In den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen Südafrikas finden derzeit Erosionsprozesse statt. Sie sind das Resultat struktureller Veränderungen und parallel ablaufender Entwicklungen, die sich gegenseitig verstärken. Die Hoffnungen auf Einnahmen aus dem Tourismus in den Monaten November 2021 bis Februar 2022 haben sich zerschlagen, seitdem nach Entdeckung der Corona-Variante Omikron internationale Reisebeschränkungen erlassen worden sind. Hinzu kommt, dass die Spannungen innerhalb der Regierungspartei African National Congress (ANC) den Präsidenten Cyril Ramaphosa in seiner Handlungsfähigkeit einschränken. Allerdings sind langsame Fortschritte bei Reformen und positive Tendenzen einer Weiterentwicklung jenseits des dominierenden ANC erkennbar. So hat sich das Parteiensystem nach den Kommunalwahlen im Anfang November zusehends ausdifferenziert. Deutschland und die EU können positive Entwicklungen durch gut ausgerichtete und sensible Hilfe unterstützen, müssen dabei aber stets insbesondere sozioökonomische Faktoren im Blick behalten.
The international debate on migration policy increasingly views cities as game changers since cities have to find rapid, efficient, and lasting solutions to problems relating to forced displacement and migration. However, this assessment also has its critics. From a European perspective, cooperating with African cities is important because migration from Africa is expected to rise in the short and medium term. From an African perspective, there is a wish to extend the potential for legal migration and for intercontinental mobility. Existing cooperation between African and European cities shows that the actors involved pursue very different objectives. Their potential for participation is limited but simultaneously highly dependent on political will and context. In order to make use of cities’ potential for cooperation, particularly in shaping legal migration, cooperation instruments must be designed in such a way as to give cities adequate funding and sufficient powers. Divisions between urban and rural areas should not be deepened, and social conflicts should not be exacerbated. Public funds should be used preferentially to support existing networks, especially those of small and medium-sized cities; such cities should be involved above all in the shaping of labour mobility and migration and in the reception of refugees. Philanthropic funding of cities and city networks can also be helpful in harnessing the potential of municipal actors.
Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages hat in seiner letzten Sitzung vor der Sommerpause 2021 der Anschaffung von fünf Flugzeugen P-8A Poseidon für 1,43 Milliarden Euro zugestimmt. Dieses Flugzeug erfüllt alle technischen und operativen Anforderungen, die an einen modernen Seefernaufklärer der Marine gestellt werden. Die Anschaffung behebt nicht nur einen kurzfristig aufgetretenen Mangel an entsprechenden Luftfahrzeugen, sondern schließt auch eine Lücke in der Aufklärung. Notwendig geworden ist dies durch die militärischen Aktivitäten, die Russland im arktisch-nordatlantischen Raum entfaltet. Dort spielt Deutschland eine besondere geostrategische Rolle. Darum sollte es seine maritimen und militärischen Fähigkeiten weiterentwickeln.
Die meisten Experten sind sich hinsichtlich des russischen Truppenaufmarsches an der Grenze zur Ukraine Anfang November einig: Russland geht es ähnlich wie schon im Frühjahr um eine Drohgebärde gegenüber der Ukraine und dem Westen, nicht um einen Einmarsch in das Nachbarland. Diese Interpretation hat einen entscheidenden Vorteil: Sie ist bequem und zwingt westliche Regierungen nicht zum entschiedenen Handeln. Während angesichts der Krim-Annexion 2014 eine generelle Vorsicht gegenüber Russland geboten sein sollte, wird zum einen außer Acht gelassen, dass sich die Eskalationsspirale im russisch-ukrainischen Konflikt seit dem Frühjahr immer schneller dreht. Zum anderen wird ignoriert, dass das russische Ziel einer vollständigen Kontrolle über die Ukraine auch ohne die immer wieder erwähnten unangemessenen Kosten erreicht werden kann. Aus diesem Grund können extreme Szenarien wie ein russischer Einmarsch in Teile der Ukraine aktuell nicht ausgeschlossen werden. Vielmehr sollte das Worst-Case-Szenario einer abgestuften Invasion, bei der Russland mit gezielten Interventionen einen Vorwand für den Einmarsch schafft, und dessen mögliche Konsequenzen ernsthaft diskutiert werden.
Der Westen verkennt Russlands BefindlichkeitenRussland hat es seit Beginn des Ukrainekonflikts trotz der Krim-Annexion, Besetzung von Teilen des Donbass und weiterer Destabilisierungsversuche nicht geschafft, sein strategisches Ziel der mittelbaren Kontrolle des Nachbarlandes zu erreichen. Vielmehr ist es der Ukraine gelungen, sich vom Konflikt im Osten zu isolieren, ihre Staatlichkeit zu stärken und näher an den Westen zu rücken. Selbst der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der 2019 als Friedensstifter angetreten war, hat nach einigen diplomatischen Experimenten die Rolle des anti-russischen Kriegsherrn eingenommen. Mehr noch: Seit dem Sommer zeigen sich Selenskyj und dessen Militärführung forsch, lassen öffentlichkeitswirksam die Abwehr von russischen Invasionsversuchen üben und Drohnenangriffe gegen die Separatisten fliegen. In Russland schwindet die Hoffnung, dass sich mit den bisher angewandten Druckmitteln ein Politikwechsel oder gar eine russlandfreundliche Führung in Kiew installieren lässt.
