Anwerbeprogramme nutzen und mit einer systematischen Zusammenarbeit aller relevanten Ministerien (Gesamtregierungsansatz) und unter Beteiligung von Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft die Weichen für eine entwicklungsorientierte Arbeits­kräftegewinnung stellen. Die Bundesregierung sollte sich noch stärker als bisher in den einschlä­gigen globalen Prozessen und Foren engagieren und sich dabei für faire Anwerbung einsetzen.

Superwahljahr in Südosteuropa

Wed, 25/01/2023 - 14:28

Das Jahr 2023 bringt eine besondere wahlpolitische Konstellation für Südosteuropa: Nie zuvor riefen so viele Länder der Region in rascher Abfolge ihre Bürgerinnen und Bürger an die Wahlurnen. Auf Zypern und in Montenegro finden Präsidentschaftswahlen statt. Griechenland wählt im Frühjahr ein neues Parlament. In der Türkei soll im Mai eine Doppelwahl, Parlament und Präsident, abgehalten werden. In Albanien stehen Kommunalwahlen an. Schließlich deutet vieles darauf hin, dass in Bulgarien abermals vorgezogene Parlamentswahlen nötig sind. Bei dem politischen Stresstest in Südosteuropa steht viel auf dem Spiel – und dass die Wahlen zu einer Normalisierung der politischen Landschaft beitragen werden, ist eher unwahrscheinlich.

Folgen des Ukraine-Kriegs

Angesichts der geopolitischen Herausforderungen und deren sozio-ökonomischen Konsequenzen stehen die Wählerinnen und Wähler in der Region vor folgenreichen Entscheidungen. Die russische Invasion der Ukraine ist in allen Ländern ein erheblicher Einflussfaktor, zum Beispiel hinsichtlich der Engpässe bei der Energieversorgung, zweistelliger Inflationsraten oder wachsender Flüchtlingsströme. Während sich Zypern, Bulgarien, Albanien, Griechenland und Montenegro den meisten Inhalten der mittlerweile neun Sanktionspakete der EU-Kommission angeschlossen haben, hat die Türkei genau das Gegenteil gemacht: Präsident Erdoğan lehnt die Sanktionen konsequent ab und versucht, sich wiederholt als Vermittler zwischen Moskau und Kiew zu positionieren. Nikosia, Sofia, Tirana, Athen und Podgorica versuchen, ihre Energieabhängigkeit von Gazprom zu verringern. Ankara hingegen hat 2022 seine fossilen Energieeinfuhren aus Russland kontinuierlich erhöht.

Seit dem russischen Angriffskrieg stellen viele Länder Südosteuropas bisherige Sichtweisen in Frage, darunter auch das Verhältnis der lokalen orthodoxen Kirchen zum Patriarchen Kyrill in Moskau. Ebenso wandelt sich die pro-russische Einstellung in Teilen der Bevölkerungen. Ersichtlich wird dies nicht zuletzt in den öffentlichen Debatten über den Umgang mit russischen Botschaften, die sich in die innenpolitischen Angelegenheiten ihrer Gastländer einmischen, weil die Regierungen die Ukraine militärisch unterstützen.

Solche Herausforderungen führen zu politischen Neuansätzen, die sich in der Programmatik einzelner Parteien niederschlagen. Die EU-Beitrittsverhandlungen sollen in dem Nato-Mitglied Montenegro neue Dynamik erhalten. In Bulgarien wird schrittweise eine energiepolitische Wende hin zu westlichen Konzernen angekündigt. In Kooperation mit Griechenland hat die Übergangsregierung in Sofia zwei Vereinbarungen unterzeichnet – zum einen den Bau einer Ölpipeline von Alexandroupolis nach Burgas und zum anderen ein Memorandum über bilaterale Gasspeicherung.

Unter welch schwierigen politischen Vorzeichen Wahlen in Südosteuropa gegenwärtig stattfinden, zeigt sich allerorten. Die Polarisierung zwischen den Parteien ist in den Ländern sehr ausgeprägt. In Sofia stehen sich pro-russische und pro-europäische Parteien seit Jahren unversöhnlich gegenüber, mit der Folge ständiger Machtkämpfe und Koalitionswechsel im Parlament. Die daraus erwachsene politische Instabilität hat zu vier Wahlen seit 2021 geführt. Im April werden abermals vorgezogene Parlamentswahlen erwartet. Solche Risikofaktoren auf Regierungsebene hatten den Nebeneffekt, dass Bulgarien der Eintritt in die Schengen-Zone Ende 2022 durch ein Veto Österreichs verwehrt wurde.