Im Westen wird unterschätzt, wie empfindlich Moskau auf die schwierige Lage im Donbass und das zur Schau gestellte ukrainische Selbstbewusstsein reagiert. Anders als in Washington oder Brüssel, wo die Ukraine nüchtern als klar unterlegene Partei in einem stark asymmetrischen Konflikt gesehen wird, ist die Perspektive Moskaus auf Kiew durch Reputationsfragen bestimmt – was Kiew mindestens zu einem großen Ärgernis und maximal zur Bedrohung »aufwertet«. Jedenfalls muss der Effekt, den die trotz sieben Jahre kriegerischem Konflikt zwischen den einstigen Bruderstaaten anhaltende ukrainische Unnachgiebigkeit auf Moskau hat, in die Analyse der russischen Politik einbezogen werden. Die nachhaltige Unterminierung des Normandie-Formats und Moskaus Insistieren auf die für Kiew inakzeptable Forderung, direkt mit den Separatisten zu verhandeln, ist so auch als Eingeständnis der eigenen Frustration angesichts eines Pyrrhussieges zu werten. Russlands Präsident Putin und sein ehemaliger Premier Medwedew haben Kiew und dem Westen ihre maximalen Absichten in der ukrainischen Frage und auch den eigenen Unglauben an eine Verhandlungslösung mehrfach klargemacht. Wenn diese Interpretation zutrifft, hätte der russisch-ukrainische Konflikt eine unberechenbare Phase erreicht, weil sie durch von Statusfragen getriebene Eskalationsbereitschaft und den fehlenden Zugriff westlicher Diplomatie gekennzeichnet ist.
Möglichkeit der abgestuften InvasionBeobachter attestieren der ukrainischen Armee heute eine bessere Verteidigungsfähigkeit als in den Jahren 2014 und 2015. Aufgrund der Kampferfahrungen der vergangenen Jahre, der Stabilisierung der Kontaktlinie durch die Truppen und die anhaltende Modernisierung des gesamten Verteidigungssektors ist tatsächlich eine graduelle Verbesserung eingetreten. Die ukrainische Armee bleibt gegenüber ihrem russischen Pendant aber vor allem mit Blick auf die Luftstreitkräfte klar unterlegen.
Diese Tatsache begünstigt bisher wenig diskutierte Szenarien, bei denen die russische Armee in einer von den Kosten her überschaubaren abgestuften Strategie in der Ukraine intervenieren und deren Führung über immer neue taktische Lagen zu politischen Zugeständnissen zwingen könnte. Denkbar wäre beispielsweise, dass Russland die jüngsten Drohnenangriffe auf Stellungen der Separatisten als Vorwand nutzt, um erneut »zum Schutz der lokalen Bevölkerung« in den besetzten Donbass einzumarschieren. Obwohl diese Form eines russischen Einmarsches keinen Einfluss auf die existierende territoriale Situation der Ukraine hätte, würde ein solches Szenario die Führung in Kiew massiv unter Druck setzen. Das Kräfteverhältnis an der Kontaktlinie würde sich stark zu Ungunsten der Ukraine verändern, wobei Russland dann jeden weiteren Vorfall als Vorwand für ein weiteres Vorgehen nutzen könnte, zum Beispiel durch Luftangriffe auf Stützpunkte der ukrainischen Armee in der nicht besetzten Ostukraine. Kiew hätte darauf kaum eine wirksame Antwort. So könnte Moskau seine konkreten Nahziele auf militärischem Wege erreichen, darunter der Sonderstatus für die »Volksrepubliken« in der Ostukraine ohne die in den Minsker Vereinbarungen festgehaltenen Vorbedingungen.
Die westlichen Partner der Ukraine und damit auch die neue Bundesregierung sollten sich klar darüber werden, dass Rechtfertigungen und Varianten einer möglichen russischen Eskalation vielfältiger sind als gemeinhin angenommen. Auch das sich durch die weitere Integration von Belarus in den russischen sicherheitspolitischen Orbit andeutende Destabilisierungsdreieck eröffnet dem Kreml zusätzliche militärische Optionen gegenüber Kiew. Um Moskau von derlei Schritten abzuhalten, sollte sich auch der Westen strategisch auf eine Eskalation einstellen und Sanktionen gegenüber Moskau und Minsk vorbereiten. Diese sollten auch die Möglichkeit vorsehen, Nord Stream 2 vorerst nicht in Betrieb zu nehmen. Darüber hinaus könnte die EU im Schwarzen Meer aktiv Präsenz zeigen, um die Südflanke der Ukraine zu entlasten und existierende bilaterale Militärhilfe in einer effektiven Ausbildungs- und Beratermission zu bündeln. In jedem Fall bedarf es neben Sanktionen auch einer sicherheitspolitischen Präsenz.
Connecting Ukraine to the continental European power grid and the EU’s electricity market is on the political agenda. However, establishing the necessary grid connections is technically complicated and also requires profound reforms to the Ukrainian electricity sector. But it is not only Ukraine that has to deliver; the EU and its member states will also have to make far-reaching and hugely significant geopolitical decisions. The project needs a politically coordinated roadmap that defines clear criteria and conditions for a common electricity grid.
Der Klimawandel birgt zahlreiche Risiken für die Stabilität des Finanzsystems und für die Übertragung der Geldpolitik. Für die Europäische Zentralbank existieren ausreichende wirtschaftliche und rechtliche Gründe, um Klimarisiken und den Übergang zur Klimaneutralität stärker in die Geldpolitik zu integrieren. Die geldpolitischen Instrumente von Zentralbanken wurden nicht zur Bekämpfung des Klimawandels konzipiert, können aber so kalibriert werden, dass sie eine Umstellung der Wirtschaft auf Klimaneutralität fördern. Das mächtigste geldpolitische Instrument, die Ankäufe von Vermögenswerten, breiter einzusetzen, kann problematisch sein, da es schwierig ist, ein spezifisches Klimaziel in einen begrenzten geldpolitischen Rahmen einzupassen. Das klimapolitische Engagement könnte die Unabhängigkeit der EZB beeinträchtigen. Gleichzeitig kann es sich auch positiv auf ihre Position im globalen Finanzsystem und auf die internationale Rolle des Euro auswirken, unter anderem durch die Aktivitäten der EZB und der nationalen Zentralbanken des Eurosystems im Network for Greening the Financial System. Geldpolitisches Engagement kann in der Klimapolitik allenfalls unterstützend wirken; wichtig sind hier vor allem das Handeln der Staaten, die Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung sowie neue Konsum- und Produktionsstandards.
Thousands of people are waiting at the border between Belarus and Poland, hoping to enter the European Union (EU). Belarusian ruler Alexander Lukashenko has flown them in from crisis areas in retaliation for sanctions against his country. Top politicians in Berlin and Brussels are speaking of a “hybrid war”, and the Baltic states are warning of an attack on the alliance’s territory, which the North Atlantic Treaty Organization (NATO) would have to deal with. Lukashenko and Russian President Vladimir Putin are also fuelling this war rhetoric. Both countries are feigning concern about a perceived NATO troop concentration on the border with Belarus. According to reports, nuclear-capable Russian bombers have recently patrolled the Belarusian airspace. German policy should not fall into this trap of conjured-up militarisation.
Every dispute is elevated to a great power conflictThe frequent use of the term “hybrid warfare” fits in with a development that is increasingly shaping the discourse on security and defence policy in Germany and other EU and NATO states. It has become a commonplace belief that the boundaries between war and peace are becoming blurred. War seems to be everywhere – there is talk not only of hybrid wars, but also of information wars, cyber wars, and economic wars. Almost every international dispute is interpreted in light of the ubiquitous paradigm of “great power conflict” – with the potential for military escalation.
Not all of this is necessarily wrong – and much of it is not really new. But war is and remains at its core the organised use of military force for political ends. In the process, states and non-state actors have always used non-military means as a flanking measure to win the propaganda battle or to weaken the will of the opponent to divide their societies. The technological and societal developments of the past decades have facilitated this enormously. Economic instruments such as sanctions and boycotts can also be threatened or used to augment military means. However, the basic definition of hybrid warfare is that it is the integrated use of military and non-military means or tactics within the framework of an overarching goal or plan.
War has political and legal consequencesThe current situation on the Polish-Belarusian border does not meet this criterion. Even if this crisis was orchestrated by the Kremlin, it is far-fetched to speak of an integrated “deployment” of migrants in Belarus and of pro-Russian separatists and Russian troops in eastern Ukraine as part of an overall plan.
Calling the situation a hybrid war has concrete consequences, because war justifies politically and legally different rules and means than peace. Using the term “war” increases the danger that it will be used to justify the treatment of refugees in violation of human rights. War creates a great urgency to act, while at the same time the political room for manoeuvre dwindles. The question also arises as to who is waging war against whom. Belarus against Poland, so that there is a NATO Article V case for collective defence? Or Russia against NATO? The expansion of the concept of war also dilutes the respective areas of responsibility of internal security forces and armed forces. Shouldn't the Bundeswehr then also be deployed on the German-Polish border, and shouldn’t NATO send its rapid reaction force to the Polish-Belarusian border?
Politics must draw boundaries between war and peaceThe fact that the boundaries between war and peace are becoming increasingly blurred is not only due to abstract security policy developments and structural international changes, but it is also very much the result of the language and actions of political actors, including in the West. Politicians therefore have a responsibility to continue to define the boundaries between war and peace. The migration crisis on the Polish-Belarusian border is not yet a war. It cannot safely be ruled out that it will escalate militarily. However, politicians in Germany and the EU should not rhetorically pave the way for such a development and should not respond to corresponding provocations from Minsk and Moscow. They should meet the challenge posed by migration and refugees with political means – also and especially when a state uses them as a means of pressure. In addition to further economic sanctions by the EU against Belarus, the establishment of a functioning asylum policy in the European Union would be an essential step in this direction.
This text was also published by fairobserver.com.
In September, the United Nations (UN) Secretary-General’s High-Level Panel on Internal Displacement issued its final report. In it, the Panel called for a shift in emphasis from short-term humanitarian to longer-term development-oriented approaches and thus a focus on durable solutions. The Panel’s key reform proposals – particularly the establishment of a Global Fund and the appointment of a UN Special Representative on the issue – are unlikely to receive widespread support at the international level at this point. Nevertheless, the report offers important starting points for addressing protracted internal displacement including: first, new incentive structures and accountability mechanisms to encourage the active participation of directly affected governments; and second, the operationalisation of the Humanitarian-Development-Peace Nexus (HDP Nexus). In order to breathe life into these recommendations, the new German government should adopt an inter-agency approach to engage in the follow-up process of the High-Level Panel.
Am 4. Juli 2026 begehen die USA den 250. Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung. Im ganzen Land drängen sich die Feiernden auf den Straßen. Die größte Party findet in Washington statt. Hunderttausende Anhänger und Anhängerinnen Präsident Donald Trumps sind in die Hauptstadt gepilgert, um ihrem Idol zu huldigen. Gegendemonstrationen werden durch ein massives Aufgebot von Polizei und Militär unterbunden. Die Lage ist hochgradig spannungsgeladen. Seit Tagen deutet Trump an, dass er am Independence Day eine historische Entscheidung bekannt geben werde. Und tatsächlich: Zunächst bringt der Präsident die Menschenmenge mit bewährten Slogans aus seinen Wahlkampagnen in Stimmung. Dann verkündet er, weitere Amtszeiten anzustreben. Zwar besage der 22. Verfassungszusatz, dass ein Präsident nur zweimal gewählt werden könne. Er sei aber sicher, dass sich dies ändern ließe. Daher wolle er eine Bewegung ins Leben rufen, die für die Abschaffung des Zusatzes eintrete – dies sei schließlich klar erkennbarer Volkswille. Trump fordert seine Anhängerschaft dazu auf, sich »energisch« dafür einzusetzen, dass er bei den 2028 anstehenden Präsidentschaftswahlen antreten kann. Viele Beobachter im In- und Ausland sind entsetzt. Die angekündigte Amtszeitentgrenzung lässt sie um das Schicksal der Demokratie in Amerika bangen.