Türkei und Griechenland: Streit unter Nachbarn

Für zahlreiche Beobachter in Berlin, Brüssel und Washington wird der Ausgang der Wahlen in der Türkei und Griechenland von entscheidender Bedeutung sein – nicht zuletzt wegen des Nato-Beitrittsgesuchs von Schweden und Finnland, das weiterhin einer Ratifizierung seitens der türkischen Regierung bedarf. Obwohl offiziell noch keine endgültigen Wahltermine feststehen, ist der Wahlkampf in der Türkei und in Griechenland bereits voll entbrannt. In Athen sind Zweifel an der Integrität der Wahlen entstanden, weil der Vorsitzende einer Oppositionspartei, verschiedene Journalisten und ein griechischer Europaabgeordneter vom griechischen Geheimdienst abgehört wurden. Das »griechische Watergate« hat die parteipolitische Polarisierung zugespitzt. In Ankara hat die türkische Justiz verschiedene Oppositionspolitiker entweder durch Gefängnisstrafen an einer Kandidatur bei den Wahlen gehindert, oder gegen aussichtsreiche Bewerber ein politisches Betätigungsverbot verhängt.

Der Ausgang der Wahlen in Griechenland und der Türkei hat signifikante regionalpolitische Dimensionen. Die Definition maritimer Seegrenzen und exklusiver Wirtschaftszonen im Mittelmeer, die umstrittenen Gasvorkommen in der Ägäis, gegenseitige Schuldzuweisungen in der Flüchtlingspolitik kennzeichnen eine kontroverse bilaterale Agenda. Eine rhetorische Deseskalation, vor allem aus dem Präsidentenpalast in Ankara, ist nicht zu erwarten. Die Frage, ob es nach den Wahlen in der Türkei und auf Zypern Chancen auf eine Wiederaufnahme der Gespräche gibt, steht auf der geteilten Insel nicht im Vordergrund – das beherrschende Thema in Nikosia sind Wirtschafts- und Energiefragen. Im Unterschied zu Montenegro, Bulgarien, Griechenland und der Türkei verläuft der Wahlkampf auf Zypern weitgehend ruhig.

Präsident Erdoğan hat in der Vergangenheit gezeigt, dass er nicht bereit ist, Wahlniederlagen ohne weiteres zu akzeptieren. Sollte es tatsächlich zu einem Regierungswechsel in der Türkei kommen, ist zunächst mit einer Phase des Übergangs zu rechnen, die nur schwerlich als »normal« zu bezeichnen wäre. Die zwanzigjährige Herrschaft von Erdoğan und der regierenden AKP haben tiefe Spuren in der institutionellen Architektur des Landes hinterlassen. Das Bündnis der sechs Oppositionsparteien will das auf Erdoğan zugeschnittene Präsidialsystem per Referendum abschaffen und zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren. Die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank, der Statistikbehörde und die Medienfreiheit sollen wiederhergestellt werden. Ein solcher Politikwechsel wird Zeit brauchen und gesellschaftlichen Rückhalt erfordern. Auf letzteren wird es besonders ankommen.

Israels antiliberale Koalition

Thu, 19/01/2023 - 15:00

Die neue Regierung in Israel steht politisch so weit rechts wie keine andere vor ihr. Der Erfolg der rechtsradikalen Parteien und ihre Beteiligung an der Regierung sind Ergebnisse einer länger anhaltenden Transformation der politischen Landschaft Israels. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist die Genese einer rechten Mehrheit, die mit einer Rechtsverschiebung des Mainstreams und der politischen Legitimierung des radikalsten Segments der israelischen Gesellschaft einhergeht. Der gemeinsame Nenner dieser Regierung ist ein antiliberaler Impetus, der auf eine Neuordnung des Staates hinausläuft. Die Regierung beabsichtigt, demokratische Mechanismen, ins­besondere das System von Checks and Balances, den Status des Obersten Gerichtshofs und den der Grundrechte, zu schwächen. Stattdessen sollen majoritäre Prinzipien gestärkt werden, die den Regierungsmehrheiten kaum mehr Schranken auferlegen. Dieser disruptive Ansatz bezieht sich auch auf den Konflikt mit den Palästinensern: Hier wird ein Sieg angestrebt. Die Integration des Westjordanlands in das Rechts­gebiet des Staates Israel soll unumkehrbar gemacht werden.

Deutschlands schwache Führungsrolle bei der europäischen Luftverteidigung

Thu, 19/01/2023 - 01:00

Mit der European Sky Shield Initiative hat Deutschland seinen Führungsanspruch bei der europäischen Luftverteidigung angemeldet. Verteidigung gemeinsam zu denken ist begrüßenswert, aber schwierig umzusetzen. Wichtige europäische Partner, allen voran Frankreich und Italien, sind derzeit nicht gewillt, Deutschland zu folgen. Die fehlende politische Einigkeit zeigt, dass der deutsche Vorstoß die europäischen Sicher­heitsinteressen nicht genug berücksichtigt, Partner nicht überzeugt und viele Fragen zur strategischen, militärischen, industriellen und ökonomischen Ebene offen lässt. Soll die ESSI Europas Schutz im Bereich Luftverteidigung spürbar ver­bes­sern, muss Berlin Antworten zum strategischen Gleichgewicht, zur Entwicklung der europäischen Rüstungsindustrie und zu militärisch sinnvollen Lösungen geben. Der Aufwuchs ein­zelner militärischer Fähigkeiten wird keinen europäischen Sky Shield ermöglichen.