Tausende Menschen harren an der Grenze zwischen Belarus und Polen aus und hoffen auf Einreise in die EU. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat sie als Vergeltung für Sanktionen gegen sein Land gezielt aus Krisengebieten einfliegen lassen. Spitzenpolitiker in Berlin und Brüssel sprechen von einem »hybriden Krieg«, die baltischen Staaten warnen vor einem Angriff auf das Bündnisgebiet, mit dem sich die Nato befassen müsse. Auch Lukaschenko und Russlands Präsident Wladimir Putin befeuern diese Kriegsrhetorik. Beide Länder spiegeln Besorgnis über eine vermeintliche Nato-Truppenkonzentration an der Grenze zu Belarus vor. Berichten zufolge patrouillierten jüngst nuklearwaffenfähige russische Bomber auf belarussischer Seite. Die deutsche Politik sollte nicht in diese Falle einer herbeigeredeten Militarisierung tappen.
Jeder Disput wird zum Großmachtkonflikt erhoben
Der häufige Rückgriff auf den Begriff der »hybriden Kriegsführung« passt zu einer Entwicklung, die zunehmend den sicherheits- und verteidigungspolitischen Diskurs in Deutschland und anderen EU- beziehungsweise Nato-Staaten prägt. Es gehört mittlerweile zum Allgemeinplatz, dass die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen. Überall herrscht scheinbar Krieg – so ist die Rede nicht nur von hybriden Kriegen, sondern auch von Informationskriegen, Cyberkriegen und Wirtschaftskriegen. Nahezu jeder internationale Disput wird im Lichte des allgegenwärtigen Paradigmas der »neuen Großmachtkonflikte« gedeutet – mit dem Potential einer militärischen Eskalation.
Nicht alles davon ist falsch – und vieles davon ist auch nicht wirklich neu. Aber Krieg ist und bleibt im Kern die organisierte Anwendung von militärischer Gewalt, um politische Ziele zu erreichen. Dabei haben Staaten und nicht-staatliche Akteure immer auch nicht-militärische Mittel flankierend eingesetzt, um die Propagandaschlacht zu gewinnen oder um den Willen des Gegners zu schwächen, dessen Gesellschaften zu spalten. Die technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte haben dies enorm erleichtert. Auch wirtschaftliche Instrumente wie Sanktionen oder Boykotte können flankierend zu militärischen Mitteln angedroht oder eingesetzt werden. Die grundlegende Definition von hybrider Kriegsführung ist jedoch, dass es sich um den integrierten Einsatz von militärischen und nicht-militärischen Mitteln oder Taktiken im Rahmen eines übergeordneten Ziels beziehungsweise Plans handelt.
Krieg hat politische und rechtliche Folgen
Dieses Kriterium erfüllt die aktuelle Situation an der polnisch-belarussischen Grenze nicht. Selbst wenn diese Krise vom Kreml ausgeheckt wurde – von einem integrierten Einsatz von Migranten in Belarus sowie von prorussischen Separatisten und russischen Truppen in der Ostukraine im Rahmen eines Gesamtplans zu sprechen, überspannt den argumentativen Bogen dann doch.
Die Situation als hybriden Krieg zu bezeichnen hat konkrete Folgen, denn ein Krieg rechtfertigt politisch und rechtlich andere Regeln und Mittel als Frieden. Durch die Verwendung des Kriegsbegriffs steigt die Gefahr, dass damit die menschenrechtswidrige Behandlung von Flüchtenden gerechtfertigt wird. Aus Krieg folgt eine große Dringlichkeit zum Handeln, während zugleich der politische Spielraum schwindet. Es stellt sich auch die Frage, wer gegen wen Krieg führt. Belarus gegen Polen, so dass ein Nato-Bündnisfall vorliegt? Oder Russland gegen die Nato? Die Ausweitung des Kriegsbegriffs verwässert zudem die jeweiligen Verantwortungsbereiche und Handlungsfelder von inneren Sicherheits- wie von Streitkräften. Sollte dann nicht auch die Bundeswehr an der deutsch-polnischen Grenze eingesetzt werden oder die Nato ihre schnelle Eingreiftruppe an die polnisch-belarussische Grenze schicken?
Die Politik muss Grenzen zwischen Krieg und Frieden ziehen
Der Umstand, dass die Grenzen zwischen Krieg und Frieden immer mehr verschwimmen, wird nicht nur von abstrakten sicherheitspolitischen Entwicklungen und strukturellen internationalen Veränderungen verursacht, sondern ist ganz wesentlich auch das Ergebnis der Sprache und des Handelns von politischen Akteuren, auch im Westen. Die Politik steht deshalb in der Verantwortung, weiterhin Grenzen zwischen Krieg und Frieden zu definieren. Die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze ist bislang kein Krieg. Es kann nicht sicher ausgeschlossen werden, dass sie militärisch eskaliert. Politikerinnen und Politiker in Deutschland und der EU sollten einer solchen Entwicklung jedoch nicht rhetorisch den Weg bereiten und auf entsprechende Provokationen aus Minsk und Moskau auch nicht eingehen. Sie sollten der Herausforderung durch Migration und Flüchtlinge mit politischen Mitteln begegnen – auch und gerade wenn ein Staat sie als Druckmittel einsetzt. Neben weiteren wirtschaftlichen Sanktionen der EU gegen Belarus wäre der Aufbau einer funktionierenden Asylpolitik in der Europäischen Union ein wesentlicher Schritt dazu.
Inmitten eines Verfassungsprozesses werden die Chileninnen und Chilenen am 21. November turnusgemäß zu den Urnen gebeten. Neben den Regionalräten wählen sie das Staatsoberhaupt sowie sämtliche Abgeordnete und rund die Hälfte der Senatsmitglieder des Nationalkongresses. Diese werden im kommenden Jahr dafür Sorge tragen, dass die Bürgerinnen und Bürger in einer bindenden Volksabstimmung über den konstitutionellen Text entscheiden, den die Verfassungsgebende Versammlung zurzeit erarbeitet. Im Falle einer Annahme stehen die Gewählten dann vor der Aufgabe, die zur Umsetzung der neuen Verfassung erforderlichen politisch-institutionellen und sozioökonomischen Reformen durchzuführen.
Das Unsicherheitsszenario
Dem ergebnisoffenen Szenario gesellt sich ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzu: Nach den Ergebnissen zur Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung im Mai dieses Jahres, die das althergebrachte, bipolar strukturiere Parteiensystem definitiv beendete, setzen sich die Fragmentierungs- und zentrifugalen Tendenzen fort: Der politische Wettbewerb erfolgt zunehmend zwischen mehr und ideologisch heterogeneren Parteien. Verantwortlich dafür sind neben einem reformierten Wahlsystem tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen und die Unzufriedenheit der Mehrheit der Bevölkerung mit den traditionellen Parteien, die sie als in seinem Netzwerk von Privilegien abgeschottetes, politisch-ökonomisches Kartell ansehen. Chiles Erfolg bei der Reduzierung der Armut und der sozialen Ungleichheit dank hohen Wirtschaftswachstums bleibt also hinter den steigenden Forderungen der Bürgerinnen und Bürger. Zwar können institutionelle Innovationen und Demokratisierungsimpulse, wie etwa der Verfassungsprozess, aus einer solchen Krise hervorgehen. Diese kann aber auch den Nährboden für populistisch-extremistische Positionen und Kandidaturen bilden. Während breite Teile der Gesellschaft viele Gründe dafür haben, den chilenischen Status Quo nicht weiter für bewahrenswert zu halten, ist es noch nicht abzusehen, wohin der Reformpfad führen wird. In dieser Situation und unter dem Eindruck der massiven Proteste der vergangenen Jahre sehnen sich wiederum einige gesellschaftliche Sektoren nach Sicherheit und Ordnung.
Das Rennen um die Präsidentschaft
Um das höchste Amt im Lande bewerben sich eine Frau und sechs Männer. Da die unmittelbare Wiederwahl nicht zulässig ist, befindet sich Präsident Sebastián Piñera nicht unter ihnen. Darüber hinaus stimmte das Abgeordnetenhaus am 9. November für ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn. Seit der Veröffentlichung der »Pandora Papers« Anfang Oktober wird Piñera der Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit dem Verkauf eines Bergbauunternehmens beschuldigt. Nun muss sich auch die Zweidrittelmehrheit des Senats der politischen Anklage anschließen, damit das Amtsenthebungsverfahren gestartet werden kann. Regulär würde seine Amtszeit am 11. März 2022 enden.
Seit dem Übergang zur Demokratie im Jahr 1990 haben sich in Chile konservative und progressive Parteikoalitionen an der Macht abgewechselt. Laut einer CADEM-Umfrage vom Ende Oktober sind die aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten diesmal jedoch an den Rändern des ideologischen Spektrums angesiedelt. Auf der rechtsextremen Seite tritt José Antonio Kast für Partido Republicano an. Der 55-Jährige war lange Mitglied der Partei Unión Demócrata Independiente und später unabhängiger Politiker. Auf der linken Seite kandidiert der 35-Jährige Gabriel Boric für die Partei Convergencia Social. Der ehemalige Studierendenführer kann mit der Unterstützung des Bündnisses Apruebo Dignidad rechnen. Mit jeweils 24 und 19 Prozent der geäußerten Wahlabsichten werden voraussichtlich weder Kast noch Boric die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen im ersten Wahlgang auf sich vereinigen können. Die Stichwahl ist für Dezember vorgesehen. Mit elf Prozent liegt die Christdemokratin Yasna Provoste an dritter Stelle, gefolgt von Sebastián Sichel mit acht Prozent vom Regierungsbündnis Chile Vamos.
Auch wenn weder Kast noch Boric zum ersten Mal die politische Bühne betreten, wird deren Kandidatur jeweils von politischen Parteien getragen, die erst in den vergangenen zwei bis drei Jahren gegründet wurden. Sie sind das Ergebnis der Spaltung, Umstrukturierung und Entstehung politischer und zivilgesellschaftlicher Kräfte, eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses, bei dem die alten, höher institutionalisierten Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien massiv an Gewicht verlieren. Mehr oder weniger weiter außen gewinnen nun Kandidaten wie Kast und Boric an Bedeutung.
Der Konsens nach dem Konsens
Nach einer langen Phase der Stabilität, die sich auf einen politisch-institutionellen Grundkonsens zwischen den Regierenden stützte, bahnt sich die Unzufriedenheit der Regierten ihre Wege: neue Akteurinnen und Akteure, soziale Bewegungen und politische Programme sind gefragt. Die Einführung der Genderparität, der Listen von Unabhängigen sowie der Mandate für indigene Völker machten die Verfassunggebende Versammlung diverser und pluraler als jede andere politische Institution zuvor. Die Zweidrittelmehrheit als Beschlussquorum garantiert, dass der neue Verfassungstext auf einem breiten Konsens fußt. Doch dieser wird Naturgemäß zwischen und unter den verschiedenen Erwartungen liegen, die nun im Zuge der Präsidentschaftswahlen, die in der Regel die Polarisierung fördern, sichtbar auseinander gehen. Die große politische Ungewissheit, in der Chile gerade steckt, wirkt sich negativ auf die ökonomische Entwicklung aus. Dies ist insofern ein zusätzliches Problem, da der notwendige Aufbau sozialer Kohäsion nicht nur von einer neuen Umverteilung politischer, sozialer und ökonomischer Chanen abhängt; sie kann auf Wirtschaftswachstum nicht verzichten.
Die Herausforderung besteht also darin, zu einem neuen Grundkonsens über die politische und sozioökonomische Ordnung zu finden, der nicht nur von den politischen Eliten, sondern auch von der Gesellschaft getragen wird. Und in diesem Rahmen sollten Bürgerinnen und Bürger das Gefühl bekommen, zwischen substantiell unterschiedlichen Optionen wählen zu können. Während Demokratisierungsschübe meisten von unten kommen, gehören Machtwechsel, Wandel der Eliten sowie deren Bekenntnis zu demokratischen Prinzipien und deren Bindung an demokratische Verfahren zu den Grundpfeilern demokratischer Stabilität.