Nach Sturm auf den Kongress in Brasilien: Lula muss das Land wieder einen

Fri, 13/01/2023 - 16:51

Nach dem Sturm radikaler Anhänger des abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro auf das Regierungsviertel in Brasília sind Unterstützer von Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva auf die Straße gegangen. Die Demonstranten fordern »keine Amnestie und kein Verzeihen«. Doch die Strafverfolgung der Bolsonaro-Anhänger kann nur ein Teil der Strategie zur Aufarbeitung der jüngsten Ereignisse sein. Präsident Lula muss weitere Schritte wagen, um sein Land wieder zusammenzuführen.

Die Frage lautet, ob Brasilien vor einem Prozess der weiteren Erosion seiner demokratischen Ordnung steht, nicht weil – wie unter Bolsonaro – aus dem Präsidentenamt heraus die Legitimität der zentralen Institutionen des Landes unterminiert wurde, sondern weil sich große Teile der Bevölkerung abwenden und aus den demokratischen Prozessen ausgeschlossen fühlen. Entscheidend dafür wird sein, ob Lula eine neue Grundlage für ein friedliches Zusammenleben in Brasilien finden und so die Logik des »Wir gegen sie«, den Dauerzustand politischer Mobilisierung und Gegenmobilisierung auflösen kann. Eine akute Herausforderung ist dabei der Einfluss des »Bolsonarismo« auf die Streitkräfte. Lula muss die Loyalität der Sicherheitsorgane zum Präsidenten sicherstellen. Auch könnten die Ereignisse der vergangenen Tage in Teilen der Bevölkerung auf noch vehementere Ablehnung seiner Person als bisher stoßen.

Die Bevölkerung ist stark polarisiert

Die Brücke der Verständigung der beiden Lager ist im Getöse des vergangenen Wahlkampfes vollends eingestürzt. Nun kommt es darauf an, die expansive Tendenz der Polarisierung von der Welt der Politik auf den Bereich der alltäglichen sozialen Beziehungen zu unterbrechen. Mit der bei seiner Amtseinführung verkündeten Versöhnungsinitiative hat Lula sicherlich den richtigen Ton gesetzt. Nach dem Angriff auf den Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungssitz ist aber zunächst Aufklärung und Strafverfolgung angesagt, was dem erklärten Ziel der Annäherung zuwiderläuft. Es steht zu befürchten, dass die jüngsten Ereignisse keine einzelne Episode bleiben, wenn die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen keinen Weg finden, um wieder in den Austausch zu treten.

Konkrete Schritte für diesen Weg der Rückführung der Polarisierung sind politische Kompromissbereitschaft und Aufbau des Vertrauens in die öffentlichen Institutionen. Dafür muss Lula die Vorteile der Diversität jener Koalition nutzen, die ihn ins Präsidentenamt getragen hat, indem Dialogbereitschaft und -angebote eben nicht an seine Person gebunden sind, sondern von einer Vielzahl anderer gesellschaftlicher und politischer Akteure vorgetragen werden. Das erfordert vom Präsidenten, seinen Mitstreitern mehr politischen Raum einzuräumen – sei es im Parlament, in dem die Bolsonaro-Anhänger die Mehrheit stellen, oder in der brasilianischen Gesellschaft. Flankiert werden muss dies mit effektiven staatlichen Leistungen im sozialpolitischen Bereich wie auch der Sicherheit, insbesondere in den Großstädten. Allerdings steht Lula hier vor dem Problem, dass die öffentlichen Kassen aufgrund der Wahlkampfgeschenke seines Amtsvorgängers leer sind. Daher muss er mit den Gouverneuren und dem Parlament umgehend Finanzierungsmodelle aufsetzen, um die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten und ihr Gefühl von Sicherheit zu stärken – jenseits dem von Bolsonaro propagierten Recht auf Selbstverteidigung und damit Waffenbesitz.

Der Euphorie nach dem von Lulas Anhängern so gefeierten Amtsantritt am 1. Januar 2023 ist nur wenige Tage später jäh gebremst worden. Die Verteidigung der brasilianischen Demokratie ist an die erste Stelle der politischen Tagesordnung gerückt. Der Präsident und seine Regierung müssen die Polarisierung durch konkrete politische Maßnahmen überwinden. Sollten sich Tendenzen gegenseitiger Ausgrenzung in den nachbarschaftlichen Beziehungen oder sozialen Medien weiter verstetigen und konkurrierende Wertevorstellungen in einem Personenkult manifestieren, ist eine Umkehr nur schwer möglich. Lula hat einige Mittel in der Hand, um sein Land mit Unterstützung einer breiten Koalition und internationalen Partner aus der schwierigen Lage zu manövrieren. Das erfordert aber mehr als die umfassende Aufklärung der Hintergründe des Aufruhrs und die Rückgewinnung nationaler Symbole, wie etwa das gelbe Trikot der »Seleção«, mit dem die Bolsonaristas auch bei den Krawallen ihre Unterstützung zeigten. Gefragt sind konkrete Schritte, die das Zusammenleben wieder möglich machen.

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