Die Anbindung der Ukraine an das kontinentaleuropäische Stromnetz und den EU-Strommarkt steht auf der politischen Agenda. Die nötigen Stromverbindungen herzustellen ist jedoch technisch kompliziert und erfordert darüber hinaus tiefgreifende Reformen im ukrainischen Stromsektor. Aber nicht nur die Ukraine ist in der Bringschuld, auch die EU und ihre Mitgliedstaaten werden weitreichende geopolitische Entscheidungen von großer Tragweite treffen müssen. Für das Vorhaben bedarf es eines politisch abgestimmten Fahrplans, der klare Kriterien und Konditionen für ein gemeinsames Stromnetz definiert.
Bereits seit einigen Monaten ist die Situation an der östlichen EU-Außengrenze zu Belarus prekär. In jüngster Zeit hat sich die Lage an der Grenze zu Polen deutlich verschärft, hier sind mehrere tausend Flüchtlinge und Migrant/innen zwischen belarussischen und polnischen Sicherheitskräften auf belarussischen Territorium gefangen. Polen lehnt eine Unterstützung durch die EU-Grenzschutzagentur Frontex ab, hat aber nach eigenen Angaben neben Grenzschutz und Polizei 15.000 Soldaten entsandt, um die Menschen am Grenzübertritt zu hindern. Dabei treiben polnische Sicherheitskräfte Medienberichten zufolge Menschen mit Gewalt nach Belarus zurück. Gleichwohl schaffen es immer wieder Menschen, die Grenze zu Polen zu überqueren und auch nach Deutschland weiterzureisen.
Lukaschenkos Kalkül und Russland RolleLukaschenko will die EU mit Bildern von der Grenze erpressen, die die angebliche Doppelmoral der EU-Politik entblößen sollen. Sein vordringliches Ziel ist die Aufhebung der nach der Entführung der Ryanair-Maschine im Mai dieses Jahres verhängten EU-Sanktionen. Zudem will er den Kreml – der derzeit sein politisches Überleben garantiert – beeindrucken und dem innen- und außenpolitischen Drängen auf eine Verfassungsreform und einen Machtverzicht ausweichen. Putin lässt Lukaschenko gewähren und unterstützt sein Ziel, zu Verhandlungen mit der EU über die Rücknahme der Sanktionen zu kommen. Außerdem sieht Putin in dem Erpressungsversuch eine weitere Chance, die Spaltung der EU zu vertiefen. Allerdings könnte die militärische Eskalationsgefahr auch aus Sicht Putins zu groß werden.
Die Interessen der polnischen RegierungDie polnische Regierung steht innenpolitisch so unter Druck, dass sie bei Neuwahlen einen Machtverlust befürchten müsste. Ihr kommt Lukaschenkos Erpressungsversuch innenpolitisch gelegen, weil sie ihn als Angriff auf die territoriale Integrität Polens und sich als deren Verteidigerin darstellen kann. Die Regierung rüstet rhetorisch und militärisch auf, hat die Grenzregion zur Sperrzone erklärt und kontrolliert die Berichterstattung aus der Krisenzone. Dabei dient die Inszenierung der nationalen Selbstverteidigung auch dazu, vom laufenden Rechtsstaatskonflikt mit der EU abzulenken. Die Regierung nährt die Mär, die EU ließe Polen im Stich, so dass das Land auf sich allein gestellt sei.
Deutschland sollte Handlungsfähigkeit demonstrierenIn der ersten Novemberwoche 2021 hat die Bundespolizei etwa 1.000 irreguläre Grenzübertritte mit Belarus-Bezug registriert, seit Jahresbeginn insgesamt etwa 9.000. Ankunftszahlen in dieser Größenordnung sind für Deutschland jedoch angesichts einer Gesamtzahl von insgesamt 115.000 neuen Asylanträgen in Deutschland (Januar bis Ende Oktober 2021) zu bewältigen, was sich auch daran zeigt, dass die Erstaufnahmeeinrichtungen im besonders betroffenen Bundesland Brandenburg bislang keine Kapazitätsprobleme haben. Die Bundesregierung sollte Lukaschenko deshalb deutlich machen, dass sie die Lage unter Kontrolle hat.
Humanitäre Hilfe leisten und Polen entlastenEine Aufnahme der Menschen in Polen oder in anderen EU-Mitgliedstaaten ist der einzige Weg, die humanitäre Notlage rechtskonform zu bewältigen. Das schließt humanitäre Hilfe sowie das Recht der Flüchtlinge und Migranten ein, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Die EU sollte Polen erneut ein umfassendes Unterstützungsangebot durch die EU (Frontex, Europol und EASO) unterbreiten. Deutschland und andere Mitgliedstaaten könnten Polen zudem unterstützen, indem sie schnelle und faire Asylverfahren vor Ort mit Personal unterstützen und selbst Asylbewerber aufnehmen. Ein solches Unterstützungspaket würde die Transparenz der polnischen Aktivitäten an der Grenze erhöhen und der polnischen Bevölkerung zeigen, dass sie von den Mitgliedstaaten und der EU nicht im Stich gelassen wird.
Neue, gezielte und wirkungsvolle Sanktionen verhängenEiner humanitären Lösung steht vor allem die Sorge entgegen, dass diese einen Sog auf weitere Flüchtlinge ausüben könnte. Daher muss die EU wirksame Präventivmaßnahmen gegen eine fortgesetzte Schleusung über Belarus ergreifen. Dazu zählen vor allem neue EU-Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime, die sich allerdings von den bisherigen vier Sanktionsrunden unterscheiden müssen: Die EU müsste deutlich machen, dass diese Sanktionen die Spannungen nicht weiter eskalieren sollen, sondern sich ausschließlich auf die Instrumentalisierung von Migranten beziehen und wieder aufgehoben würden, wenn sich die Situation an der Grenze entschärft. Solche Sanktionen könnten sich beispielsweise gegen die fünf staatlichen Banken richten; auch die Möglichkeiten zu Sanktionen gegen staatliche Reiseunternehmen sind noch nicht ausgeschöpft. Dabei sollte eine weitere Einschränkung der Mobilität der belarussischen Bürgerinnen und Bürger vermieden werden.
Maßnahmen gegen Fluggesellschaften und InformationskampagnenNotwendig sind auch Maßnahmen gegen Fluggesellschaften, die sich an der Beförderung der Menschen nach Belarus beteiligen – beispielsweise die Entziehung von Landerechten. Auch Gespräche mit Russland und der Türkei sind vordringlich, die mittlerweile zu Drehscheiben für Flüge nach Belarus geworden sind. Zudem sollte die Bundesregierung die EU zu überzeugenden Social Media-Aufklärungskampagnen in den Herkunftsländern über die Gefahren der gegenwärtigen Migrationsroute über Belarus drängen.
Über diese dringenden Maßnahmen zur Bewältigung der humanitären Krise hinaus sollte die EU aber aus dem Erpressungsversuch Lukaschenkos eine Lehre ziehen: Ein funktionierendes EU-Asylsystem mit einer fairen Verantwortungsteilung und eine gemeinsame Einwanderungspolitik wären der beste Schutz gegen solche Destabilisierungsversuche. Entsprechende Vorschläge liegen seit über einem Jahr auf dem Tisch. Die gegenwärtige Krise sollte allen Mitgliedstaaten die Dringlichkeit einer Einigung über das von der EU-Kommission vorgelegte Asyl- und Migrationspaket vor Augen führen.
Die globale digitale Ordnung ist seit vielen Jahren Gegenstand der Beratungen der G7. Das Themenspektrum reicht von der Digitalwirtschaft über Cybersecurity bis hin zu Künstlicher Intelligenz. Unter britischem Vorsitz wurden 2021 die Aktivitäten in diesem Feld noch einmal intensiviert. Für die neue Bundesregierung bietet sich die Chance, diesen Faden aufzugreifen und dabei eigene Akzente zu setzen: Denn der Anspruch einer liberalen Ausgestaltung der globalen digitalen Ordnung gerät zunehmend unter Druck und sollte daher proaktiv verteidigt werden. Einen konkreten Ansatzpunkt bildet die Internet Governance als zentrales Element der globalen digitalen Ordnung. Hier wird technisch das Fundament für eine offene und inklusive Digitalisierung gelegt – und bietet sich politisch eine Gelegenheit, neue Partner zu gewinnen.
Im September hat das vom Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN) eingesetzte »High-Level Panel zu Binnenvertreibung« seinen Abschlussbericht vorgelegt. Darin verlangt es eine Schwerpunktverschiebung von kurzfristigen humanitären hin zu längerfristigen entwicklungsorientierten Ansätzen und somit eine Fokussierung auf dauerhafte Lösungen. Zentrale Reformvorschläge des Panels – insbesondere die Einrichtung eines Globalen Fonds und die Ernennung eines UN-Sonderbeauftragten zum Thema – sind auf internationaler Ebene derzeit nicht konsensfähig. Gleichwohl bietet der Bericht wichtige Ansatzpunkte, um langandauernde Binnenvertreibung zu bewältigen: zum einen neue Anreizstrukturen und Rechenschaftsmechanismen, um eine aktive Beteiligung der direkt betroffenen Regierungen zu fördern, zum anderen die Operationalisierung des Humanitarian-Development-Peace Nexus (HDP-Nexus). Um diese Empfehlungen mit Leben zu füllen, sollte sich die neue Bundesregierung ressortübergreifend im Follow-up-Prozess zum High-Level Panel engagieren.
Das Regime von Nicaraguas Präsident Daniel Ortega und seiner Ehefrau sowie Vizepräsidentin Rosario Murillo versucht, sich für weitere vier Jahre die Macht zu sichern. Ziel ist es, den eigenen Familienclan an den Schalthebeln der wirtschaftlichen und politischen Macht zu halten. Die für den 7. November angesetzten Wahlen sollen dem Regime den Anschein von Legitimität verleihen. Dabei bewegt es sich seit Jahren in eine autoritäre Richtung. Im Vorfeld des Urnengangs wurden die Gewaltenteilung ausgehöhlt und die demokratischen Institutionen gleichgeschaltet. Manche sprechen offen von einer Diktatur.
Ständige Schikanen gegen die Opposition sind bereits seit den regimekritischen Protesten im Jahr 2018 an der Tagesordnung: Seither werden Vertreter der Kirchen und Unternehmerverbände mit strafrechtlichen Ermittlungsverfahren überzogen und verhaftet. Derzeit befinden sich mehr als 160 prodemokratische Akteure im Gefängnis oder im Hausarrest, darunter fünf Präsidentschaftskandidaten der Opposition sowie weitere Politikerinnen und Politiker. Zahlreiche Menschenrechtsaktivisten haben sich ins Exil begeben. Die unabhängige Presse, insbesondere die oppositionelle Zeitung »La Prensa«, wird durch die Reduzierung von Papierlieferungen in ihrer Verbreitung massiv eingeschränkt. In diesem Klima von freien Wahlen zu sprechen, ist reiner Hohn.
Der Widerstand der Opposition scheint mittlerweile gebrochen. Nach der Verfolgung ihrer Sprecher ist ihr der innere Zusammenhalt verloren gegangen. Nach jüngsten Umfragen ist von einer sehr geringen Wahlbeteiligung auszugehen – ein letztes Mittel, mit dem die Bevölkerung ihrem Protest Ausdruck verleihen kann. Das Land scheint erneut unter eine Familienherrschaft zu geraten, wie einst unter dem Somoza-Clan, dem Ortegas Sandinisten 1979 ein Ende bereiteten.
Vom revolutionären Nimbus ist Daniel Ortega nichts geblieben. Der einstige Widerstandskämpfer hat sich zum autoritären Herrscher gewandelt, der das Land politisch und wirtschaftlich dominiert – und für eigene Zwecke ausnutzt. In erstarrten Formen revolutionärer Symbolik, esoterisch-religiöser Aufladung und repressiver Kontrolle hat er einen Wahlkampf inszeniert, dessen Ergebnis bereits feststeht. Die noch im Rennen befindlichen Parteien spielen keine Rolle mehr.
Schwache regionale ReaktionenDie Protagonisten des Regimes vertrauen darauf, dem Druck der internationalen Gemeinschaft und den gegen sie verhängten Sanktionen mit Hilfe ihrer Partner in Venezuela und Kuba ausweichen zu können. Auch das Drehbuch für den Umgang mit den Oppositionellen in Nicaragua könnte in Caracas geschrieben worden sein, so nah ist die nicaraguanische Realität an den Methoden, die Präsident Nicolás Maduro – ein Verbündeter Ortegas – seit Jahren in Venezuela praktiziert.
Auf internationaler Ebene gelingt es nicht, eine einheitliche Position einzunehmen: Zwar forderten am 20. Oktober 26 Mitglieder der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in einer gemeinsamen Resolution, das Ortega-Murillo-Regime müsse zu einer sofortigen Lösung der soziopolitischen Krise beitragen und alle politischen Gefangenen freilassen. Allerdings enthielten sich auch sieben Mitgliedsländer der Stimme, darunter die Nachbarländer Guatemala und Honduras. Nicaragua ist in der Region Zentralamerika nicht isoliert.
Erst Ende Oktober unterzeichnete der umstrittene honduranische Präsident Juan Orlando Hernández in Managua ein Grenzabkommen. El Salvadors Präsident Nayib Bukele zeigt gleichermaßen stark autoritäre Züge, so dass auch von dieser Seite kein Druck auf Nicaragua erfolgt. Ebenso wenig ist von Mexiko zu erwarten: Dessen Präsident López Obrador verfolgt eine Politik der Nichteinmischung. Sein Land enthielt sich bei der Resolution zur Lage in Nicaragua ebenfalls der Stimme. Zwar riefen Mexiko und Argentinien ihre Botschafter zur Berichterstattung zurück, weitergehende Maßnahmen blieben aber aus. So werden Menschenrechtsverletzungen und die anstehende Wahlfarce in Nicaragua in Kauf genommen.
Nur Costa Rica hat einen klaren Kurs gegen die autokratische Entwicklung in Nicaragua eingeschlagen. Es ist Zielland vieler Personen, die dort Zuflucht vor Verfolgung suchen und sich im Exil weiter gegen die Repression in der Heimat einsetzen. In den vergangenen beiden Jahren haben mehr als 100.000 Menschen Nicaragua verlassen, monatlich bitten gegenwärtig mehr als 5.000 Nicaraguaner um Aufnahme in Costa Rica. Damit kommt dieses Aufnahmeland an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit und hat bei internationalen Organisationen wie UNHCR um mehr Unterstützung bei der Betreuung der Geflüchteten gebeten. Hier sollte auch die internationale Hilfe ansetzen.
Wie weiter nach der Wahlfarce?Nach den Wahlen am 7. November und seinem »Wahlerfolg« wird das Ortega-Murillo-Regime erneut versuchen, sich international als legitim darzustellen. Vor diesem Hintergrund muss die internationale Gemeinschaft die Wahlfarce umgehend verurteilen. Das bisher von den USA, Kanada und der EU betriebene Sanktionsmodell, das die Reisefreiheit und den Zugang zu Auslandsguthaben führender Mitglieder des Ortega-Murillo-Regimes einschränkt, kann zwar noch weiter ausgedehnt werden, nähert sich aber bereits seinen Grenzen. Es bedarf eines umfassenderen Instruments, um stärkeren Druck auf das Regime auszuüben. So prüft Washington gegenwärtig eine Suspendierung Nicaraguas vom zentralamerikanischen Freihandelsabkommen (CAFTA). Am Mittwoch verabschiedete das US-Repräsentantenhaus eine Gesetzesinitiative (Ley Renacer), die Sanktionen gegen die für unfaire Wahlen verantwortlichen Nicaraguaner vorsieht. Die EU sollte handelspolitische Maßnahmen ergreifen und die Demokratieklausel im Assoziierungsabkommen mit der Region auslösen. Nicaragua wäre dann vom Abkommen zwischen der EU und Zentralamerika suspendiert, bis es rechtsstaatliche Verhältnisse wiederherstellt. Darüber hinaus sollte die internationale Gemeinschaft der Opposition international zu mehr Präsenz verhelfen, nicht nur den führenden Intellektuellen des Landes wie dem Schriftsteller und ehemaligen Vizepräsidenten Sergio Ramírez, der Autorin Gioconda Belli oder dem Publizisten Carlos Fernando Chamorro, sondern auch anderen Stimmen aus dem Oppositionslager.
Nicaragua ist kein Einzelfall. Auch in den Nachbarländern werden der Rechtsstaat ausgehöhlt und demokratische Verfahren zersetzt. Die anstehenden Wahlen in Nicaragua könnten diese autokratischen Dynamiken in Zentralamerika befeuern. Dem muss die internationale Gemeinschaft entgegenwirken.
Unter der letzten Bundesregierung wurde Deutschland zum wichtigsten internationalen Partner der Ukraine nach den USA. Ungeachtet dessen hat sich die ukrainische Führung stets mehr sicherheitspolitische Unterstützung Berlins erwartet und fürchtet jetzt, dass sich die neue Bundesregierung wieder stärker auf Russland orientiert. Russlandfreundlichen Kräften in der neuen deutschen Regierungskoalition könnte dabei in die Hände spielen, dass die von Deutschland und der EU geforderten innerukrainischen Reformprozesse unter Präsident Wolodymyr Selenskyj an Schwung verloren haben. Die neue Bundesregierung sollte die Krise um die Ukraine jedoch vor allem unter dem Aspekt deutscher und europäischer Sicherheitsinteressen betrachten. In diesem Sinne wird empfohlen, den Ukraine-Konflikt in Berlin prioritär zu behandeln und sich sicherheitspolitisch stärker zu engagieren.